Philippika gegen die DV-Branche

Dell-Chef wäscht PC-Industrie auf der diesjährigen Comdex den Kopf

01.05.1992

CHIKAGO (jm) - Michael Dell, CEO der Dell Computer Corp., hat sich auf der diesjährigen Comdex als Spielverderber betätigt. Seine Rede als Keynote-Speaker kam einer Standpauke für die PC-Branche gleich: Mangelndes Interesse an den Bedürfnissen der Anwender, Technologie, die keine Probleme löste und fruchtlose Scharmützel um Betriebssysteme, Oberflächen und CPU-Architekturen waren einige der herben Kritikpunkte des Texaners.

Was haben John Presper Eckert und Michael Dell gemeinsam? Der eine ist ein diplomierter Naturwissenschaftler, der einen für militärische Zwecke zu bauenden Computer erst nach dem zweiten Weltkrieg fertigstellen konnte und der später mit einer Weiterentwicklung dieses Rechners pleite ging, der andere ein Twen, der ausgeschlachtete IBM-Computerteile verhökerte und mittlerweile Chef eines Unternehmens ist, das beim Umsatz an der Milliarden-Dollar-Schwelle steht, seit neuestem zu den Top-500 der illustren Fortune-Liste gehört und Gewinnsteigerungen von 87 Prozent in einer ansonsten maroden Branche verbucht.

Der eine darf dank gewiefter IBM-Rechtsanwälte und einem Computer-Einzelgänger namens John Atanasoff nicht einmal für seinen gemeinsam mit John Mauchly entwickelten Electronic Numerical Integrator and Computer (Eniac) seit dem 19. Oktober 1973 geistige Urheberschaft beanspruchen.

Der andere, Dell, hat niemals eine Uni von innen gesehen, ist CEO der 1984 in Austin, Texas, von ihm gegründeten Dell Computer Corp., 27 Jahre alt, und einer Meinung mit Eckert: Die Computerindustrie hat nichts getan, damit die Arbeit mit den digitalen Zahlenfressern zur Produktivität der Mitarbeiter und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beiträgt.

Nur auf ihren eigenen Profit konzentriert, hätten sich die DV-Produzenten ausschließlich der Technologie um der Technologie willen gewidmet, immer darauf bedacht, durch Abschottung mit proprietären Architekturen eigene Marktanteile abzusichern. Dabei, wettert Dell, habe die Branche vor allem eins vergessen - sich Gedanken darüber zu machen, was Computertechnologie eigentlich dem Anwender bringt.

Der Nestbeschmutzer offerierte seine Einsichten als Redner einer Veranstaltung, anläßlich derer sich die Branche normalerweise selbst gerne feiert - auf der diesjährigen Comdex in Chikago.

Als Keynote-Speaker erlag Dell im Gegensatz zu einem anderen, noch bedeutsameren Wunderkind der Branche William H. Gates III. - nicht der Versuchung, unreflektiert die Möglichkeiten und Zukunftsperspektiven der DV-Branche in rosigen Farben auszumalen. Dells Rede glich vielmehr der Abrechnung mit einer Branche, die auf der ganzen Linie versagt hat.

"Ich stehe hier, um Ihnen zu sagen, daß unsere Kunden unglücklich sind. Sie sind frustriert und sie sind weniger produktiv, als sie es sich einmal erhofft hatten", befand der CEO des texanischen Direktvertreibers mit deutscher Niederlassung in Langen bei Frankfurt.

Gates hatte anläßlich der Herbst-Comdex in Las Vegas 1990 Videoclips präsentiert, in denen Anwender in gestellten Szenen demonstrierten, wie zukünftige multimediale Fähigkeiten von Computersystemen für den Arbeitsalltag zu nutzen sind. Dem stellte der Texaner Dell jetzt eine andere DV-Wirklichkeit entgegen. Die von ihm offerierten Videobilder zeigten PC-Benutzer aus den USA, die sich enttäuscht zeigten von der PC-Industrie: Sie habe ihre Versprechungen - erhöhte Produktivität, leichte Handhabbarkeit der Produkte und Flexibilität - nur marginal verwirklichen können.

Dies gelte auch im Vergleich zu älteren Informationstechnologien.

Dell rechnete vor, daß der Produktionssektor - ein Industriesegment, das vergleichsweise geringere Computerinvestitionen aufzuweisen habe - in den letzten acht Jahren eine Produktivitätssteigerung von 27 Prozent erzielen konnte. Im Dienstleistungssektor der Wirtschaft - für den 75 Prozent aller Computersysteme gekauft würden - sei für den gleichen Zeitraum hingegen ein Produktivitätsrückgang um ein Prozent zu verzeichnen gewesen.

"Unser Land hat in den 80er Jahren Milliarden für Computer ausgegeben, und was sagt uns das Amt für Arbeitsstatistik? Daß die Produktivität der US-Wirtschaft während dieser Zeit mal gerade um ein Prozent pro Jahr gestiegen ist", bilanziert der PC-Hersteller kritisch.

Der eigentliche Sündenfall der PC-Industrie sei, daß sie überhaupt nicht verstehe, was der Anwender eigentlich wolle und was er brauche. Vielmehr versuche sie, mit immer mehr Technologie bestehende Probleme zu erschlagen.

Technologie einzig um der Technologie willen habe lediglich dazu geführt, neue, nur sich selbst genügende Standards auszuloben, Produkte zu gebären, die ausgesprochen schwer zu handhaben seien, und in die Irre führende Industrieallianzen einzugehen. Als ein Negativbeispiel für Kooperationen führte Dell das ACE-Konsortiums an: "ACE hat nicht den geringsten Nutzen für Anwender, und es besteht bei Kunden auch überhaupt kein Bedürfnis nach ACE."

Als Resultat solcher Politik sei festzuhalten, daß sich die gesamte Industrie in der Frage anerkannter Standards oder der Bedienerfreundlichkeit von Produkten seit 1985 auf dem Rückzug befinde. "1985 haben wir es dem Benutzer noch einfach gemacht: Mit DOS gab es einen einzigen Betriebssystem-Standard, auf dem einfache und leicht verständliche Software lief", legt der Dell-Chef den Finger in die Wunde. Und er reibt noch Salz hinein, indem er resümiert, heute würden wegen verschiedener Betriebssysteme Kriege geführt, die Industrie schlage Schlachten um Unterschiedliche Prozessortypen und bekämpfe sich mit diversen grafischen Benutzeroberflächen. "Jeder kämpft verbissen darum, seine proprietäre Technologie zu schützen - und der Anwender läuft mitten in dieses Kreuzfeuer der PC-Hersteller hinein", bilanziert Dell.

Weil zudem wegen der unterschiedlichen Distributionswege und Kaufoptionen immer mehr Kunden, die immer weniger Voraussetzungen für die Computertechnologie mitbrachten, PCs kaufen könnten, sei das Festhalten an dem "Techno-Unsinn" ein wesentlicher Gund dafür, daß solche Schwergewichte wie Compaq oder die IBM heutzutage Verkaufseinbrüche hinnehmen müßten.

Die Kunden entscheiden, was für sie wichtig ist

Dells Heilmittel für die Industrie heißt: "Zuhören, was der Kunde will und was er braucht." Der Schlüssel zur Kehrtwende sei, daß "die Kunden - und nicht die Hersteller - entscheiden, was für sie wichtig ist. Und diese Wertedefinition kann zwischen den Kunden sehr unterschiedlich ausfallen", so der Texaner.

Für ihn wird die kommende Dekade geprägt sein von den Faktoren Time to Market, Service und Support sowie dem Preis-Leistungs-Verhältnis von Produkten. Dies seien die Ingredienzen zukünftiger Erfolgsstories.