Unterschiedliche Einschätzungen der Marktchancen in Europa

Die "10-Base-T"-Norm soll für freiere Verkabelung sorgen

18.05.1990

Mit der neuen Twisted-Pair-Norm "10-Base-T" sollen sich die verschiedensten LANs - wenn auch nicht billiger - auf einen Nenner bringen lassen. Ziemlich frei schalten und walten könnten die Netzstrategen aber auch im Hinblick auf die Kabel selbst: So sei es möglich, auch herkömmliche Telefonleitungen für den T-Standard zu nutzen.

"Als entscheidend gilt die Transparenz im Sinne von Token Ring, Ethernet, 3270 und V.24. Man kann alles über eine Vernetzung fahren, ohne diese zu verändern.

Eigentlich hat der Kunde zum ersten Mal eine Verkabelung, die frei ist", erklärt Jaroslav Blahna, Leiter des Vertriebs Private Netze bei SEL. Decken und Böden aufzureißen, erübrige sich daher. Im Falle von Umzügen könnten ohne zusätzliche Kosten Hubs neu konfiguriert sowie die PC-Einschubkarten und/oder Transceiver umgesteckt werden.

Dieter Junkers, Leiter des Vertriebsbereichs Datennetze und LANs bei Hans Kolbe & Co/ Fuba Communication in Hilden, rückt ebenfalls die mit "10-Base-T" gegebene Flexibilität in den Vordergrund: "Wir sind jetzt ganz dicht daran, medienunabhängige Netze und applikationsunabhängige Infrastrukturen zu realisieren. Es darf nicht sein, daß Kabel und Infrastruktur über die LAN-Technik entscheiden."

Den Anstoß für die Festlegung der neuen Spezifikation hat aus der Sicht dieser beiden Fachleute eigentlich die Einführung verdrillter Kabel durch das "IBM Typ 1 Kabel" gegeben. Dazu die private Meinung von Junkers: "Wenn wir nicht irgendwann dieses Vierdrahtkabel ins Büro bekommen hätten wäre wahrscheinlich niemals darüber nachgedacht worden, auch Ethernet auf diese Weise zu fahren."

Mittlerweile sei man dem Token-Ring sogar schon wieder ein gutes Stück voraus, da man anstatt der geschirmten Vierdraht-Kabel von IBM in erster Linie ungeschirmte Telefonleitungen verwende und auf diese Weise erhebliche Einsparungen erzielen könne. Junkers: "Hier zieht der Token-Ring nach, nachdem man bei Ethernet einen Schritt vorangegangen ist. " Allerdings: Das Beispiel der UTP-Technik (UTP: Unshielded Twisted Pair) machte unterdessen auch schon bei Big Blue Schule - mit ungeschirmten Token-Ringen. Bei der Standardisierung strickte der Branchenführer indes nicht mit.

Wesentliche Vorteile einer Twisted-Pair-Verkabelung ergeben sich auch durch die eingesetzte Sterntopologie. Diese Netze fallen nicht so oft aus, und wenn doch mal eine Workstation nicht funktioniert, hält dies den Betrieb nicht auf. Blahna: "Es gibt nichts einfacheres als einen Stern, weil pro Strang nur ein Teilnehmer gesperrt wird. Die Fehlersuche vereinfacht sich, und die Verfügbarkeit der Anwendungen bei einem Twisted-Pair-Netz ist ungleich höher als bei einem konventionellen Ethernet. " Der SEL Mann betont in diesem Zusammenhang auch, daß an die 60 Prozent der Netzausfälle und entsprechenden Fehler in einem LAN auf den beiden unteren Schichten "anfallen".

Bei intelligenten Hubs ist es beispielsweise möglich, von einer Arbeitsstation aus das ganze Netz zu verwalten. Auch das ist im Hinblick auf Netzverwaltung und Netz-Management ein Plus. Eine ganz wesentliche Rolle spielt darüber hinaus die Offenheit und Kompatibilität einer Twist-Pair-Verkabelung nach oben. Produkte, die bei einer Ethernet-Verkabelung gang und gäbe sind, können entweder ganz ohne Zusatzaufwand integriert werden oder lassen sich durch den Einsatz von Transceivern "auf das richtige Maß trimmen".

Um auf der Endgeräte-Seite den üblichen Ethernet-Komfort zu genießen, kann man auf marktgängige Treiber zurückgreifen. Bei Western Digital beispielsweise sind sie in Kabel- und Kartenangeboten gleich inbegriffen. Durch den Einsatz dieses Equipments erhält der Anwender Zugang zu den verschiedensten Netzwerk-Betriebssystemen und anderen Betriebssystemen, so zu Netware, zum LAN Manager, zu Netbios, 3+, Decnet-DOS oder Vianet, Banyan Vines, Nexos und natürlich zu Unix. Im übrigen: Bei den Angeboten von Karten, Adaptern sowie Treibern werden teilweise neben dem AT-Bus der Mikrokanal und auch zukunftsweisende Netze wie ISDN berücksichtigt.

Bei einer Twisted-Pair-Verkabelulng müssen mehrere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Die Telefonkabel sind durchschnittlich zwar mindestens halb so teuer wie beispielsweise Koaxialkabel - vorausgesetzt es dient das sogenannte "Yellow Kabel" und nicht RG 58 als Basis - aber die Sterntopologie verschlingt dafür wesentlich mehr Meter als ein Bus oder ein Ring. Dazu Uwe Ullmann, zuständig für das Produkt-Marketing bei der Atlantik Systeme GmbH aus München: "Die zusätzliche Streckenlänge zehrt die Kostenvorteile wieder auf." Ein weiterer Minuspunkt: Der Anwender braucht nicht nur viel Kabel, sondern auch viel Platz in den Schächten, was gerade bei Altbauten ein großes Problem darstellen kann.

Andererseits haben auch Koax-Kabel ihre Tücken. So erklärt Philipp Matitschek, zuständig für den Bereich Sales Support Distribution in Central Europe bei Western Digital: Die Verlegung von flexiblen Twisted-Pair-Leitungen ist auf jeden Fall einfacher als eine Verkabelung auf der Basis von Koax. Beim Koax ist es schwieriger, die Bicgeradien einzuhalten und die Kabel nicht zu knicken."

Zieht man nun die sonst noch benötigte Ausrüstung in Gestalt von Hubs, Karten und Transceivern in Betracht, so kann von Einsparungen im Bereich der Neuanschaffungen nicht die Rede sein. Adapter kosten gegenwärtig in der Regel noch das Anderthalbfache eines normalen Ethernet-Adapters. Mit mehreren tausend Mark schlagen auch die Hubs - insbesondere modulare Konzentratoren, die eine Anschaltung verschiedener Ports ermöglichen - zu Buche.

Und bei kleinen Konfigurationen liegen die Einschubpreise im Vergleich zu Thin Ethernet oder Arcnet besonders hoch.

Dieter Junkers von Fuba plädiert dafür, sich mit Preisangaben im Moment noch zurückzuhalten, da sich "solche Preise leicht festsetzen können" und die Varianz in den Leistungsmerkmalen, wie zum Beispiel Karten-Intelligenz, nicht berücksichtigen. Überhaupt sei es sinnvoll, bei einer Twisted-Pair-Verkabelung "das Wenn und Aber" im Auge zu behalten Anwendern, denen es gelingt, ihre bereits bestehende Telefonverkabelung auf "10Base-T" einzustimmen, brauchen sich mit der Schachtproblematik zum Beispiel nicht herumzuschlagen. Ein weiterer Punkt: Bisher verfügbare Komponenten entsprechen oft noch nicht dem Final Draft 10 des Standards. Stehen beispielsweise Hub und Endgerät nicht in Einklang, kann die Norm nur begrenzt zum Zuge kommen. Der Einsatz von Bridges, Repeatern und speziellen Kartell, die ältere und neuere Versionen wie Starlan von AT&T sowie attisnet von Synoptics gleichermaßen einplanen, kann hier jedoch Abhilfe schaffen.

Blahna von SEL - die Standard Lorenz AG vertreibt die Synoptics-Produkte in Deutschland - geht von geringfügigen Unterschieden zwischen Draft 9 und 10 aus. Außerdem gibt er zu bedenken, daß nicht "alle Anwender so sensibel sind und auf Normen achten". Gefragt ist - so der Vertriebsmann - in erster Linie eine Twisted-Pair-Lösung, die funktioniert. Die Benutzer nahmen es dafür in Kauf, auf der Basis von noch nicht abgeschlossenen Standards zu implementieren.

An der Frage, inwieweit nun Telefonkabel für eine Twisted-Pair-Vernetzung in Betracht kommen, scheiden sich die Geister. Nach Einschätzung von Matitschek wird sich Twisted-Pair in Europa aufgrund von Post-Restriktionen nicht so durchsetzen wie in den Staaten. Denn Doppeladern lassen sich hierzulande nicht für die Telefon- und Datenkommunikation einplanen. Das Gros der von ihm befragten Distributoren habe dennoch den Eindruck, daß "10Base-T" auch hier den kommenden Standard abgibt.

Aus Sicht der Telekom stellt sich die Frage nach einem Ethernet-Einsatz auf Basis der neuen Norm insofern, als daß technische und benutzungsrechtliche Anforderungen erfüllt sein müssen. Ob bereits installierte Inhouse-Telefonleitungen technisch dazu geeignet sind, wird von Herbert Gerber, Produktleiter für individuelle Kundennetze im Telekom-Fachbereich für unternehmensspezifische Mehrwertdienste in Bonn, bezweifelt.

Die Medien für den gebäudeinternen Gebrauch seien in der Regel anders aufgebaut und verfügten damit nicht über die übertragungstechnischen Eigenschaften, wie sie "10Base-T" fordert.

Die in den Häusern üblichen Schaltkabel berücksichtigten meist nur die für eine Telefonkommunikation gestellten Bedingungen. Umgekehrt gibt es - so Gerber - aus technischer Perspektive überhaupt keine Probleme, vorhandene oder künftig zu verlegende Twisted-Pair-Kabel für die Sprachkommunikation zu nutzen. Der technische Vorteil liege ja gerade darin, daß sich die Kabeladern-Verseilung dafür eigne, sowohl LAN-, ISDN- und normale Telefonanschlüsse zu realisieren und die Annehmlichkeiten der wesentlich kleineren Bauweise zum Beispiel bei den Verteilern zu nutzen.

Der Mehrwert-Dienstenutzung einer einzelnen Doppelader in benutzungsrechtlicher Hinsicht steht laut Telekom nichts im Wege, wenn es sich um einen dem ISDN entsprechenden Einsatz handelt, das heißt wenn entweder ISDN-Hauptanschlüsse der Telekom über die Inhouse-Verkabelung geschaltet oder Nebenstellen an eine ISDN-Anlage herangeführt werden, die einen Zugang zum öffentlichen ISDN-Kommunikationsnetz hat. Ein als LAN für die Datenkommunikation zugelassenes Ethernet dagegen, das Verbindung zum öffentlichen Datenkommunikationsnetz der Deutschen Bundespost Telekom habe, dürfe keine Daten- und Sprachkommunikation gemischt übermitteln.

Der Fuba-Netzfachmann Junkers rät ohnehin zu Zurückhaltung bei einmal installierten Leitungen. Sein Tip: "Wir empfehlen ISDN-Kabel, da sie dünn und sehr flexibel sind. Außerdem hat ISDN den gleichen Wellenwiderstand, wie man ihn für Ethernet benötigt und ist auch Token-Ring-fähig." Er räumt allerdings ein, daß in verschiedenen Fällen auch vorhandene Telefonkabel ihren Dienst täten.

Uwe Ullman von Atlantik Systeme hat die Erfahrung gemacht, daß die Twisted-Pair-Verkabelung sich gerade in alten Gebäuden großer Beliebheit erfreut - und dort auf der Basis von Vierdrahtkabeln. Selbst etwas erstaunt, konstatiert er: "Erste Installationen und Projekte laufen eigentlich dort, wo eine alte Verkabelung schon vorhanden ist. Da kann man von vornherein zwei Telefone und/oder ein Telefon sowie einen PC anschließen." Wohl gemerkt: Praktikabel ist der Einsatz von Telefonkabeln für PBXen und die Datenkommunikation natürlich auch dort, wo eine Neuverkabelung in Angriff genommen wird.

PC-Anschlüsse für Twisted-Pair verdoppeln sich 1990

Twisted-Pair-Netze sollen bis 1994 einen Marktanteil von 62 Prozent erreicht haben. Einer IDC-Studie mit dem Titel "10 Base T Market Review and Forcast: 1987 - l994" vom Februar 90 zufolge soll sich die Zahl der ausgelieferten UTB-PC-Anschlüsse allein l990 auf insgesamt 896 000 verdoppeln (UTP = Unstrildes Twisted Pair). Zu den Unternehmen, die dem Twisted-Pair-Markt im vergangenen Jahr zu Attraktivität verholfen haben, zählen laut IDC-Expertise insbesondere Synoptics, Ungermann-Bass und Cabletron.

Bisherige Installationen entsprechen aber noch nicht "10Base-T"; besser gesagt, sie können es noch nicht. Die amerikanische LAN-Gesellschaft Synoptics mit bereits über hundert Implementierungen in der Bundesrepublik Deutschland - als Kunden sind unter anderem Höchst, Dornier, BASF und Thome zu nennen - hielt 1989 einen Marktanteil von insgesamt 50 Prozent bei den Konzentratoren-Ports beziehungsweise Hub-Anschlüssen. Ungermann-Bass brachte es auf 6 Prozent, Cabletron auf 12 und AT&T sowie HP mit Starlan auf 11 Prozent - jeweils bezogen auf den Absatz von Ports.

Die Riege der "UTP PC Boards" führt Racal Interlan mit insgesamt nahezu 50 Prozent der ausgelieferten Einheiten an gefolgt von Western Digital mit 27 Prozent.

Produkte mit "10Base-T"-Zuschnitt vertreiben neben den genannten Firmen insbesondere Western Digital, 3Com, DCA/10net und Tiara. Die Offensive auf dem Twisted-Pair-Markt wird aber - so ein weiteres Ergebnis der Studie - den Coax-LANs nicht den Garaus bereiten. Einer besonderen Beliebtheit dürften sich dabei in Zukunft Produktofferten erfreuen die beide Kabel - nämlich Koax- und Telefonleitungen unter einen Hut bringen können.