Datenintegration - in der Praxis Illusion

12.07.2007
Von Hadi Stiel
Effiziente Geschäftsprozesse setzen die Verknüpfung aller gespeicherten Informationen voraus. Aber Herrstellerkonzepte und Anwenderrealität driften immer weiter auseinander.

Optimierte Geschäftsprozesse speisen sich dynamisch und flexibel aus den notwendigen Daten; in den Konzepten der großen Softwarehersteller klappt das immer. Ganz anders in der realen IT-Welt. Hier stellen sich unvermittelt proprietäre Datenquellen und starre IT-Strukturen in den Migrationsweg. Die Folge: Zwischen der Wunsch- und realen IT-Welt klafft eine immer breitere Lücke.

Hier lesen Sie

warum die Datenintegration immer wichtiger wird;

wo die Unternehmen in dieser Beziehung stehen

was die Hersteller ihnen versprechen;

inwiefern diese Versprechen trügerisch sind;

was Service-Provider und Anwender verbindet.

Sicherheit bleibt oft auf der Strecke

Prozessoptimierung und Datenintegration sind für die Unternehmen eine riesige Herausforderung – allerdings nicht die einzige, erinnert Lars Weimer, verantwortlich für Informationssicherheit im Bankenbereich bei Ernst & Young. Ebenso wichtig sei es, die Prozessoptimierung durch adäquate Regeln und Kontrollen, Management-Maßnahmen und -systeme zu begleiten. "Datenschutz und Compliance müssen den weitgehend elektronischen Prozessabläufen nahtlos folgen", sagt Weimer.

Ziehe das Unternehmen die Auslagerung einzelner IT-Abschnitte in Erwägung, so müsse es die Anforderungen vorab detailliert spezifizieren. Oft werde jedoch vergessen, die Zeit und den Aufwand dafür einzuplanen.

Der Grund für die steigenden Datenintegrationsanforderungen ist schnell ausgemacht: Es ist die Optimierung der Geschäftsprozesse – zumal darin zunehmend auch die mobilen Mitarbeiter eingebunden werden. "Je mehr die IT und die darüber abzuwickelnden Prozesse zusammenwachsen, desto weiter müssen im Backend die Pforten zu den unterschiedlichen Applikationen mit ihren Datenbasen geöffnet werden", umreißt Bernd Redecker, Leiter des Mobility-Labors von Siemens IT Solutions and Services, die Herausforderung: "Datenquellen, die heute noch ein Schattendasein fristen, können schon morgen durch Markt- oder innerbetriebliche Veränderungen für geschäftliche Abläufe unverzichtbar sein."

Erst am Anfang der Integrationsstrecke

Außer Frage steht für den Siemens-Manager, dass sich das Gros der Unternehmen erst am Anfang der Datenintegrations- und IT-Flexibilisierungsstrecke bewegt. Eine aktuelle Studie von Vanson Bourne bestätigt seine Einschätzung. Befragt wurden knapp 500 IT-Manager in Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Zwei Drittel von ihnen sehen sich zunehmend mit komplexen, teils globalen Wertschöpfungsketten konfrontiert. Die anstehende IT-Integration und -Flexibilisierung betrachten sie als "große Herausforderung", die sie offenbar noch nicht gemeistert haben.

Ein Drittel der befragten IT-Manager räumt ein, dass die Divisionen und Geschäftseinheiten ihres Unternehmens weiterhin separate, nicht miteinander agierende IT-Systeme einsetzen. "Besonders offensichtlich wird der Prozess- und Datenintegrationsrückstand gegenüber den Geschäftspartnern", konstatiert Jörg Geilgens, Presales Manager beim Integrationsspezialisten Sterling Commerce. 38 Prozent der Unternehmen hätten die dafür notwendige IT-Integration in ihrem Backend nicht einmal angefangen.

Web-Service-Architekturen setzen sich langsam durch

Der Hemmschuh für die perfekte IT ist die über viele Jahre gewachsene, heterogene IT-Landschaft mit ihren proprietären Daten-Pools und -formaten. Wie Geilgens ausführt, lässt sich ein elektronischer Geschäftsdatenfluss nun einmal nur auf der bestehenden IT aufbauen. Seiner Einschätzung zufolge werden etwa acht bis zehn Jahre vergehen, bis sich reine Web-Service-Architekturen, die den Unternehmen das IT-Leben erleichtern könnten, durchgesetzt haben werden.

Gartner hat gerade seinen ersten "Magic Quadrant" für den Marktbereich "Backend Application Integration" veröffentlicht. Darin werden die Anbieter für B-to-B-Software, SOA-, EAI- und BPM-Werkzeuge qualifiziert. Zugleich konstatieren die Marktbeobachter einen immer noch wachsenden Integrationsbedarf. "Er wird durch die zusätzliche Einbindung von Sprach- und Videoapplikationen zusätzlich gesteigert", prophezeit Mathias Hein, IT-Berater in Neuburg an der Donau.

Marktkonzentration verschärft das Problem

Die wachsenden Integrationsanforderungen passen schlecht ins Verkaufskonzept von IT-Größen wie IBM, Microsoft, Oracle, CA, SAP und Cisco. Für sie ist die perfekte, prozessgetriebene IT durchaus machbar – solange sich die Unternehmen weitgehend der Software eines Herstellers bedienen. "Mit der Einsatzrealität haben solche Konzepte wenig gemein", kritisiert Andreas von Meyer zu Knonow, Vice President Global Product Solutions bei Avaya und Mitglied im Hauptvorstand von Bitkom.

Die Konzentrationsprozesse im IT-Markt verschärfen dieses Problem: "Markteinführung und -reife der Produkte laufen Gefahr, noch weiter auseinanderzudriften", erläutert der Bitkom-Vorstand. Mit ihren Architekturen und Softwarekonzepten eilten die IT-Größen der real existierenden IT-Welt mittlerweile um gut eine Dekade voraus.

Industriestandards sind gefährlich für die Anwender

Wenig erfreulich für die Anwender wirkt sich auch das Bestreben der IT-Größen aus, "Industriestandards" zu prägen: Die Ziele heißen: Kunden binden und Wettbewerber abdrängen, wenn möglich ausschließen. "Die proprietäre Strategie, wie Daten gespeichert und behandelt werden sollten, dürfte letztlich auf Kosten der Unternehmen gehen", moniert Andreas Zilch, Lead Advisor bei der Experton Group: "Versucht das Unternehmen, über die Zeit dem vermeintlichen Industriestandard zu folgen, begibt es sich vollends in die Hände dieses Herstellers – auch mit Blick auf die künftige Preisbildung." Entscheide das Unternehmen hingegen, dieser Strategie des Anbieters nicht mehr zu folgen, bekomme es die negativen Auswirkungen proprietärer Daten-Pools und -formate bald umso heftiger zu spüren.

Zudem sieht Zilch die Rückzugsgebiete proprietärer Strategien bedroht: "Vielen propagierten Industriestandards wird beim Kampf der IT-Größen und den sich immer stärker überschneidenden Marktpfründen buchstäblich die Luft ausgehen." Angesichts solcher Rahmenbedingungen ruft Volker Massoth, Director von HP Services, Anbieter wie Kunden zu mehr Realismus auf: "Die Herausforderung der Prozess- und Datenintegration werden die Unternehmen nur hart an der Einsatzpraxis in mehreren Migrationsschritten meistern können", lautet seine Einschätzung. Das gelte umso mehr, als diese Integration nicht nur eine rein technische Dimension habe: "Daneben müssen die Unternehmen die geschäftlichen und administrativen Prozesse sowie die daran beteiligten Menschen Schritt für Schritt unter einen Hut bringen." Bei dieser Aufgabe könne ihnen keiner der IT-Hersteller mit seinen Produkten helfen – allenfalls leiste er Unterstützung.

Massoth fordert deshalb die Unternehmen auf, erst einmal ihre Governance mit klaren Schnittstellen zwischen Menschen, Technik und Prozessen auf Vordermann zu bringen und die Servicebereitstellung auf die geschäftlichen Prioritäten auszurichten, bevor sie technische Entscheidungen zugunsten der einen oder anderen Produktstrategie treffen.

Als ideale Starthilfe sieht Massoth den IT-Servicestandard "Itil" – spätestens seit der aktuellen Version 3. Gehe ein Unternehmen strukturiert – nach den dort aufgezeichneten Best Practices – vor, so tue es sich leichter in der Auswahl der Integrationstechniken: "Die Entscheider erlangen dadurch einen verlässlichen Überblick, welche Geschäftsprozesse mehr und welche weniger ablaufkritisch sind."

Das vereinfacht auch die Entscheidung, welche Prozesse für eine Auslagerung als industrialisierte IT in Frage kommen. Dabei sind die Service-Provider hinsichtlich ihrer Investitionsentscheidungen mit denselben Rahmenbedingungen konfrontiert wie die Anwenderunternehmen. Wie Ulrich Kemp, bei T-Systems verantwortlich für das Geschäft mit Groß- und Mittelstandskunden, bestätigt, steigen die Kunden über das Thema IT-Servicebelieferung nach Maß tiefer in die Verbesserung der Geschäftsprozesse ein. Damit lohne es sich auch für die Dienstleister, die Prozess-, Integrations- und Management-Anforderungen der Anwender aufzunehmen.

Aber auch die Dienstleister müssen EAI-Systeme oder objektorientierte Middleware für ein Standardservice-Angebot Schritt für Schritt anpacken und implementieren. Für das laufende Servicegeschäft spielen deshalb bis auf weiteres die separaten Anwendungsplattformen von SAP, Microsoft, IBM und Oracle die Hauptrolle – ohne Prozess- und Datenintegration in die Unternehmens-IT. Die "perfekte", umfassende Integration der IT kommt angesichts der komplexen Realität nur langsam voran. (qua)