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Der ewige Kampf der Gewerkschafter

13.02.2003
Von Wolfgang Müller
In der IT-Branche tragen die Gewerkschaften einen besonderen Wettstreit aus: den um Aufmerksamkeit und um neue Mitglieder.

Die Situation ist paradox: Sie kämpfen gegen Entlassungen, profitieren aber von wirtschaft-lichen Krisen. Nicht zuletzt seit die New Economy mit ihren Ideal „Wir sind alle eine Familie“ ge-scheitert sind, nehmen immer mehr IT-Experten die Gewerkschaften erstmals wahr. Neben Verdi versucht sich vor allem die IG Metall in der IT-Branche stärker zu etablieren. Mittlerweile sind mit 60 000 Mitgliedern etwa zehn Prozent der IT-Beschäftigten hier organisiert. Zudem hat die IG Metall mitgeholfen, über 50 Betriebsräte in New-Economy-Firmen zu gründen.

Marketing in eigener Sache Ein Ergebnis, auf das Dieter Scheitor stolz ist. Der Teamleiter IT-In-dustrie, der beim Vorstand der IG Metall in Frankfurt am Main im Bereich Betriebs- und Mitbestimmungspolitik tätig ist, weiß aber, dass er viel Marketing betreiben muss. Noch immer begegnet er Geschäftsführern kleiner und mittelständischer IT-Firmen, die auf das Thema Betriebsrat oder Tarifvertrag nur mit Unverständnis reagieren. Das ärgert ihn, bringt ihn aber nicht aus der Fassung: Scheitor ist ein Mann, der mit ruhiger Stimme und sorgfältig abgewogenen Argumenten sein Gegenüber zu überzeugen versteht.

Der 52-Jährige ist bereits während seines Physikstudiums der Gewerkschaft beigetreten, aber erst seit vier Jahren hauptberuflich Funktionär. Als er Ende der 70er Jahre seine Karriere begann, arbeitete er noch an einer PDP 11 mit 64 KB Hauptspeicher, weniger als 1 Mips Leistung und der Grö-ße eines Garderobenschrankes. Über 20 Jahre später, nachdem Scheitor als Projektleiter und freigestellter Betriebsrat tätig war, benutzt er einen Handheld, der 100-mal mehr Speicher und 250- mal mehr Leistung als sein erster Computer bringt, dafür aber 1000-mal kleiner ist. Eine Entwicklung, die den IT-Experten beeindruckt.

Als Gewerkschafter setzt er sich dafür ein, dass es mehr Betriebsräte und mehr Tarifverträge in IT- Unternehmen gibt. Er ist froh, dass die IG Metall auf der CeBIT nicht mehr gefragt wird „Was wollt Ihr eigentlich hier?“, sondern dass ihre Präsenz als Teil der Branche akzeptiert ist. Dazu tragen auch die jährliche Gehaltsanalyse und das IT-Magazin bei - beides Projekte, die Scheitor mit vorantreibt.

Auch Wolfgang Müller erfüllt das Klischee des Funktionärs nur auf den ersten Blick: In Vorträgen und Diskussionen prangert der „Chief Organizer“ der IG Metall in Bayern schon mal die „Wildwestmethoden“ oder den „Jugendlichkeitswahn“ der IT-Branche an. Den nach Schlagzeilen heischenden Vorwürfen folgen aber immer Schicksale, die Müller mit erregter Stimme vorträgt: Da ist der 39-jährige SAP-Spezialist, den ein Großkonzern als zu alt ab-stempelt. Da sind die IT-Experten, die erst mit Kopfgeldern von der Konkurrenz abgeworben und dann noch in der Probezeit hinausgeworfen werden.

„Es gibt noch viel zu tun“  Müller kann die Zustände der Branche so glaubwürdig schildern, weil er sie am eigenen Leib erfahren hat: Nach seinem Studium und Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie als Journalist unter anderem in China arbeitete er als Softwareentwickler und DV-Trainer beim Computerhersteller Digital Equipe-ment. Als dieser 1998 von Compaq übernommen wurde, wechselte der heute 54-Jährige zur IG Metall in Bayern.

Dort betreut er Siemens und versucht, das Produkt Gewerkschaft offensiv an den Mann zu brin-gen: „Wenn man bedenkt, dass Firmen wie SAP, Cisco oder Ixos keinen Betriebsrat haben, gibt es für uns noch viel zu tun.“ Der anstrengende Job kommt Müllers Arbeitsstil aber entgegen, da er unter Termindruck zur Hochform aufläuft und etwa die Folien für eine Präsentation immer erst eine Stunde vorher erstellt. Muse kommt nur in seinem Traumjob vor: Wenn er es sich aussuchen könnte, wäre er Schriftsteller und Privatgelehrter mit einem dicken finanziellen Polster.