Das Sierra-Syndrom

26.07.1985

Milde Langeweile stellt sich mittlerweile ein, wenn IBM-Boß John Akers wieder einmal von der US-Wirtschaftspresse zitiert wird, das vierte Quartal 1985 werde "außerordentlich gut ausfallen". Immerhin ist der Mainframe-Marktführer heute bereit, zuzugeben, daß das Geschäft mit Mittelklasserechnern (/36, /38, 43XX) nicht besonders gut läuft und sich die Verlagerung von der Miete zum Kauf negativ im Ergebnis niederschlägt.

Seit Herbst 1984 geht es nämlich bei der IBM Corp. wirklich bergab - die Ergebnisse des zweiten Quartals 1985 (CW Nr. 29) bestätigen ein stabiles Tief. Zwar blieb der Erlös ziemlich konstant, doch die Rendite ging zurück - und das schmerzt Big Blue besonders.

Akers hat das Sierra-Syndrom nicht erfunden, er hat es nur benannt; das ungeduldige Hoffen Performance-hungriger Großkunden, unter den ersten 3090-Installateuren zu sein - immer an der Spitze der Migrationsbewegung. Auf der Sierra gründet IBMs Zuversicht. Rechnung: Wenn heuer weltweit noch 400 bis 500 Modelle 3090/200 ausgeliefert werden, wovon die IBM-Spitze offensichtlich ausgeht, dann bringt das einen Umsatz von sieben bis acht Milliarden Mark. Indes: Die Kunden haben zwar geordert - aber werden sie die Maschinen auch zum von IBM gewünschten Zeitpunkt abnehmen? Noch wissen die Anwender ja nicht, welchen Leistungsgewinn die Sierra wirklich bringt.

Die IBM ist mit solchen Problemen noch immer fertig geworden. Die 360/370-erprobten DV/Org.-Chefs waren stets ihre treuesten Verbündeten. Nur, ist es aus Big-Blue-Sicht noch realistisch, auf den Pfadfindergeist der 60er und 70er Jahre zu setzen? Und kommt dieser Art von Kumpanei nicht ein neues Wirtschaftlichkeitsdenken in den Unternehmen in die Quere?

Andererseits muß man sehen, daß beide Partner, der Kunde und die IBM, langst Gefangene ihrer (DOS-, MVS; IMS-, SNA- etc.) Systeme geworden sind - in der aktuellen Sierra-Situation für Big Blue sicher ein Vorteil. Für die 308X-Kunden stellt es sich doch so dar, daß die Umstellung auf die nächstgrößere IBM-Hardware einen Beigeschmack von Unausweichlichkeit bekommt. Paradoxon: Da sie keinen zweiten Weg haben, gehen sie mit dem IBM-Host eine Symbiose ein, die dazu bestimmt ist, ihnen gleichzeitig ihren Status zu erhalten und sie von der Innovation abzuschneiden.

Nur, ist es wiederum noch realistisch, auf die Marketing-Magie der IBM zu setzen - eine Magie, die sich etwa auch darin ausdrückt, "offene" Systeme zu verhindern? Natürlich ist die IBM für "Open Systems Interconnection" wenn sie bestimmen kann, wie OSI zu sein hat. Wenn die IBM-Anhanger mit einer Veränderung durch "Öffnung" rechneten, so doch nicht ernsthaft mit einer Veränderung "ihrer" IBM-Welt dazu reichte ihre Phantasie nicht aus. Nun, sie wußten, daß es über kurz oder lang zu einem Kompatibilitäts- und Portabilitätsstandard kommen wurde. Aber dann mußte es eben ein IBM-Standard sein: Innerhalb von SNA alles offen.

Zudem betreibt der Rechnerriese die Marktumverteilung in ganz undurchsichtiger Form, indem er sich zu OSI bekennt (siehe oben) gleichzeitig aber in den Anwender-Unternehmen Systemumgebungen schafft, die OSI verhindern sollen.

Fazit: Solange Marktbeobachter und DV-Spezialisten es für möglich halten, daß sich die IBM trotz noch so großer "Opfer" (OSl-Zugeständnisse, aber auch Unix-Beichten) letztlich doch durchsetzen kann, wird uns die Inkompatibilität als Mittel der Markt- und Produktpolitik erhalten bleiben. Andernfalls wird sich der ganze Quatsch überleben.