Der Staat hat große Ohren

28.01.2004
Von Rolf Gössner

Nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaften sind zu TKÜ-Maßnahmen berechtigt. Auch die Geheimdienste - Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) - dürfen nach dem G-10-Abhörgesetz Telefone und Handys heimlich abhören, Faxe und E-Mails mitlesen, Verbindungsdaten anfordern und Handys orten - und zwar bereits weit im Vorfeld möglicher Gefahren. Der BND kontrolliert darüber hinaus systematisch den gesamten drahtlosen, satellitengestützten sowie glasfasergeleiteten TK-Verkehr vom und ins Ausland - ohne jeglichen Verdacht. Computergesteuert durchkämmt er Millionen Gespräche, Faxe und Fernschreiben nach verdächtig klingenden "Suchbegriffen" oder Wort-Kombinationen aus wechselnden Wortbanken, die aus den Bereichen des internationalen Terrorismus, Waffenhandels und militanten Extremismus stammen sowie der Proliferation, Drogenkriminalität und Geldwäsche.

Nachrichtendienstlich relevant?

Dieses automatische Fischen im Trüben des verallgemeinerten Verdachts nennt sich "strategische Kontrolle" oder auch "Schleppnetzfahndung im Äther". Ordert etwa jemand per Telefax in Ungarn zehn Kisten "Roten", so würde ein solcher Auftrag automatisch ausgesiebt - auch wenn nur Rotwein gemeint war. Schließlich könnte es sich auch um die illegale Droge "Roter Libanese" handeln. Der literarische Austausch über Fräulein Smillas Gespür für "Schnee" würde wegen des Verdachts auf Kokainhandel Komplikationen auslösen; ebenso Berichte über "Bombenwetter" oder volle "Strandhaubitzen" an Mallorcas Gestaden, die den Geheimdienstlern internationale Waffengeschäfte signalisieren. Im Laufe der automatischen Durchforstung nach bestimmten Suchbegriffen und Anschlussnummern bleiben pro Jahr etliche tausend "verdächtige" Auslandsgespräche oder Faxe als "nachrichtendienstlich relevant" hängen, woraufhin dann auf traditionelle Weise weiterermittelt

wird.

Mit der Entwicklung der Telekommunikation erleben wir in zunehmendem Maße die präventive Verdächtigung von TK-Teil-nehmern, die so zu gläsernen Bürgern werden - ohne es selbst zu registrieren, ohne sich wirksam dagegen zur Wehr setzen zu können. Eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, verliert mit dieser ausufernden Entwicklung ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum Sicherheitsrisiko.