Mit neuem Architekturkonzept bereit für das E-Business

Debitel jongliert mit zwei IT-Strukturen

06.04.2001
Mit wachsender Marktdurchdringung verlagert die Debitel AG ihren Schwerpunkt von der Neukundengewinnung zum Customer-Relationship-Management und E-Business. Damit einher geht die Ablösung der Zweischichten- durch eine n-tier-Systemarchitektur. Die im Mobilfunkgeschäft notwendige Marktnähe erfordert eine gleitende Umsetzung: Alte und neue Welt müssen für geraume Zeit parallel existieren. Von Bernhard Ochs, Gottfried May und Ludger Wetzel*

IT-Systeme müssen die Realität abbilden. Nur hat die Realität die unangenehme Eigenschaft, sich ständig zu ändern. Das gilt erst recht in einem Segment wie dem der Telekommunikation, wo neue Märkte quasi aus dem Nichts entstehen und in kurzer Zeit viele Phasen durchlaufen.

Ein Service-Provider wie Debitel muss schnell auf neue Marktanforderungen reagieren. Seine Aufgabe ist es, die Angebote aller Netzbetreiber - die Lieferanten und Konkurrent zugleich sind - möglichst rasch und effizient abzubilden. Darüber hinaus veredelt und ergänzt Debitel diese Produkte zu eigenen Angeboten und mit eigenen Dienstleistungen.

Für die IT heißt das: Sie muss immer wieder kurzfristig neue Produkte und Services abbilden sowie die damit verknüpften Prozesse verschlanken. Neben der Automatisierung der internen Abläufe gehört dazu auch die Einbindung der rund 5500 Verkaufsstellen in Deutschland und der mehr als 7000 Vertriebspartner in ganz Europa. Neue Tarife und Tarifmodelle, Produktpakete, Spezialtarife, Netzdienste wie die Prepaid-Card - all diese Services hat der IT-Bereich beim Markteintritt zu unterstützen. Für vorgeschaltete Konzeptionsphasen bleibt in der Regel wenig Zeit.

In der ersten Phase der Marktentwicklung stand die Neukundengewinnung im Vordergrund. Ziel war es, durch Produktivitätssteigerungen im Abwicklungsprozess möglichst schnell den Breakeven zu erreichen. Das Ergebnis war eine Ansammlung von Client-Server-Lösungen, die in Eigenregie mit dem von Sybase stammenden Werkzeug "Powerbuilder" realisiert wurden.

Explosionsartiges WachstumEinzelprozesse lassen sich so effizient unterstützen. Beispielsweise ermöglicht ein Internet-basiertes Point-of-Sales-System unter anderem die direkte Erfassung von Neukundenaufträgen im Handel, die dann von der internen Workflow-Lösung automatisch abgewickelt werden. Dank solcher Anwendungen, die ihren Zweck optimal erfüllen, hat die IT entscheidend dazu beigetragen, dass 1994 schon der Breakeven erreicht wurde.

Ab 1995 wuchs der Markt explosionsartig: Um die erste Million Kunden zu gewinnen, waren noch vier Jahre nötig, für die zweite Million ein weiteres Jahr, und die dritte folgte neun Monate später (Ende 1998). Heute betreut Debitel in Deutschland mehr als sechs Millionen Kunden. Mit dieser Entwicklung verbunden war ein enormer Anforderungszuwachs an die Adresse der IT: Wurden im Weinachtsgeschäft 1995 rund 6000 Aufträge pro Tag bearbeitet, so sind heute tägliche Volumina von 40000 Aufträgen und mehr zu bewältigen.

Damit änderte sich die Unternehmensstrategie von Debitel - von der Neukundengewinnung zum verstärkten Customer-Relationship-Management und zum E-Commerce. Hier sind jedoch völlig neue Anforderungen zu erfüllen: Statt des Massen-Marketings muss die IT eine individuelle Ansprache unterstützen. Dazu ist es notwendig, die Kundendaten möglichst flexibel zu analysieren und zu segmentieren.

Eine klare Strukturierung fehlteZugleich rückt die Servicequalität in den Vordergrund. Verfügbarkeit rund um die Uhr sollte ebenso selbstverständlich sein wie schnelle und vollständige Information bei Anfragen. Jeder Nutzer - ob interner Anwender, Endkunde oder Geschäftspartner - verlangt eine Schnittstelle, die optimal auf ihn zugeschnitten ist. Die Time-to-Market neuer Produkte, deren zeitnahe Implementierung und die zugehörige Prozessunterstützung werden gleichzeitig noch wichtiger als bisher.

Vor allem aber setzt Debitel alles daran, seine Position im E-Business auszubauen. Online-Customer-Self-Service ist künftig als Standardleistung gefordert. Zudem werden immer mehr Geschäftsprozesse mit Kunden und Händlern über das Internet abgewickelt.

Zu diesen neuen Anforderungen gerät die vorhandene Zweischichten-Architektur der IT immer stärker in Konflikt. In den gewachsenen Anwendungen sind Geschäftslogik und Präsentationsebene verknüpft. Dadurch wurden die einzelnen Applikationen zu groß - zumal die vielen Schnittstellen das Gesamtsystem immer komplexer machten.

Vor allem aber fehlt eine klare Strukturierung: Im Backend-Bereich sind zu viele Funktionen auf ein einzelnes System konzentriert, bei den Frontends hingegen die Funktionen auf zu viele Systeme verteilt. So werden allein bei der Kundenaktivierung drei und beim Customer Care zwei Systeme angesprochen. Einzelne Applikationen sind sowohl für Frontend- als auch für Backend-Prozesse zuständig, häufig genutzte Funktionalitäten wie Schufa, Inkasso, Zahlungsverkehr oder E-Mail zum Teil redundant implementiert.

In der Folge sind die IT-Systeme immer schwerer zu warten und anzupassen - und die entsprechenden Kosten steigen. Da bei der Einführung neuer Produkte zahlreiche Anwendungen geändert werden müssen, verlängert sich auch die dafür notwendige Zeit. Und das trifft den Kern der Wettbewerbsfähigkeit. Die Integration der Prozesse zu bewältigen ist eine zwingende Voraussetzung für hochwertigen Kundenservice und E-Business, also letztlich für die Konkurrenzfähigkeit.

Customer-Relationship-Management erfordert zudem einheitliche, konsistente Kundendaten. Doch die Front-Office-Applikationen verfügen über keine gemeinsame Datenbasis. Obwohl ein zentrales Data Warehouse vorhanden ist, setzten deshalb einige Reports und Analysen auf unterschiedlichen Quellen auf. Folglich waren die daraus abgeleiteten Interpretationen teilweise inkonsistent.

Unternehmen am ScheidewegAnfang 2000 stand Debitel deshalb an einem Scheideweg. Das Unternehmen entschied sich für eine Abkehr von der abrechnungszentrierten und die Hinwendung zu einer kundenzentrierten Architektur.

Die neue Architektur soll die Anpassung an die aktuelle Marktentwicklung erleichtern und zugleich die Grundlagen für heute noch nicht absehbare Veränderungen bilden. Der wichtigste Grundsatz heißt deshalb Unabhängigkeit. Eine eindeutige Aufgabenverteilung auf der logischen sowie eine klare Gliederung der physischen Ebene reduziert die wechselseitigen Abhängigkeiten der Systeme.

Im ersten Schritt hieß es, die funktionalen Einheiten zu strukturieren und zusammenzufassen: in die Funktionsblöcke "Aktivierung neuer Kunden", "Customer Care" und "Customer Self Care". Auf diese Blöcke greifen die internen und externen Benutzergruppen online zu. Die Aufgaben wurden so zugeordnet, dass ein System zusammenhängende Aktivitäten gemeinsam und vollständig abarbeitet.

Bei der Umsetzung der Funktionsblöcke in Applikationen werden Präsentation, Geschäftslogik und Daten konsequent in drei Schichten aufgeteilt. Die logischen Funktionen erhalten die Form wiederverwendbarer, auf einem Applikations-Server abgelegter Komponenten. So entsteht ein "Geschäftsprozess-Baukasten", mit dem sich neue Lösungen und Anpassungen wesentlich einfacher, also flexibler als bisher, realisieren lassen. Dieser Ansatz bedeutet allerdings einen radikalen Paradigmenwechsel.

Einheitliche EntwicklungsspracheDas Gesamtprojekt lautet "Entwicklung eines Architektur- und Integrationskonzepts". Innerhalb dieses Rahmens wurden seit dem Frühjahr 2000 mehrere Teilprojekte aufgesetzt. Eines hat die Aufgabe, Standards zu definieren, die geeignete Technologie auszuwählen und die benötigte Infrastruktur bereitzustellen; ein anderes baut die zentrale operative Kundendatenbank auf.

Die zweite wichtige strategische Entscheidung nach der Neukonzeption der Architektur war die Technologieauswahl. Als Programmiersprache bot sich Java an, als Komponentenmodell "Enterprise Javabeans" (EJB). Mit dieser Entscheidung ist es möglich, auf allen Ebenen (Frontend, Middleware und Backend) eine einheitliche Entwicklungssprache zu verwenden. Die Präsentationsebene ist für interne wie externe User nutzbar - eine Grundvoraussetzung für effizientes E-Business. Zudem garantiert Java die größtmögliche Unabhängigkeit der Komponenten. Überdies schafft diese zukunftsorientierte Technologie ein interessantes Umfeld für qualifizierte IT-Fachkräfte.

Ziel ist ein konsistenter DatenbestandBei der Middleware fiel die Wahl des Projektteams auf den "Sybase Enterprise Application Server" (EAServer), denn er unterstützt sowohl die "alte", aus Powerbuilder-basierten Client-Server-Lösungen zusammengesetzte Welt als auch die neue Architektur mit Java und EJB. Damit wurde eine Migrationsstrategie überhaupt erst realistisch.

Die Herstellung einer einheitlichen Kundensicht ist die wichtigste Voraussetzung für ein systematisches Customer-Relationship-Management. Der Aufbau einer zentralen Kundendatenbank und die Überführung der entsprechenden Daten aus den operativen Systemen haben deshalb hohe Priorität. Ziel ist es, einen konsistenten Datenbestand zu schaffen, auf den die Anwender über die Komponenten zugreifen können. So werden Prozesse effizienter und Daten aktueller.

Um auch auf der Datenebene größtmögliche Unabhängigkeit und Flexibilität zu schaffen, hat das Projektteam hier ebenfalls eine neue logische Ebene eingezogen. Das Datenmodell wird aus dem Klassenmodell abgeleitet. Übergeordneter Begriff ist der Partner, der dann konkretisiert wird: als Kunde, Nutzer, Interessent, Händler etc. Aufgrund der offenen Architektur sind für die physische Implementierung verschiedene Datenbanksysteme einsetzbar.

Die neue, auf Komponenten basierende Dreischichten-Architektur erfordert in der ersten Phase einige Vorleistungen. Ein äußerst eng am Markt operierendes Unternehmen hat jedoch nicht die Zeit, in aller Ruhe auf der "grünen Wiese" eine neue Architektur zu konzipieren und einzuführen. Die Dynamik des Marktes zwingt es einerseits zum Aufbau einer neuen Architektur, gleichzeitig aber auch dazu, im Zweifel ein Produkt oder einen Prozess kurzfristig noch einmal in der "alten Welt" abzubilden.

Bis der Prozess umschlägtMit den Fachabteilungen wurde vereinbart, in jedem Einzelfall zu entscheiden: Lässt sich die verlangte Lösung mit der neuen Methodik realisieren - oder ist unter dem herrschenden Zeitdruck lieber eine herkömmliche Variante zu schaffen? Die zur Verfügung stehenden Werkzeugen machen es möglich, beide Welten im Griff zu behalten und die Migration schrittweise zu vollziehen. Ist ein gewisser Vorrat an wiederverwendbaren Komponenten vorhanden, schlägt der Prozess sozusagen um: Dann lassen sich die Lösungen mit der neuen Methodik schneller realisieren als in der alten Welt.

*Bernhard Ochs ist Leiter DV/Systeme, Gottfried May Leiter Application Engineering und Ludger Wetzel Projektleiter Architekturkonzepte und zentrale Kundendatenbank bei Debitel AG, Stuttgart

Das UnternehmenDer 1991 gegründete ServiceProvider Debitel AG, Stuttgart, ist die größte netzunabhängige Telefongesellschaft Europas und der drittgrößte Mobilfunkanbieter Deutschlands. Der Umsatz des Konzerns betrug 1999 rund vier Milliarden Mark. Mit mehr als 2500 Mitarbeitern betreut Debitel rund acht Millionen Kunden.

Abb: Die Infrastruktur

Neue Lösungen werden nach Möglichkeit in der n-tier-Architektur abgebildet, unter Zeitdruck aber auch noch einmal im Zweischichten-Modell. Quelle: Debitel