DGB: 1984 ist im Grunde bereits Realität

17.06.1977

Mit Falk-Eckhart Peters, Assessor im Justitiat des Deutschen Gewerkschaftsbundes, sprach CW-Redakteur Elmar Elmauer

- Der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisiert das Bundesdatenschutzgesetz, weil es der Manipulation von Arbeitnehmer-Daten Tür und Tor öffne. Welche Abschnitte des Paragraphenwerks haben Sie vor Augen?

Der Arbeitnehmer-Datenschutz ist im wesentlichen dem dritten Abschnitt des Bundesdatenschutzgesetzes zugeordnet. Besorgniserregend ist die Fülle der Generalklauseln. Wir lesen da so offene Rechtsbegriffe wie: Zulässig im Rahmen der Zweckbestimmung eines Vertragsverhältnisses oder vertragsähnlichen Vertrauensverhältnisses. Was deckt das ab? Ist damit beispielsweise Culpa in Contrahendo gemeint, die wir als Rechtsbegriff im Schadenersatz kennen? Dann ist die Rede von der Wahrung berechtigter Interessen der speichernden Stelle, dann der Erforderlichkeit der Speicherung. Wer sich etwas mit Begriffslehre beschäftigt, weiß, daß diese Ausdrücke den ursprünglichen Sinn jedes kodifizierten Rechts - nämlich die Kalkulierbarkeit eines Prozesses - nicht mehr erfülen könnten.

- Birgt das BDSG ausschließlich erkenntnistheoretische Probleme für die Justiz?

Nein. Denn die Probleme liegen auch darin, daß die Richterschaft überhaupt nicht mit den Fragen der Datenverarbei-tung, des Datenschutzes vertraut ist. Ein Richter, der nach dem BDSG den Datenschutz effektuieren soll, müßte zumindest die Fähigkeiten eines betrieblichen Datenschutzbeauftragten haben. Abgesehen von der Sockel-Qualifikation, die auf EDV-technischem, informatischem, betriebswirtschaftlichem, arbeitsrechtlichem und allgemeinjuristischem Gebiet mitzubringen ist, mangelt es jedoch vor allem noch am Problembewußtsein, das für den Datenschutz ganz besonders wichtig ist. Soweit man die Justiz überschauen kann, ist der Datenschutz noch nicht Gegenstand von Aufsätzen juristischer Praktiker.

- Wenn Sie die Generalklauseln angreifen, sind Sie dann auch der Meinung, daß das Bundesdatenschutzgesetz die Rechts-Situation gegenüber der gesetzlosen Vorzeit erst recht verschlechtert?

Es gibt Auffassungen, daß das Datenschutzgesetz den vorher gewesenen Zustand zu Ungunsten der Betroffenen noch verschlechtert, weil die offenen Tatbestände eine Art Legalisierung der bisherigen Verfahrensweisen und Tätigkeiten bedeuten würden. Ich bin nicht ganz dieser Meinung, denn das Datenschutzgesetz hat durch seine Existenz immerhin das Problembewußtsein nach vorne getrieben. Persönlich bin ich skeptisch, da ich die erforderlichen Qualitäten in der Justiz vermisse. Wenn man aber offene Tatbestände hat, muß man an die Fähigkeiten des Entscheidenden zur sachgemäßen Ausfüllung um so größere Anforderungen stellen.

- Noch größere Anforderungen sind eigentlich an den Gesetzesmacher zu stellen, der müßte die Materie in jedem Fall durchdrungen haben. Allenthalben ist jedoch eher entschuldigend als erklärend zu hören, hier sei gesetzgeberisches Neuland betreten worden.

Dies ist heute offensichtlich eine Methode, die im Grunde schon in weiten Kreisen der Juristen Zustimmung gefunden hat. Ich persönlich bin der Auffassung, daß der gesamte Apparat, der uns heute zur Fertigung eines Gesetzes zur Verfügung steht, vom juristischen Instrumentarium bis hin zur Verkündungstechnik, in einer hochtechnischen Gesellschaft unzulänglich ist. Im Prinzip ist unser Gesetzgebungsverfahren dasselbe wie das der Langobarden, 600 nach Christi...

- . . . nur sind Jurisprudenz und kodifiziertes Recht schon ihrer Natur nach konservierend . . .

Richtig. Doch diese spezifische Trägheit des Systems von Wertungen und Rechtsbegriffen gegenüber der sich schneller entwickelnden Gesellschaft wird deswegen ein Problem, weil wir, wenn wir in fünf Jahren eine Novelle zum Datenschutzgesetz machen wollten, feststellen würden, daß die gesellschaftliche Entwicklung inzwischen so schnell vor sich gegangen ist, daß wir dann einer Gesetzesfertigung wahrscheinlich noch inkompetenter gegenüberstehen würden als heute.

- Wie wollen Sie dann den einzelnen davor schützen, daß seine persönlichen Daten ausgebeutet werden?

Es gibt im Prinzip zwei Wege, materielles Recht zu schaffen: Einmal das heute bei den Gerichten vorgesehene sogenannte Erkenntnisverfahren und zum zweiten die Optimierung der materiellen Gerechtigkeit durch das Spiel der Kräfte.

- Was heißt das?

Wir haben das zum Beispiel auf dem Gebiet der Lohnfindung. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß durch die Einrichtung einer partizipatorischen Organisationsstruktur, etwa zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat, kodifikatorisch im Sinne einer Betriebsvereinbarung nur noch das Verfahren festzulegen ist. Ich denke daran, daß Verfahren sehr stark invariant gehalten werden können, wenn man nach dem absoluten Gleichheitssatz vorgeht und daß man innerhalb eines solchen Verfahrens die materielle Gerechtigkeit eben dem Spiel der Kräfte überläßt.

- Klassen-Datenschutz?

Ich glaube, wir sind heute soweit, daß wir einen Arbeitnehmer, der feststellt, daß Daten über seine Person unzulässig oder falsch gespeichert sind, nicht mehr dem Risiko eines gerichtlichen Prozesses überlassen können. Denn die Rechtsprechung der Gerichte wird immer unkalkulierbarer, sie wird immer offensichtlicher vom politischen Standort des Entscheidenden abhängiger und damit für den Betroffenen immer unerträglicher. Dies ist die Realität und wir müssen ihr ins Auge sehen, weil auf dem so wichtigen Sektor Datenschutz nicht mehr der Zufall die größte Rolle spielen darf.

- Welche konkreten Vorstöße hat der DGB unternommen und welche plant er, um solche Gedanken zu realisieren?

Der DGB befaßt sich erst seit Erlaß des Datenschutzgesetzes mit der Problematik. Er hat zwar vorher zu einzelnen Tatbeständen Stellung bezogen, doch ist es ihm nicht gelungen, etwa seine Vorstellung zur Figur des betrieblichen Datenschutzbeauftragten auch nur in etwa durchzudrücken. So haben wir heute die nach unserer Auffassung unerträgliche Regelung, daß der als Kontrollinstanz gedachte Datenschutzbeauftragte im Betrieb angesiedelt ist: Eine schon fast schildbürgerhafte Regelung, daß der zu Kontrollierende seinen Kontrolleur selbst einsetzt. Aber wir wissen ja, daß man in der gesamten Wirtschaft den Begriff der Kontrolle pervertiert hat - mit der sogenannten Selbstkontrolle.

- Arbeitnehmerschutz funktionierte doch auch bisher nur in Betrieben, in denen der Betriebsrat stark genug ist, nicht Handlanger des Managements sein zu müssen. Das dürfte doch auch für einen sachkompetenten Datenschutzbeauftragten zutreffen?

An einen Datenschutzbeauftragten kann sich der Arbeitnehmer nur dann halten, wenn der Datenschutzbeauftragte als betriebliche Gegenposition aufgebaut ist.

- Herrscht innerhalb des DGB Einigkeit, welche Sphären des Arbeitnehmers besonders schutzwürdig sind?

Der DGB hat die Vorstellungen, die er bisher entwickelte, im wesentlichen in Gesprächen mit der Abteilung Automation bei der IG Metall und einigen kompetenten Leuten der IG Chemie, der ÖTV und HBV gefunden: Das sind die vier Gewerkschaften, die für die Datenschutzproblematik bisher am sensibelsten sind. Dies nicht zu Unrecht: Denn in diesen Bereichen spielen die personellen Informationssysteme, die uns das größte Kopfzerbrechen bereiten, auch die größte Rolle.

- Kennt der DGB den Umfang dieser von der Wirtschaft gehegten Informationssysteme?

Wir werden hoffentlich noch in diesem Jahr Dokumentationen über das Ausmaß von personellen Informationssystemen in Firmen der Privatwirtschaft vorlegen können und dann zugleich auch konkrete Vorstellungen entwickeln, wie man dem begegnen könnte.

- Das Bundesdatenschutzgesetz erscheint Ihnen als untaugliches Werkzeug?

Das Bundesdatenschutzgesetz ist in manchen Passagen derart unbrauchbar, daß nicht einmal eine Novellierung erfolgversprechend erscheint. Eine Novellierung würde nur dann Erfolg haben, wenn zu erwarten wäre, daß die abstrakten Tatbestände durch konkrete Tatbestände ersetzt würden. Dies ist aber nicht zu erwarten. Wir haben ja gesehen, der Gesetzgeber hat etwa acht Jahre an diesem nur aus 40 Paragraphen bestehenden Gesetz gearbeitet - und was hat er zustande gebracht?

- Sie neigen also zur Verankerung einer Art von Mitbestimmung beim Datenschutz?

Soweit ich als Vorschlagender aus dem Justiziat des DGB die Möglichkeit habe, werde ich versuchen, bei den Gewerkschaften eine Einstellung zu erzielen, die (möglichst in Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen, je nachdem was der Datenschutz in einer Branche oder Region besser abdeckt) eine partizipatorische Organisationsstruktur durchsetzt. So sollte etwa die System-Software, der Zugriff dazu, aus den bisherigen Gesetzen heraussortiert werden und bei Meinungsverschiedenheiten ein Schlichtungsverfahren mit mehreren Stellen vorgesehen werden, so daß die Einschaltquote der Gerichte letztlich sehr gering bleiben wird.

- Welche Kontrollmöglichkeiten sollen und können dem Einzelnen eingeräumt werden, um sich Überblick über die zu seiner Person gespeicherten Daten verschaffen zu können?

Diese Frage kann ich nicht klar beantworten, weil wir bisher noch keine Erfahrung haben, welche Instrumente zur Verfügung gestellt werden könnten. Denn nunmehr nimmt er nicht mehr Einblick in eine Personalakte, sondern steht in der Datenverarbeitung zwischen Zentrale und umfangreicher Peripherie, zwischen Automaten, die vergleichsweise geräuschlos ablaufen: Der Name Computer nötigt ihm gewaltige Achtung ab. Alles was der Computer ausspuckt, kriegt die Weihe technisch garantierter Wahrbeit. Hier muß dem Arbeitnehmer der Zugang zu seinen Daten mit Hilfe des Operators vermittelt werden, womit wir schon wieder das Problem der Verschwiegenheit haben.

- Nun sieht das Datenschutzgesetz auch vor, daß der Betroffene beweispflichtig ist, daß die gesammelten Daten unrichtig sind . .

. . . richtig. Und wir haben in der Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre feststellen können, daß die Geltendmachung von Rechten deswegen so schwierig wurde, weil die Beweissituation so schwierig war. Ich hielt im Prinzip eine Gefährdenshaftung, wie sie jetzt im Landesdatenschutzgesetz Nordrhein-Westfalens vorgesehen ist, für sehr gut: Da muß der Rechtsuchende zwar immer noch die Kausalität, aber nicht mehr die Schuld beweisen. Die jetzige Regelung im Bundesdatenschutzgesetz, wo der Betroffene voll beweispflichtig ist, wird dazu führen, daß der Betroffene seine Rechte wahrscheinlich gar nicht erst wahrnehmen wird. Wir sind doch heute schon eine Antragsgesellschaft. Der Bürokratismus geht soweit, daß jeder von uns zwar eine Fülle von Rechten hat, aber wegen der vielen Vorschaltungsverfahren, Einzelfragen und der auszufüllenden umfangreichen Fragebögen seine Rechte nicht mehr geltend machen kann.

- Ist das unzureichende Datenschutzgesetz für den DGB ein Anlaß, die elektronische Datenverarbeitung überhaupt abzulehnen?

Der DGB ist dabei, sich eine Meinung zu bilden, inwieweit man die EDV befürworten kann und wo man sie als gefährlich betrachtet und ablehnen wird. Grundsätzlich kann ich nur wiederholen, was das für die Abteilung Automatisation zuständige DGB-Vorstandsmitglied Karl-Heinz Janssen gesagt hat. Was den Datenschutz konkret betrifft, so werfen wir dem Gesetzgeber vor, daß er einer mit den Problemen nicht befaßten Richterschaft zumutet, in Urteilen sachnahe Aussagen zu treffen. Man muß sich nur einmal vorstellen, da dringt einer mit einer Löschungsklage vor Gericht durch. Nun muß der Urteilstenor so gefaßt sein, daß der Gerichtsvollzieher das Urteil eindeutig vollstrecken kann: Der Systemanalytiker in der Firma legt aber einfach die Beine auf den Tisch und sagt: Ich rühre mich gar nicht. Selbst wenn der Richter hinterher mit Folgestrafen arbeitet, rührt sich keiner.

- Also bliebe ein Prozeß mit offenen Tatbeständen wie im Datenschutzgesetz ein Politikum?

Ja, weil die ganz persönlichen Auffassungen des Richters in dem Urteil enthalten sein werden. Ein völlig neutrales Urteil ließe sich nur produzieren, wenn ein völlig eindeutiger Normbefehl vorhanden wäre. Gerade den aber kann es beim Datenschutz nicht geben, weil wir es hier nicht mit einer invarianten Materie zu tun haben. Die Datenschutzproblematik ist eine sich in ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz schnell ändernde Problematik. Und es ist heute wohl auch allgemeine Auffassung, daß der vielzitierte Zustand 1984 im Grunde genommen bereits Realität ist.

Falk-Eckhart Peters (34)

nach staatsanwaltlicher und anwaltlicher Praxis als Assessor im Justitiat des DGB-Bundesvorstandes auf das Phänomen der personellen Informationssysteme spezialisiert. Vor allem widmet sich Peters der Frage, wie weit soziale Krisen durch Informationssysteme steuerbar werden.