Mediengigant will mit Verkaufserlös auf Übernahmetour gehen

Der Ausstieg bei AOL Europe stellt Bertelsmanns Web-Strategie in Frage

24.03.2000
MÜNCHEN (CW) - Der Gütersloher Medienkonzern Bertelsmann verabschiedet sich von der Idee eines integrierten Internet-Konzerns. Die Trennung von AOL Europe bedeutet vorerst das Ende der Ambitionen auf einen eigenen Online-Dienst - und sicher nicht die Lösung aller Probleme.

Seit sich AOL-Boss Steve Case Anfang des Jahres mit Time Warner einen der ärgsten internationalen Konkurrenten von Bertelsmann einverleibt hatte, war in Gütersloh Krisen-Management angesagt. Bertelsmann und AOL Inc. waren bis dato zu gleichen Teilen am Europa-Ableger des Online-Dienstes beteiligt.

Ein Online-Dienst, an dem man nur die Hälfte der Anteile hält und bei dem zudem noch die Konkurrenz mit am Tisch sitzt, war nun nicht länger akzeptabel. Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff einigte sich überraschend schnell mit seinem Freund Case auf die Übergabemodalitäten. AOL Inc. kann die Anteile der Bertelsmann AG am gemeinsamen Joint Venture zu Kosten von 6,75 bis 8,25 Milliarden Dollar übernehmen - sofern die entsprechenden Optionen ausgeübt werden. Die Zahlung würde dann nach dem Ermessen von AOL Inc. entweder in bar oder in Aktienform erfolgen, allerdings nicht vor dem 31. Januar 2002. Parallel dazu wurde eine auf etwa 250 Millionen Dollar veranschlagte strategische Partnerschaft vereinbart, nach der Bertelsmann zum bevorzugten Content-Lieferanten für AOL wird und beide Partner ihre jeweiligen Dienste gegenseitig vermarkten.

Eine Rechnung mit vielen UnbekanntenIn ersten Stellungnahmen bewerteten die meisten Analysten die jetzt gefundene Lösung als bestes aller Modelle. Beide Unternehmen erklärten sie naturgemäß als Wunschlösung und gaben sich jeweils als Gewinner aus. Bei Lichte besehen ist jedoch wohl AOL-Boss Case der einzige Sieger. Er sichert sich hundert Prozent an seinem Online-Dienst auch in Europa, wo er zu den am schnellsten wachsenden zählt. Außerdem bekommt er die Inhalte der vielen Bertelsmann-Medienbetriebe, die er für den lokalen Erfolg dringend braucht (siehe CW 3/00, Seite 25), und er kann seinen Online-Dienst über die Bertelsmann-Kanäle vermarkten.

Bertelsmann seinerseits gerät schnell in Erklärungsnot, beispielsweise die Content-Partnerschaft als Erfolg darzustellen. Gewiss ist es gut, den weltgrößten Online-Dienst als bevorzugten Partner zu haben - doch AOL hat viele "bevorzugte" Partner. Der Begriff ist dehnbar, und Bertelsmanns eigene Presseerklärung spricht Bände. Dort heißt es keineswegs, AOL werde die Inhalte der Gütersloher zu für sie bevorzugten Bedingungen abnehmen, sondern vielmehr umgekehrt, "Bertelsmann wird seine Inhalte (...) AOL (...) zu bevorzugten Bedingungen zugänglich machen". Weiterhin verpflichtet sich Bertelsmann "AOL, Compuserve und Netscape Online als bevorzugte interaktive Dienste" zu nutzen - was den bisherigen Großabnehmer von Bertelsmann-Inhalten in Deutschland, T-Online, nicht sonderlich freuen dürfte. Schließlich wird Bertelsmann auch noch "die Plattform und Dienste seiner Broadband Group für die interaktiven Dienste von AOL und Europe öffnen".

Licht und Schatten einer PartnerschaftNeben der inhaltlichen Komponente des Deals hat Bertelsmann-Chef Middelhoff aber vor allen Dingen die finanzielle Seite als große Errungenschaft gefeiert. Sein Unternehmen könne nun für gut 35 Milliarden Dollar einkaufen gehen und verfüge damit endlich über genug Kapital, um auch als nicht an der Börse notiertes Unternehmen im weltweiten Fusionskonzert mitspielen zu können. Freilich rechnet sich der Konzernlenker auch diese Variante schön. Erstens geht er davon aus, dass Banken ihm zusätzlich zum Erlös von maximal 17 Milliarden Dollar aus dem Verkauf von AOL Europe noch einmal dieselbe Summe als Kredit drauflegen - und das vor dem Hintergrund, dass er noch nicht einmal weiß, wie viel er letztlich erlösen wird und ob und wann Case seine Kaufoption wahrnimmt. Zweitens braucht Middelhoff das Geld sofort, um im schnelllebigen Internet-Geschäft mithalten zu können, und nicht erst ab dem 31. Januar 2002, wie in der Vereinbarung festgehalten. Bertelsmann müsste also eine Option beleihen - und hoffen, dafür Interessenten zu finden, die auch die gewünschte Summe garantieren.

Wie man es auch dreht und wendet: Bertelsmann hatte keine Wahl und bekommt immerhin die Chance, seine Internet-Aktivitäten neu zu ordnen. Der Konzern sollte sich künftig auf seine Kernkompetenz als Medienhaus konzentrieren und als Inhalte-Lieferant für möglichst viele Kanäle unentbehrlich machen, meint Carsten Schmidt, Analyst bei Forrester Research. Sollte das Geld aus dem Verkauf von AOL Europe dann fließen, müsste Middelhoff es nutzen, um die inhaltliche Kompetenz zu stärken - etwa durch den Kauf einer großen Musikmarke. Viel Geld ist in Gütersloh schon in ambitionierte eigene Internet-Projekte wie AOL Europe, BOL und Lycos gesteckt worden, das möglicherweise in Zukäufen auf der Inhalte-Seite, in strategischen Partnerschaften und begleitenden Marketing-Maßnahmen besser angelegt worden wäre.