IT-Weiterbildungssystem eröffnet neue Karrierepfade

Der Weg vom Azubi zum IT-Master

24.01.2003
MÜNCHEN (ho) - Rund 80 Prozent der IT-Profis in Deutschland sind Quereinsteiger ohne abgeschlossene einschlägige Ausbildung. Abhilfe soll das praxisorientierte IT-Weiterbildungssystem mit Zertifzierung nach internationalen Standards schaffen. Für die Qualifizierung ist kein Studium erforderlich.

Systemadministrator, Projektleiter, Java-Entwickler, IT-Supporter, Netzwerktechniker oder Internet-Spezialist sind nur wenige von rund 400 ungeschützten Tätigkeitsbezeichnungen in der IT. So unterschiedlich sie klingen, haben sie doch eines gemeinsam: Es gibt dafür bislang keine allgemein gültigen Ausbildungsstandards. Das könnte sich jedoch ändern, denn in Berlin haben die wichtigsten IT-Verbände mit Unterstützung von Gewerkschaften den Verein zur Förderung der Qualität in der IT-Weiterbildung, kurz Quit, gegründet. Er soll in Kürze Zertifikate für 29 Spezialistenberufe ausstellen und dabei international gültige Standards berücksichtigen.

Weiterbildung für Praktiker

Die Liste der Gründungsmitglieder von Quit liest sich wie das Who-is-who der deutschen IT-Verbandslandschaft: Bundesverband Informationstechnik, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom), Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI), Gesellschaft für Informatik (GI), dazu kommen noch die Gewerkschaften IG Metall und Verdi, die Forschung ist durch die Fraunhofer-Gesellschaft vertreten. Auch die öffentliche Hand mischt mit: Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn hat sich für die Erarbeitung des IT-Weiterbildungssystems stark gemacht und die entsprechenden Gelder bereitgestellt.

Der Handlungsbedarf ist offenkundig: In Deutschland verfügen etwa 80 Prozent der 1,6 Millionen IT-Fachkräfte weder über eine anerkannte Berufsausbildung noch über ein Studium, schätzt der ZVEI. Das IT-Weiterbildungssystem richtet sich sowohl an die Praktiker, die über keine formale IT-Ausbildung verfügen, aber sich schon Wissen im Alltag angeeignet haben, als auch an Absolventen der Ausbildungsberufe, die sich ohne Studium weiterqualifizieren wollen. Jedes Jahr beenden 20 000 Personen eine Erstausbildung in einem der IT-Ausbildungsberufe IT-Systemelektroniker, Fachinformatiker, IT-Systemkaufmann oder Informatikkaufmann.

Zertifizierung nach internationalen Standards

Sie alle können jetzt die mehrstufige Weiterbildung absolvieren: In einer ersten Stufe ist die Qualifizierung zum Spezialisten vorgesehen, die durch ein Zertifikat eines Mitglieds der Trägergemeinschaft für Akkreditierung (TGA) abgeschlossen wird. Es existieren 29 Spezialistenprofile, die unterschiedliche Schwerpunkte haben - angefangen vom Softwareentwickler bis hin zum Kundenbetreuer (siehe Grafik "Das neue IT-Weiterbildungssystem auf einen Blick", S. 45). Die Zertifizierung beruht auf der DIN EN 45013 und richtet sich nach internationalen Standards. Die nächste Qualifzierungsstufe "operative Professionals" ist mit dem Bachelor vergleichbar und sieht vier Profile vor, die "strategischen Professionals" sind auf der Master-Ebene angesiedelt.

Das Besondere am IT-Weiterbildungssystem ist, dass es unter normalen Arbeitsbedingungen im eigenen Unternehmen erfolgt. Die Teilnehmer sind in ihrer Firma angestellt, erledigen ihre gewohnte Projektarbeit, die aber dokumentiert und abschließend bewertet wird. Vor allem durch diesen praxisorientierten Ansatz unterscheidet es sich von den traditionellen Fortbildungen. Zugrunde liegt die Erfahrung, dass IT-Anfänger oft nicht die Zeit haben, die Schulbank zu drücken. Außerdem bieten viele Kurse nicht das im Arbeitsalltag geforderte Wissen an. Deshalb entwickelten Wissenschaftler des Fraunhofer Instituts für Software- und Systemtechnik (ISST) zusammen mit Experten aus der Praxis diese arbeitsprozessorientierte Weiterbildung, kurz APO.

Das Verfahren sieht vor, dass die Teilnehmer anhand realer Projekte lernen. Ihnen stehen dabei so genannte Lernprozessbegleiter zur Seite, die sie bei der Auswahl des geeigneten Projekts, bei der Umsetzung und der Dokumentation methodisch, didaktisch und fachlich unterstützen. Auch eventuell notwendige Weiterbildungskurse werden mit ihnen besprochen und ausgewählt. Lernprozessbegleiter können Spezialisten aus der eigenen Fachabteilung oder Dozenten aus der firmeneigenen Ausbildungsabteilung sein. Kleinere Betriebe können sich extern durch Experten aus Bildungsinstituten unterstützen lassen. Den Abschluss bildet eine mündliche Prüfung durch Quit, nach der der Teilnehmer das Zertifikat erhält.

So viel zur Theorie. In der Praxis müssen die Teilnehmer auf ihr Zertifikat allerdings noch warten. Stefan Grunwald, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Fraunhofer Institut ISST und dort zuständig für Quit, rechnet damit, dass im Mai oder Juni die ersten Prüfungen für die Spezialistenprofile abgenommen werden können. Die Zeit drängt, denn die ersten Qualifizierungsprojekte in den Unternehmen sind bereits abgeschlossen.

Zu den Vorreitern bei der Pilotierung und Einführung des IT-Weiterbildungssystems gehört die Deutsche Telekom AG, bei der sich 13 Teilnehmer zum Network Administrator qualifiziert haben und nun auf die Zertifizierung warten. "Gerade im IT-Umfeld reicht die klassische theoretische Weiterqualifikation durch Kurse nicht mehr aus", begründete Klaus Küper, Projektleiter im Telekom-Trainingscenter, die Entscheidung für die arbeitsprozessorientierte Variante der Weiterbildung. Durch das Lernen in einem realen Kundenprojekt könne der Teilnehmer beweisen, dass er nicht nur theoretisches Wissen hat, sondern auch die nötige Handlungskompetenz.

Hohe Anforderung an Lernbetreuer

Zu den wenigen Weiterbildungsinstituten, die Teilnehmer bei der Qualifizierung via APO-Methode unterstützen, gehört die Freiburger Benedict School, die zwölf angehende Projektkoordinatoren betreut. Als Erstes mussten sich die Teilnehmer aus verschiedenen Unternehmen ein Projekt aus ihrer Arbeitspraxis aussuchen, das bestimmte vom Fraunhofer Institut vorgeschriebenen Anforderungen an ein Referenzprojekt erfüllt (unter www.apo-it.de finden sich einige Beispiele). Danach erarbeiteten sie mit den Lernprozessbetreuern die Ziel- und Qualifizierungsvereinbarungen.

Das selbstbestimmte Lernen an alltäglichen Projektaufgaben verlangt den Teilnehmern einiges ab. Deshalb sind sie auf die Unterstützung durch die Lernbetreuer angewiesen, an die Schulleiter Patrick von Stackelberg hohe Anforderungen stellt: "Sie müssen den Teilnehmern helfen, systematisch vorzugehen. Sie überprüfen und unterstützen den Lernprozess, was hohe Didaktik- und Methodenkompetenz voraussetzt."

Aber auch beim arbeitsprozessorientierten Lernen geht es nicht ohne Präsenzseminare. So veranstaltet die Benedict School für die angehenden Projektkoordinatoren ein Abendseminar zum Thema "Betriebswirtschaftliche Grundlagen für Projekt-Manager", da sich nach den Erfahrungen Stackelbergs "Deckungsbeitragsrechnungen schlecht aus dem Buch lernen lassen". Bei anderen Themen, etwa dem Projekt-Management, hat der Schulleiter gute Erfahrungen mit E-Learning gemacht.

Lernen auch in der Freitzeit

Das IT-Weiterbildungssystem erfordert ein sehr hohes Engagement der Teilnehmer. Vor allem die Erstellung der Projektdokumentationen findet bei den meisten in der Freizeit statt, "da die Alltagsarbeit dazu wenig Zeit lässt", berichtet Sigrid Heinecke, Projektleiterin beim Bildungswerk der Thüringer Wirtschaft, in dem sich zurzeit 15 IT-Mitarbeiter zum Projektkoordinator und Netzwerkadministrator weiterbilden. Auch für die Präsenzveranstaltungen am Freitagabend oder Samstag müssten die Teilnehmer Freizeit opfern.

Das Pilotprojekt bei der Deutschen Telekom war sehr aufwändig, da Teile des Spezialistenprofils noch erarbeitet werden mussten. Insgesamt erstreckte sich die Weiterbildung dort über rund ein Jahr. In den Unternehmen, deren Mitarbeiter die Benedict School bei der APO-Weiterbildung betreuen, liefen die Projekte selbst zwischen einem und sechs Monaten, die Weiterbildung dauerte rund sechs bis sieben Monate. Wie viel Zeit die Teilnehmer investieren müssen, hänge vom Vorwissen, der Berufserfahrung, der Komplexität des Projekts und nicht zuletzt davon ab, wie schnell jemand seine Dokumentation schreiben kann, weiß Schulleiter von Stackelberg. Er schätzt, dass Teilnehmer für die Weiterbildung zum Projektkoordinator mit 200 bis 250 Stunden außerhalb der Arbeitszeit rechnen müssen. Hierin inbegriffen sei der Besuch der Präsenzseminare und die Erstellung der 30- bis 50seitigen Dokumentation.

Zudem hängt der zeitliche Aufwand von den jeweiligen Spezialistenprofilen ab. Darum fällt es den Beteiligten schwer, allgemein gültige Zahlen zur Dauer der Weiterbildung zu nennen. Das Projekt wird sowohl bei der Benedict School wie auch bei dem Bildungswerk der Thüringischen Wirtschaft öffentlich gefördert, unter anderem durch den Europäischen Sozialfonds.

Fallen die Geldmittel der öffentlichen Hand weg, werden Unternehmen beziehungsweise die Teilnehmer selbst die Kosten übernehmen müssen. Angela Feuerstein, Mitglied der Geschäftsführung des Softwarehauses Müller & Feuerstein, könnte sich auch Kompromisslösungen vorstellen, wie sie ihr Unternehmen jetzt schon bei Qualifizierungen praktiziert.

Die Firma übernimmt beispielsweise die Hälfte der Kosten, der Mitarbeiter investiert die Hälfte der anfallenden Stunden in der Freizeit. Grundsätzlich ist sie von der Idee des Weiterbildungssystems sehr angetan: "Die Idee, an Projekten aus der Praxis zu lernen, finde ich genial. Im Studium kommt die Praxis immer noch zu kurz." Für einige könne das Weiterbildungssystem eine gute Alternative zur Universität darstellen, auch in ihrer Firma sei es auf großes Interesse gestoßen.

Das IT-Weiterbildungssystem steht noch am Anfang. Trotzdem wagen die Beteiligten eine erste Zwischenbilanz, die durchweg positiv ausfällt. Für Benedict-Schulleiter von Stackelberg hat sich vor allem der direkte Praxisbezug bewährt, der dem Unternehmen unmittelbaren Anwendungsnutzen bringe. Auch Projektleiterin Heinecke hat überwiegend positives Feedback von den beteiligten Firmen bekommen: "Sie erhalten mit der Weiterbildung der Mitarbeiter auch einen Check ihrer Unternehmensprozesse."

Mogelpackung IHK-Kurse

Auch nach Ansicht von Telekom-Projektleiter Küper hat sich das aufwändige Pilotvorhaben gelohnt. Positiv sieht er das Kontaktnetz, das durch die Weiterbildung unter den Netzwerkspezialisten entstanden sei und in dem auch weiterhin Probleme gemeinsam gelöst werden: "Das ist unbezahlbar." In der Praxis habe sich gezeigt, dass die Teilnehmer neben der fachlichen Weiterbildung eine eindrucksvolle Entwicklung im Bereich der Sozial-, Methoden- und Handlungskompetenz durchlaufen hätten. Im kommenden Jahr sollen sich bei der Deutschen Telekom rund 240 IT-Mitarbeiter zu einem der 29 Spezialistenprofile weiterbilden.

Noch bevor die Zertifizierungsstelle ihre Arbeit aufgenommen hat, gibt es schon die ersten Nachahmer. So nutzen teilweise IHKs die 29 Bezeichnungen der Spezialistenprofile, bieten aber nur traditionelle Präsenzkurse an. Das Fraunhofer-Institut weist explizit darauf hin, dass die IHK-Zertifikate, die dort vergeben werden, nicht den vereinbarten Standards entsprechen. Nur die durch Quit ausgestellten TGA-Zertifikate für IT-Spezialisten unterliegen den bundeseinheitlichen Kriterien.

Arbeiten und lernen

Weiterbildungen in der IT gibt es viele, doch allgemein anerkannt sind die wenigsten. Das will das neue IT-Weiterbildungssystem ändern. Vor allem IT-Praktiker ohne einschlägiges Studium haben künftig die Chance, eines der 29 Spezialistenprofile zu erwerben, auf die sich Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Fraunhofer Gesellschaft und Bundesministerium für Bildung und Forschung geeinigt haben. Mit der so genannten arbeitsprozessorientierten Weiterbildung (APO) ist es möglich, Arbeiten und Lernen zu verbinden. Die Teilnehmer, die sich etwa zum Softwareentwickler oder Kundenbetreuer fortbilden möchten, tun dies in realen Projekten am Arbeitsplatz. Diese Projekte setzen sie um und dokumentieren sie. Unterstützt werden sie von einem Lernprozessbegleiter. Auf ergänzende Schulungen folgt eine mündliche Abschlussprüfung, nach der der Teilnehmer ein Zertifikat erhält, das sich nach internationalen Standards richtet.

Links zum Thema

Diese vom Fraunhofer Institut ISST entworfene Seite informiert über den aktuellen Stand und die Ziele der arbeitsplatzorientierten (APO) Weiterbildung.

www-apo-it.de

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat die Entwicklung des IT-Weiterbildungssystem gefördert.

www.bmbf.de

Unter dem Dach der "Trägergemeinschaft für Akkreditierung GmbH" arbeitet das IT-Sektorkomitee, die von der IT-Wirtschaft getragen wird. Sie arbeitet bei dem Zertifizerungsprocedere für die Spezialistenprofile mit.

www.it-sektorkomitee.de

Das Fraunhofer Institut Software und Systemtechnik leitet das Projekt des APO-Konzepts.

www.isst.fhg.de

Versteht sich als Portal für Aus- und Weiterbildung von IT-Fachkräften. Es ist ein gemeinsames Online-Angebot von Bitkom und IG Metall.

www.kib-net.de

Abb: Das neue IT-Weiterbildungssystem auf einen Blick

Insgesamt 29 Spezialistenprofile sieht das neue IT-Weiterbildungssystem vor, das die Lücke zwischen Berufsausbildung und Studium schließen will. Quelle: FhCi