Der Wandel vollzieht sich unter der Oberflaeche

30.09.1994

Nach rund 20jaehriger CAD-Historie scheint die Systementwicklung momentan zu stagnieren: Funktionalitaet in Huelle und Fuelle, stabile Programme, die Diskussion um Betriebssysteme ist ausgestanden. Doch die Ruhe truegt. Weniger spektakulaer als die ersten 3D- Ansichten, dafuer aber mit wesentlich weitreichenderen Konsequenzen findet die Entwicklung direkt unter der Oberflaeche statt.

Von Eberhard Rademeier*

Wer heute vor der Entscheidung fuer eine CAD-Implementierung steht, sieht sich zwar einer weitaus geringeren Anzahl von Software- Anbietern gegenueber als noch vor zehn Jahren, die Wahl duerfte aber trotzdem nicht leichter fallen - im Gegenteil.

Wer noch vor wenigen Jahren eine CAD-Installation einfuehrte, hatte in erster Linie den Ersatz der konventionellen Zeichenbretter durch elektronische Hilfsmittel, bestenfalls eine Beschleunigung von Aenderungskonstruktionen und Routinezeichnungen wie DIN- und Wiederholteilen im Auge. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Rationalisierungseffekt bei der reinen Zeichnungserstellung, insbesondere bei Erstkonstruktionen, gar nicht so immens ist, wie frueher gerne glauben gemacht (und auch geglaubt) wurde - und dass ein CAD-System nur ein Werkzeug unter vielen ist.

Einschneidend niedrigere Kosten sind erst dann zu erwarten, wenn die einmal erzeugten Daten intelligent weiterverwendet werden. Dazu aber bedurfte und bedarf es tiefgreifender Veraenderungen, speziell was die CAD-System-Kernels betrifft.

Diese Weiterentwicklungen betreffen sowohl Funktionen, die der Erzeugung und Manipulation der Geometrie dienen, als auch Tools zur Verwaltung, Verteilung und dem weiteren Gebrauch der erzeugten Daten, wobei beide Bereiche selbstverstaendlich zusammenhaengen. Was also kann ein Anwender von einem CAD-System erwarten, das State of the art ist?

Feature Based Modeler kennt Attribute

Eines der haeufig verwendeten Schlagworte ist "Feature Based Modeling". Aeltere Systemkerne konnten lediglich Geometrien, also Linien, Kreise, Kreisboegen, Flaechen oder Volumina und deren geometrische Abhaengigkeiten handhaben. Ein Feature Based Modeler kennt dagegen die typischen Eigenschaften der Konstruktionselemente, die durch die Geometrie beschrieben werden. Ein einfaches Beispiel: Eine Durchgangsbohrung, etwa in einer Metallplatte, ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie von einer Oberflaeche bis zur anderen reicht und zumindest auf einer Seite mit einer Senkung versehen ist.

Wird nun die Plattenstaerke veraendert, und der Konstrukteur vergisst, die Laenge der Bohrung anzupassen, endet die Bohrung entweder im vollen Material oder geht ins Leere. Ein Feature Based Modeler weiss dagegen, dass eine Geometrie mit dem Attribut "Durchgangsbohrung" immer von einer Seite bis zur anderen zu gehen hat, und passt diese Geometrie automatisch an. Das Problem liesse sich selbstverstaendlich auch mit Hilfe der Variantentechnik loesen. Einer der Vorteile von Feature Based Modelern liegt aber gerade darin, dass fuer solche Faelle die Geometrie nicht extra parametrisiert werden muss.

Das Beispiel laesst sich weiterfuehren: Die Gewindegaenge von Bohrungen oder Schrauben werden in 2D-Konstruktions- oder Fertigungszeichnungen in der Regel symbolisch dargestellt. Aber selbst diese Art der Darstellung wuerde das Datenvolumen im Modeling, also in der echten 3D-Konstruktion, unnoetig aufblaehen, die Zeichnung unuebersichtlich werden lassen und die Bildaufbauzeiten verlaengern.

Bei einem Feature Based Modeler kann man auf diese symbolische Darstellung verzichten, falls dem keine firmeninternen Normen entgegenstehen. Bei der Ableitung einer 2D-Zeichnung aus dem 3D- Modell wird die Symbolik automatisch erzeugt, ebenso die entsprechenden Werkzeugwege bei der anschliessenden NC-Programm- Generierung - eben weil der Modeler die Funktion und nicht nur die reine Geometrie kennt. Solche Modeler liegen heute bereits den meisten Unix-basierenden Systemen zugrunde.

In der PC-Welt bilden sie jedoch noch eher die Ausnahme, da PCs fuer komplexe 3D-Volumen-Modelle bisher noch zu langsam waren.

Selbst hochgetaktete 486er Rechner sind fuer groessere Solid Models nur bedingt geeignet. Eine Aenderung der Situation ist erst dann zu erwarten, wenn kuenftige 32-Bit-Betriebssysteme wie Chicago oder Daytona die theoretische Leistungsfaehigkeit der neuen Pentium- Prozessoren mit PCI-Bus auch vollstaendig ausreizen koennen. Trotzdem sind fuer PC-Systeme bereits Feature Based Modeler als Zusatzmodule am Markt, andere Hersteller arbeiten zur Zeit an deren Implementierung.

CE-Mechanismen verzahnt mit EDM

Die Rede war bereits davon, dass erhebliche Rationalisierungseffekte nur dann zu erwarten sind, wenn die einmal erzeugten Daten intelligent weiterverwendet werden koennen. Voraussetzung dazu ist die Faehigkeit einer CAD-Loesung, Arbeitsgruppen zu unterstuetzen - auf Neuhochdeutsch: Concurrent Engineering (CE). Eng verzahnt mit Concurrent Engineering sind EDM-Systeme (Engineering Data Management).

CE-faehige Produkte stellen unter anderem Mechanismen zur Vergabe von Zugriffsrechten zur Verfuegung, denn es darf selbstverstaendlich nicht vorkommen, dass zwei Konstrukteure gleichzeitig an der gleichen Zeichnung arbeiten. Einzige Ausnahme: wenn sich die Vergabe von Zugriffsrechten bis auf Layer-Ebene erstreckt. Verbunden mit dieser Zuteilung ist die Steuerung von Aenderungs- und Freigabeablaeufen sowie die Moeglichkeit, lokal vorgenommene Aenderungen auch lokal zu belassen oder global, das heisst, auf das zugrundeliegende Modell wirken zu lassen.

Zudem bieten CE-faehige Systeme die Moeglichkeit, umfangreiche Konstruktionen aus komplexen Einzelteilen aufzubauen, wobei im Idealfall die Strukturierung aus Baugruppen und Unterbaugruppen grafisch dargestellt wird.

Erheblich kuerzere Konstruktionszeiten

EDM-Systeme gehen noch einige Schritte weiter. Sie stellen Mailing- oder Konferenzfunktionen zur Verfuegung, so dass Konstrukteure direkt von ihrem Arbeitsplatz aus miteinander kommunizieren koennen. Mit Hilfe von EDM-Systemen erfolgt die Projektsteuerung, die Kontrolle ueber die zu verwendenden Norm- und Wiederholteile bis hin zur Uebergabe von Fertigungsdaten.

Welche Brisanz hinter diesen Funktionalitaeten steckt, zeigt die Tatsache, dass sich durch den gezielten Einsatz moderner Modellierer, CE- und EDM-Systeme die Konstruktionszeiten um bis zu 90 Prozent verkuerzen lassen. Gemeint ist nicht die Zeit der reinen Zeichnungserstellung, sondern die fuer die gesamte Konstruktion. Damit koennen Produktkosten um bis zu 30 Prozent gesenkt werden. Fuer viele Unternehmen bedeuten diese Einsparungen unter Umstaenden eine Frage des Ueberlebens. So wundert es auch nicht, dass die meisten CAD/CAM-Anbieter CE- und EDM-Systeme inzwischen zu strategischen Produkten erklaeren.

Es darf jedoch nicht uebersehen werden, dass die beschriebenen Highlights sozusagen die Spitze des Technologie-Eisbergs darstellen. Der weitaus groesste Teil aller Konstruktionen erfolgt nach wie vor in 2D, und in der PC-CAD-Welt dominieren immer noch die Einzelarbeitsplaetze. Naturgemaess findet man hier andere Kriterien, nach denen die Modernitaet eines CAD-Systems beurteilt wird. Galt noch vor wenigen Jahren die Devise "Wie die Oberflaeche aussieht, ist zweitrangig, Hauptsache die Funktionalitaet stimmt", so hat sich heute die Einschaetzung nahezu ins Gegenteil verkehrt. Der Grund fuer diesen Wandel ist verstaendlich: Kaum eines der ueberlebenden

2D-Systeme laesst heute an reiner Zeichnungsfunktionalitaet zu wuenschen uebrig. Selbst extrem preiswerte PC-basierende Pakete bieten inzwischen Freiformkurven nach NURBS-Mathematik (Non- Uniform Rational B-Spline).

In der 2D-Welt spielt mittlerweile die Oberflaeche und damit die Bedienbarkeit eine entscheidende Rolle. So gut wie alle modernen 2D-Pakete laufen heute unter grafischen Oberflaechen nach OSF/Motif-, Windows- oder SNA-Konventionen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Unterschiedliche Applikationen unter dem jeweiligen GUI haben eine aehnliche Benutzerfuehrung, gleiche Funktionen werden auch mit gleichen Namen bezeichnet und liegen immer an der gewohnten Stelle. Damit werden Umgewoehnungsphasen verkuerzt und Akzeptanzprobleme aus der Welt geschafft.

Eine der neuesten Entwicklungen sind intelligente Cursor, bekannt unter Bezeichnungen wie Drafting Assistant, Navigator, Quicksnap- Cursor etc. Sie verbinden zwei Vorteile miteinander: Zum einen zeigen sie durch ein Symbol die momentan aktive Funktion an, zum anderen fangen sie automatisch konstruktionsrelevante Geometriepunkte wie End- oder Mittelpunkte von Linien, Mittelpunkte von Kreisen und Kreisboegen, Tangenten sowie Lotrechte. Die Steigerung der Zeichnungsgeschwindigkeit, die sich allein mit intelligenten Cursoren erzielen laesst, ist sehr hoch einzustufen, da mehrfaches Ansetzen eines neu zu zeichnenden Geometrieelements und umstaendliche Hilfskonstruktionen entfallen. Ein weiteres Merkmal moderner CAD-Systeme sind moeglichst flache Menuestrukturen, also keine weitreichenden Verschachtelungen, in denen sich auch der geuebte Anwender verlaufen kann.

Keine Kosmetik an der Oberflaeche

Die geschilderten Verbesserungen in der Benutzerfuehrung sind alles andere als reine Oberflaechenkosmetik. Zum einen lassen sich bestimmte Funktionen, speziell bei den intelligenten Cursorn, nicht nachtraeglich auf existierende Systeme aufsetzen. Sie erfordern objektorientierte, also nach modernen Softwaretechnologien entwickelte CAD-Programme. Zum anderen bringen diese Funktionen einen Wandel im CAD-Einsatz mit sich: In der Anfangszeit beherrschten sogenannte CAD-Pools das Konstruktionsumfeld. Speziell ausgebildete Operatoren arbeiteten - teilweise im Schichtbetrieb - ausschliesslich am System, um die teuren Anlagen moeglichst effektiv auszunutzen. In der Folge des Preisverfalls bei Hard- und Software haben sich vernetzte oder auch "persoenliche" Arbeitsplatzloesungen durchgesetzt, an denen der Ingenieur nur noch wenige Stunden pro Tag, unter Umstaenden auch wochen- oder monatelang ueberhaupt nicht, arbeitet. Komfortable, selbsterklaerende Oberflaechen verkuerzen die Wiedereinarbeitungszeiten betraechtlich und tragen dazu bei, die Konstruktionskosten zu senken.

Schnittstelle nicht nur fuer Geometrie

Alle heute angebotenen CAD-Produkte verfuegen ueber Schnittstellen zu den neutralen Datenformaten DXF, Iges, VDA-IS (einer praxisnahen Untermenge von Iges) sowie im 3D-Bereich ueber die Flaechen-Schnittstelle VDA-FS. Diesen Interfaces ist eines gemeinsam: Sie wurden ausschliesslich zur Uebertragung von Geometriedaten definiert. Den Austausch von anderen, produktbeschreibenden Daten koennen sie naturgemaess nicht leisten. Um dieses Problem zu loesen, wird derzeit an einer neuen Schnittstellen-Definition gearbeitet: Standard for Exchange of Product Model Data, kurz Step. Neben Grossanwendern sind so gut wie alle bedeutenden CAD-Systemhersteller an der Definition von Step beteiligt, so dass mit dessen Etablierung neben den existierenden Schnittstellen auf Dauer gerechnet werden kann. Offen ist nur noch der Zeitpunkt und die Frage, ob Step in voller Definitionsbreite oder wegen des immensen Datenumfangs nur in Form eines praxisnahes Subsets, aehnlich wie Iges, implementiert wird.