Der Bundestag braucht dringlich ein Informationssystem

31.10.1975

Ulrich Lohmar, MdB und Vorsitzender des Bundestags-Ausschusses

für Forschung und Technologie

Der Abgeordnete des Bundestages empfindet sich keineswegs als Technokrat, sondern als Volks- oder Parteivertreter. Schon von seinem Selbstverständnis her hat der Bundestag daher lange gezögert, sich wenigstens ein bescheidenes Dateninformationssystem aufbauen zu lassen. Im Vergleich zu Datenbanken großer Unternehmen oder der Bundesregierung ist die Informationsspeicherung des Parlaments noch nicht sehr weit gediehen. Zudem überließen die Fraktionen des Bundestages, nachdem eine besondere Kommission von Abgeordneten sich eine Zeitlang mit der Materie befaßt hatte, die Etablierung des Informationssystems weitgehend der Bundestagsverwaltung. Für die Herrschaftsausübung im Parlament durch Information so wichtige Vorentscheidungen wie die folgenden wurden in den Fraktionen nicht einmal differenziert erörtert, geschweige denn entschieden

- Wer wird unbeschränkten beziehungsweise abgestuftbeschränkten Zugang zu den Terminals haben?

- Wer bekommt überhaupt ein Terminal?

- Wer bestimmt grundsätzlich und im einzelnen über die Auswahl der einzuspeichernden und der nicht einzuspeichernden Informationen?

- Welche Benutzer haben eine (wie definierte) Vorrangstellung bei der Benutzung des Systems?

- Wer legt die Grundsätze des Betriebs und der Benutzung des Systems verbindlich fest?

- Wer kontrolliert die Durchführung dieser Grundsätze?

- Wer entscheidet in Konfliktfällen?

- Wer befindet über die Weiterentwicklung oder/und Modifikation des Systems?

- Wer stellt erst einmal die Verknüpfung zwischen einer bestimmten Problem-"Urmaterie" bei einem Benutzer mit dem System her?

Die Folge der politischen Abstinenz der Fraktionen gegenüber solchen informationspolitischen Entscheidungsproblemen ist die Verlagerung der Informationsbeschaffung, -sichtung und -bewertung auf

die Administration des Bundestages. Dies alles wird zu einer Sache der Experten, womit zwangsläufig der mögliche politische Stellenwert der Informationswünsche der Parlamentarier ins Hintertreffen geraten muß.

Die Abneigung gegen technologische Hilfsmittel wird verstärkt durch die Tatsache, daß der Bundestag keinen einheitlichen, in eine Richtung weisenden Willen entwickelt wie etwa ein Unternehmen (oder auch eine Verwaltung), daß das Informationsbedürfnis von Regierungsparteien und Opposition, von Fraktionshierarchien

und Abgeordneten durch die Konkurrenz um Informationen bestimmt ist. Für alle Abgeordneten, Gruppen und Institutionen innerhalb des Parlaments zugängliche Informationsmittel wie Datenbanken

würden die Konkurrenz auf die tatsächliche Nutzung solcher Informationsangebote konzentrieren, nicht mehr auf deren Verfügbarkeit. Wirklich effektiv gespeicherte Datenbanken im Bundestag begegnen denn auch dem gleichen Mißtrauen wie der Computer, den das Parlament sich

vor Jahren zum Zweck der Vereinfachung und Beschleunigung von Abstimmungen einrichten ließ. Die Herstellerfirma und die Parlamentarier haben sich wechselseitig die Schuld für das Nichtfunktionieren der Anlage attestiert. Der wirkliche Grund dafür, daß der Abstimmungscomputer nie ernsthaft genutzt werden sollte, hängt mit dem Bedürfnis der Fraktionsführungen zusammen, das tatsächliche Abstimmungsverhalten der Mitglieder ihrer; Fraktionen durch einen Überblick über den Plenarsaal im Auge behalten zu können. Der Ersatz des Handaufhebens bei der Abstimmung durch den Druck auf den Abstimmungsknopf der technischen Anlage würde diese "Transparenz von oben" für die Stimmführer der Fraktionen unmöglich machen. Außerdem würde der Computer festgestellt haben, daß meist nur wenige Abgeordnete an den Plenar-Abstimmungen teilnehmen, Diese Praxis der Parlamentarier hätte sich also nachhaltig ändern müssen.

Besonders unverständlich als Argument für den technischen und technologischen Rückstand des Bundestages ist unter diesen Umständen der Technokratievorbehalt. Wenn man als technokratisch eine Haltung bezeichnet, die ohne inhaltliche Zielvorgang und ohne Reflexion des Verwertungszusammenhangs die bloße "Effektivität" einer Apparatur anstrebt und bewertet, dann würde durch eine moderne Technologie im Parlament eine solche Gefahr gar nicht erst entstehen können. Im Gegenteil: Das Fehlen eines rationellen Instrumentaliums der Informationsübermittlung fördert geradezu den Fortbestand von Informationsoligarchien und damit potentiell technokratische Führungsformen innerhalb des Parlaments bzw. in dessen - Beziehungen zu Regierung und Verwaltung.

Auszug aus Lohmar, U.; Das Hohe Haus; Stuttgart 1975.