Das Unix-Eldorado liegt in der DDR - nicht hier

23.03.1990

Helmut Grützbach, Abteilungsleiter Forschung und Entwicklung beim VEB Leitzentrum für Anwendungsforschung (LfA), Ostberlin, sprach CW-Redakteur Hermann Gfaller

Softwerker aus der DDR sind für westliche Firmen derzeit heiß begehrte Partner. Vor allem die Programmerstellung unter Unix gilt als eine ihrer Hauptstärken. Der Grund: Rechner-Mangel zwang die Entwickler zur Erstellung von Hardware-unabhängigen Programmen. Helmut Grützbach schildert wie das offene Unix-Betriebssystem in seinem Land auch ohne offizielle AT&T-Lizenzen seine Anhänger fand. Der Abteilungsleiter, bereits seit 1982 beim VEB LfA für dieses Betriebssystem engagiert, ist zudem Gründer der Unix Entwickler- und Anwender- Gemeinschaft in der DDR.

CW: Wie sind Sie in der DDR zu Ihrem Unix-Know-how gekommen?

Grützbach: Ab 1984 trafen sich die Entwickler auf einer eher privaten Ebene, um Unix zu forcieren. Dafür haben wir Konferenzen, Arbeitstagungen und Stammtische organisiert. Dort haben wir natürlich auch Informationen aus dem Westen ausgetauscht. Besonders eng waren die Kontakte der Unix-Anhänger in beiden Teilen Berlins. Offiziell hatten wir dafür allerdings keine Unterstützung.

Ich will damit nicht sagen, daß wir Unix verbreitet haben, aber wir haben zumindest das Umfeld dafür geschaffen, daß eine Verbreitung erfolgen konnte. Durch die regelmäßigen Treffen und eine jährliche Klausurtagung in den Bergen konnten wir den Nachholbedarf an Informationen in vielen Gebieten ausgleichen und dadurch immer mehr Entwickler für dieses Betriebssystem gewinnen. Als dann die Mauer offen war, haben sich die Unix-Organisationen hüben und drüben rasch gefunden. Zur Zeit wird in etwa 50 Einrichtungen der DDR an Unix gearbeitet.

CW: Wie groß ist der Anteil von Unix an der Gesamt-DV?

Grützbach: Es gibt in der DDR keine Marktforschung, dafür aber eine große, schwer zu beziffernde Menge an Grau- und Schwarz-Importen. Da die großen Nutzer alle auf Mainframes arbeiten, würde ich den Unix-Anteil nicht höher als fünf bis zehn Prozent ansetzen.

CW: Sie grenzen sich gegen Robotron ab, warum?

Grützbach: Robotron ist mit all seinen Zweig-, Teil- und Kombinatsbetrieben der bestimmende Hersteller auf Software- und Hardware-Seite in der DDR gewesen. Daneben gab es lange Zeit keinen anderen Hersteller, und Robotron ist in allem, was es gemacht hat, IBM gefolgt - egal, ob falsch oder richtig. Um Unix hat sich Robotron dabei in den vergangenen zehn Jahren in keiner Weise gekümmert.

CW: Das haben dann Sie übernommen...

Grützbach: Ja, unabhängig von Robotron haben wir, das VEB Leitzentrum für Anwendungsforschung (LfA), ab 1982 angefangen, Unix als Gast unter ein IBM-kompatibles Betriebssystem zu bringen. Ursprünglich wollten wir damit unseren Mitarbeitern eine Programmierumgebung bieten. Der Gedanke, Unix in der DDR voranzutreiben, spielte damals keine Rolle.

Da sich unser Ansatz als erfolgreich erwies, haben wir bald Partner bekommen, vor allem Hochschulen und Universitäten. Eine besonders engagierte Gruppe saß in der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, jetzt Technische Universität Karl-Marx-Stadt. Mit diesem Team haben wir unser System ausgebaut und 1984 einen C-Compiler entwickelt.

Damit waren wir im Mainframe-Bereich in einer sehr guten Ausgangsposition. Wir verfügten über den ersten C-Compiler in diesem Bereich überhaupt und über ein darunterliegendes Unix-System mit einer Laufzeitumgebung für die OS-Betriessysteme von IBM. Mit Unix für die Zielumgebung IBM zu programmieren - das war unser Erfolgsrezept. Erst zu diesem Zeitpunkt zog Robotron nach und stelle Unix-PCs als sogenannte Zweitsysteme zur Verfügung. Von dort kam dann auch Mutos 1600, das erste Betriebssystem im Unix-Bereich, das von uns mitinitiiert wurde. Der eigentliche Entwickler von Mutos ist heute allerdings nicht mehr festzustellen.

CW: Auf alle Fälle hat Unix damit zum ersten Mal eine größere Verbreitung erfahren?

Grützbach: Richtig. Ich muß aber noch hinzufügen, daß ungefähr in dieser Zeit das Kombinat Elektro EAW in Treptow parallel zu Robotron ebenfalls die Computerentwicklung aufgenommen hat, was vorher nicht erlaubt war. Die haben es aber einfach gemacht und haben das einzige System herausgebracht, das ausschließlich unter Unix läuft, nämlich die P 8000. Das war 1985.

CW: Hat der Mangel an Rechnern eine Rolle für die Unix-Einführung gespielt?

Grützbach : Aus unserer Sicht war dieser Mangel sicher ein Vorteil, denn so waren wir gezwungen, maschinenunabhängig zu programmieren. Unsere Kapazitäten reichen nicht, um für jedes System irgend etwas Neues zu entwickeln.

Eine zentrale Rolle hat die P 8000 gespielt. Dazu muß gesagt werden, daß Computer, wie jede andere Maschine auch, bilanziert, sprich: in den Plan aufgenommen werden mußten. Das bedeutet, daß ein oder zwei Jahre im voraus geplant und genehmigt werden mußte, bevor ein Rechner in die Produktion ging. Erst dann konnte man ihn kaufen, wenn die Lieferbedingungen gut waren. Der P 8000 wurde nicht bilanziert. Jeder konnte ihn bestellen und war damit in der normalen Bestell- und Lieferfolge.

Wenn in der DDR etwas zu wenig da war, konnte man sich ganz öffentlich darüber unterhalten, es zu kontingentieren. Das heißt, jeder mußte erst mal seinen Bedarf nachweisen. In dem Augenblick jedoch, in dem ein System bilanziert ist, greift die Verteilwirtschaft, mit all den bekannten negativen Folgen. Deshalb konnte man diese P 8000 kaufen, bis sie Mitte letzten Jahres in den Plan aufgenommen wurde.

CW: Mit der P 8000 hat Unix in der DDR also den Durchbruch geschafft?

Grützbach : Nein, das wäre zuviel gesagt; aber Unix ist keine reine Randerscheinung mehr. Heute gehören rund 450 Mitglieder zur Unix-Anwendergemeinschaft und das sind ausschließlich juristische Personen, also Betriebe, Universitäten und landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Wir schätzen, daß ungefähr 5000 Unix-Systeme in der DDR arbeiten - zum größten Teil sind das die P-8000-Rechner. Die Größenordnung bei anderen Prozessortypen können wir allerdings nicht so genau abschätzen .

CW: Sie sind dabei, gemeinsam mit einem Westberliner Softwarehaus ein Unternehmen zu gründen. Was können Sie dafür einbringen?

Grützbach: Man muß das von zwei Seiten sehen. Wir bieten nicht so sehr Produkte und Software an. Da sind wir im Rückstand. Außerdem ist die vorhandene DDR-Software sozusagen "moralisch" verschlissen. Westprodukte haben heute ganz einfach mehr Prestige. Deshalb sind wir auf die Produkte unseres Partners angewiesen. Aber was wir haben, ist der Zugriff auf die Anwender in der DDR . Natürlich schlägt auch unser gut ausgebildetes Personal positiv zu Buche.

CW: Wie stellen Sie sich die Privatisierung Ihrer Unix-Abteilung vor?

Grützbach: Zwei Dinge sind wichtig: Einmal wird es eine Beteiligung für die Mitarbeiter der jetzigen Unix-Abteilung geben. Damit werden sie zu Mitbesitzern des neuen Unternehmens. Zum zweiten ist ausgemacht, daß das neue Unternehmen sämtliche Urheberrechte vom westlichen Partner bekommt.

Unser Markt liegt derzeit in der DDR, und zwar mit unseren jetzigen Produkten, und wir werden auch in diesem Markt bleiben wollen. Aber Applikationen, die wir gemeinsam mit Uniware machen, können wir natürlich auch im Westen vertreiben

CW: Wie wird sich der Markt in der DDR verändern?

Grützbach: Robotron als derzeitiger Hauptanbieter mit proprietärer Ausrichtung wird nicht von der Bildfläche verschwinden, auch wenn wir uns das wünschten. Und auch IBM und Siemens werden sicherlich versuchen, ihre Claims abzustekken und ihre Techniken entsprechend durchzusetzen. Trotzdem bedeutet eine Umstellung, wie sie jetzt kommen wird, eine Chance für Unix. Und auch die Kunden von Robotron müssen viel umschreiben, wenn sie auf IBM umsteigen. Warum dann nicht gleich zu Unix...

CW: Sind dadurch die Chancen für Unix in der DDR besser als in der Bundesrepublik?

Grützbach: Ja, das sehe ich so.

VEB Leitzentrum für Anwendungsforschung (LfA)

Das VEB Leitzentrum für Anwendungsforschung (LfA) ist eine auf Software Entwicklung und Vertrieb spezialisierte Einrichtung des Kombinats Datenverarbeitung (KDV) und war bisher der Zentralverwaltung für Statistik zugeordnet. Aus diesem Amt kamen unter anderem die Eckdaten für die staatliche Wirtschaftsplanung. Wie die Zentralverwaltung für Statistik ist das Kombinat in jedem der 15 DDR-Bezirke mit einem Mainframe-Rechenzentrum und jeweils etwa 1000 Beschäftigten vertreten. Beim LfA selbst arbeiten 600 Mitarbeiter, 420 davon in der Software-Entwicklung.

Da das LfA vor allem die kombinatseigenen Rechenzentren unterstützen sollte, liegt das Hauptaugenmerk auf IBM-Software im Großrechnerbereich. Außerdem entstehen Anwendungen im Datenbankbereich und für CAD/CAM. Hier wird mit Industriebetrieben zusammengearbeitet, für die auch Projekte realisiert werden.

Seit 1982 beschäftigt sich das LfA mit dem Betriebssystem Unix. Aus dieser Unternehmensabteilung heraus entstand in der DDR die "Entwickler- und Anwendergemeinschaft Unix-kompatibler Systeme" (EAG). Die 36 Mitarbeiter dieser Abteilung bilden auch den Grundstock der "GKI Gesellschaft für offene Kommunikations- und Informationssysteme", die jetzt gemeinsam mit der Westberliner Uniware Computer GmbH im Ostteil der Stadt gegründet worden ist. Das neue Unternehmen soll sowohl im Westen als auch im Osten tätig sein.

DDR: Land der Unix-Träume?

Nirgendwo sind derzeit die Voraussetzungen für Unix besser als in der DDR. Zwar wird die DV-Landschaft dort von den pseudo-proprietären Robotron-Produkten beherrscht, doch der Sturz des ungeliebten Einheitsstaates hat auch die Produkte der Planwirtschaft mit in den Strudel des Untergangs gerissen. "Buy West" heißt daher die Devise, die IBM in ein "Buy Blue" für sich umzumünzen hofft.

Westprodukte sind jedoch teuer, besonders wenn sie von der IBM kommen. Daher ist es mehr als ungewiß, ob die kostenlose Rechnerdemo für die Volkskammerwahlen dazu führt, daß die bisherigen Kunden des IBM-Kopisten Robotron ohne Not zu den Original-Produkten abwandern.

Anders bei Unix. Die Jahre der Rechner-Knappheit haben den DDR-Programmierern die Tugend der hardwareunabhängen Software-Entwicklung nahegebracht. Unix war dafür das Betriebssystem der Wahl. Zudem fällt es nicht unter das Verdikt "moralisch verschlissen", mußte es doch an der offiziellen Planwirtschaft vorbei etabliert werden.

Last, but not least ist die DV-Durchdringung nach wie vor gering. Proprietäre Altlasten wie hierzulande gibt es also so gut wie nicht. Selbst Mainframer sind potentielle Unix-Anwender, wenn sie nicht partout bei Robotron bleiben wollen. Kurz: In der DDR ist der Boden für Unix bereitet.

gfh