Wie viel Geschäft bleibt zwischen SAP und Microsoft?

Der ERP-Mittelstand sucht seine Nische

28.11.2003
MÜNCHEN (CW) - Agilisys schluckt Infor, Epicor verleibt sich Scala ein - die jüngsten Übernahmen sind ein neuerlicher Beleg dafür, dass die Konsolidierung im ERP-Markt in vollem Gange ist. Wer sich nicht kaufen lässt, zieht sich in die Nische zurück.

Nach den Pleiten von Brain und Bäurer Ende vergangenen Jahres schien vorerst Ruhe in die deutsche Enterprise-Resource-Planning-(ERP-)Szene eingekehrt. Das änderte sich schlagartig im Sommer. Anfang Juni verkündete der britische Mischkonzern Invensys, seine niederländische Softwaretochter Baan für rund 135 Millionen Dollar an die Investment-Gesellschaften Cerberus Capital Management und General Atlantic Partners zu veräußern. Den Käufern gehörte bereits die kalifornische SSA Global Technologies. Den Plänen der neuen Eigentümer zufolge sollen beide Softwareanbieter miteinander verschmelzen.

Wenige Monate später folgte der zweite Paukenschlag im Konzert der mittelständischen ERP-Anbieter. Mitte November verkündete das US-amerikanische Softwarehaus Agilisys, das vor knapp einem Jahr bereits die insolvente Brain AG geschluckt hatte, nun auch die saarländische Infor Business Solutions AG für etwa 42,5 Millionen Euro kaufen zu wollen. Auch hinter Agilisys stecken potente Geldgeber. Die Mehrheitseigner Golden Gate Capitol, Parallax Capital und Summit Partners verfügen über einen privaten Investmentfonds von rund 750 Millionen Dollar.

Die wichtige Rolle der Kapitalgeber macht das finanzielle Dilemma deutlich, in dem viele ERP-Anbieter derzeit stecken. Nach den hohen Investitionen im Zuge der Jahr-2000-Umstellung drehten viele Anwender den Geldhahn für neue Software erst einmal wieder zu. Das brachte in der Folgezeit die Bilanzen der Softwarehäuser gehörig ins Wanken und führte in letzter Konsequenz zu den beschriebenen Konsolidierungseffekten. So verzeichnete Baan in seinem letzten Fiskaljahr unter dem Dach von Invensys einen Umsatzrückgang von 22,3 Prozent auf 304 Millionen Euro. Unter dem Strich blieb ein Minus von 40,7 Millionen Euro. Joachim Hertel, noch CEO von Infor, musste zuletzt bei der Bekanntgabe der Zahlen für die ersten neun Monate des laufenden Jahres einräumen, hinter den selbst gesteckten Zielen herzuhinken. Angesichts eines elfprozentigen Umsatzrückgangs auf 47,6 Millionen Euro und eines negativen Ergebnisses vor Steuern in Höhe von minus 3,3 Millionen Euro sei nicht davon

auszugehen, die Umsatzprognose für 2003 in Höhe des Vorjahres sowie ein positives Jahresergebnis vor Steuern erreichen zu können.

"Kunden brauchen keine Hirngespinste

"Dieses Tal der Tränen haben wir schon hinter uns", blickt Markus Wild, Geschäftsführer der Bäurer GmbH, zurück. Mit dem Einstieg der Adastra Venture Consult GmbH nach der Insolvenz im Oktober vergangenen Jahres stehe das Unternehmen wieder auf einer soliden Basis. Um diese auch künftig zu sichern, wollen sich die Bäurer-Verantwortlichen vorerst auf ihre 1200 Bestandskunden konzentrieren. "Diese brauchen Lösungen für ihre Probleme und nicht irgendwelche Hirngespinste", beschreibt Wild den neuen Fokus. Man werde künftig keinen Hypes mehr hinterherlaufen, sondern die bestehenden Produkte konsequent weiterentwickeln.

Auch bei der ehemaligen Brain lautete das Motto der vergangenen Monate: zurück zu den Wurzeln. "Wir haben uns ganz auf unsere Kernkompetenzen im Automotive- und Logistikbereich zurückgezogen", unterstreicht Bernd Hau, Geschäftsführer der Agilisys Automotive GmbH. Das Unternehmen habe seine Lektion aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Eine übertriebene Diversifikation der Produkte und zu aggressive Expansionspläne werde es künftig nicht mehr geben. Wachstumspotenzial sieht Hau vor allem im osteuropäischen und asiatischen Markt. Hier könne man auf eine aus der Historie gewachsene stabile Infrastruktur aufbauen. "Man muss allerdings moderat planen", warnt er.

Vertikale Lösungen sind gefragt

Auch von seinem Kollegen Wolfgang Kobek, Geschäftsführer der ebenfalls zu Agilisys gehörenden Brain Industries GmbH, sind eher leise Töne zu vernehmen. "Heute geht es allein darum, das zu machen, was der Markt und die Kunden verlangen." Dabei baut Kobek auf eine strikt vertikal ausgerichtete Lösung, die laut seinen Worten 75 bis 80 Prozent der von den Anwendern geforderten Funktionen abdeckt. Es könne nicht das Ziel eines mittelständischen ERP-Anbieters sein, eine horizontale Lösung anzubieten: "Das wollen unsere Kunden auch nicht."

Mittlerweile sei auch das während der Insolvenzphase verloren gegangene Vertrauen der Kunden zurückgekehrt, berichtet Kobek. Allerdings habe es etliche Monate beharrlicher Überzeugungsarbeit gekostet. Eine offene Kommunikation und viele Gespräche hätten die Anwender letzendlich dazu bewogen, Brain die Treue zu halten. Man habe keine Kunden verloren, behauptet der Manager. "Jedoch muss sich Brain jeden Tag neu beweisen."

"In Sachen Information hat Brain seine Hausaufgaben erledigt", bestätigt Christian Meisel, IT-Leiter der Rexnord-Kette und Sprecher der Fachgruppe Brain-Anwender im IBM-Anwenderverband Common, der die I-Series-, ehemals AS/400-Plattform, betreut. Auch die Versprechen im Rahmen der Produktentwicklung seien mit dem Release 2.2 eingehalten worden. Die Behauptung, dass Brain keine Kunden verloren habe, stimme jedoch nicht. Er kenne eine Reihe von Anwendern, die zwar noch die ERP-Lösung von Brain einsetzten, aber ihre Wartungsverträge gekündigt hätten.

Diesen Kunden sei die 20-prozentige Erhöhung der Wartungsgebühren für das ältere Release 1.2 zu viel gewesen, berichtet Meisel. Zwar lasse sich dieser Schritt insofern nachvollziehen, als eine kleinere Brain-Organisation nicht mehr in der Lage sei, viele Release-Stände parallel zu betreuen. "Der Umstieg auf eine aktuelle Version ist jedoch nicht trivial." Gerade bei langjährigen Brain-Anwendern sei die Software hochgradig an individuelle Kundenbedürfnisse angepasst.

Die Nische ist das Ziel

Dieses Customizing, das letztendlich Migrationen erschwert, ist ein Pfund, mit dem die mittelständischen ERP-Anbieter wuchern können. Es sei der große Vorteil, dass fast jeder Kunde eine individuell an seine Bedürfnisse angepasste Software bekommt, erläutert Rüdiger Spies, Vice President für den Bereich Enterprise Applications bei der Meta Group. Aufgrund ihrer geringen Größe könnten die Softwareanbieter flexibel und schnell im Markt agieren, ergänzt Nils Niehörster, Geschäftsführer des Beratungshauses Raad Consult. Anwender müssten nicht erst einen Entwicklungsantrag stellen, der wenn überhaupt erst nach Monaten genehmigt werde. Bei den mittelständischen ERP-Anbietern könnten die Kunden viel direkter den Kurs beeinflussen, "als bei einem Tanker wie SAP".

Den Rückzug in eine Marktnische mit einem eng begrenzten Branchenfokus bewerten den Experten als zweischneidig. So seien die mittelständischen ERP-Softwarehäuser durch ihre strikte Branchenorientierung zwar grundsätzlich gut aufgestellt, urteilt Christian Glas, Analyst bei Pierre Audoin Consultants (PAC). Ohne den Fokus auf bestimmte Industrien würde das Geschäft überhaupt nicht funktionieren. Andererseits ständen viele Firmen vor dem Problem, dass bei einem immer tieferen Rückzug in die Nische letztendlich zu wenige Kunden übrig blieben, warnen Glas und Niehörster. "Das kann keiner überleben."

ERP-Markt bleibt schwierig

Diese Einschätzung teilt Leo Ernst, Vorstand der Proalpha Software AG, nicht. Der ERP-Anbieter aus Weilerbach konzentriert sich mit den Branchen Industrie (diskrete Fertigung) und Handel sowie einer Ausrichtung auf gehobene mittelständische Betriebe mit 500 bis 1000 Mitarbeitern auf eine klar eingegrenzte, aber üppige Marktnische. Die Zahlen scheinen diese Strategie bislang zu bestätigen. So wies das Unternehmen für das abgelaufene Geschäftsjahr 2002/03 ein Umsatzwachstum von fünf Prozent auf 34,7 Millionen Euro aus. Am Ende der Bilanz stand ein Vorsteuergewinn von 2,1 Millionen Euro. "Seit acht Jahren schreibt Proalpha schwarze Zahlen", berichtet Ernst stolz.

Trotz der soliden Zahlen könne man den Markt nicht als rosig bezeichnen, warnt Ernst. Die Pleiten des vergangenen Jahres seien jedoch hausgemacht. Die Verantwortlichen hätten keine Grenzen mehr gefunden und Fehlentscheidungen getroffen. Ähnlich sieht es Hannes Merten, Vorstandsvorsitzender der Soft M AG. Der Münchner ERP-Anbieter versucht derzeit über eine Kooperation mit T-Systems seine Partnerstrategie auszubauen. Dieses Bündnis bedeute jedoch keinen Strategiewechsel, betont Merten. Es sei wichtig für internationale Projekte und eine bessere Präsenz in Osteuropa. Der direkte Draht zum Kunden bleibe aber der wichtigste Schlüssel zum Geschäft.

Microsoft und SAP brauchen Zeit

Für die kommenden Jahre erwarten Ernst und Merten eine weiteren Konsolidierung des Marktes. Der Soft-M-Vorstand rechnet mit etwa zehn Anbietern, die im mittelständischen ERP-Geschäft übrig bleiben werden. Zwischen Microsoft, das in zwei bis drei Jahren den Markt mit einem neuen Produkt von unten angehen werde, und SAP, das den Mittelstand von oben anvisiere, werden nicht viele Anbieter Platz finden, prophezeit auch Ernst.

Durch die Initiativen von Microsoft und SAP wird die Luft im mittelständischen ERP-Markt dünner. Noch könne aber keine Rede davon sein, dass die beiden Großanbieter den mittelständischen ERP-Markt erdrücken, wie oft befürchtet wurde, meint Meta-Group-Analyst Spies. So habe SAP den Mittelstand längst nicht so gut im Griff wie das obere Marktsegment. "Sie bemühen sich, aber es dauert eben." Außerdem fehle es an der letzten Konsequenz, Produkte wie das "Business-One"-Paket in den Markt zu drücken. Das Thema scheine in Walldorf nicht die höchste Priorität zu besitzen, so das Fazit des Analysten.

Bei Microsoft sei bislang der Schub ausgeblieben, den sich der Softwarekonzern mit der Übernahme von Navision erhofft hat. Auch in Sachen Zusammenführung der Produkte von Great Plains und Navision passiere derzeit wenig. Das könnte sich jedoch ändern, wenn Microsoft mit seiner Mittelstandsinitiative Fahrt aufnimmt, glaubt Spies. Die Redmonder entwickelten derzeit ein neues Produkt auf .NET-Basis, das in zwei oder drei Jahren auf den Markt kommen könnte.

"Die kleinen Anbieter haben keinen sicheren Markt", resümiert Spies. Von den rund 180 Anbietern von Produktionsplanungs- und Steuerungssystemen (PPS), die es zu Beginn der 90er Jahre in Deutschland gab, seien heute noch etwa 60 bis 70 übrig. Die Marktkonzentration werde sich auch die nächsten Jahre fortsetzen. Die Opfer müssen, wie zum Teil schon jetzt, der Häme ihrer Wettbewerber aushalten. Nach dem Übernahmeangebot von Agilisys an Infor tönte etwa Harald Witte, Vorstandsvorsitzender des Konkurrenten AP AG: "Als unmittelbarer Wettbewerber wissen wir schon lange um die notorische Ertragsschwäche von Infor. Doch ohne Einschnitte in die Unternehmensstruktur wird sich die Profitabilität auch in der neuen Konstellation nicht herstellen lassen." (ba)

ERP-Investitionen

Analysten rechnen für die nächsten Jahre nicht mit höheren ERP-Investitionen. Laut einer Umfrage des Beratungshauses Raad Consult vom Herbst dieses Jahres unter knapp 1000 SAP-Anwendern werden die IT-Budgets auch im nächsten Jahr schrumpfen. Der Rückgang um 2,8 Prozent falle höher aus als ursprünglich angenommen. Anfang des Jahres hatten die Analysten eine Schrumpfung um 1,5 Prozent prognostiziert. Die verstärkte Investitionszurückhaltung sei darauf zurückzuführen, dass sich 2003 offenbar nicht alle Sparmaßnahmen umsetzen ließen. Statt wie geplant um 5,5 Prozent, sanken die IT-Budgets 2003 nur um 3,5 Prozent. Deshalb werden die Unternehmen weiter sparen, prognostiziert Nils Niehörster, Geschäftsführer von Raad Consult.