Das Schwarmprinzip: Wissen ist Markt

03.08.2005
Von Thomas Gerick 
Das Web lässt sich nach zehn Jahren als Massenmedium plausibel mit Modellen aus der Biologie beschreiben. Die dort gewonnenen Erfahrungen können Firmen auch für interne Abläufe nutzen.

Kleiner als ein Nadelkopf ist das Gehirn von Ameisen - und dennoch gelten sie als klassisches Beispiel für kollektive Intelligenz. Nach dem Prinzip "Achte auf Deinen Nächsten wie dich selbst" agieren Scharen sozialer Insekten wie Ameisen, Bienen oder Termiten durch ihr kollektives Verhalten äußerst erfolgreich.

Vorbild aus dem Tierreich

Ameisen können in einem unbekannten Terrain optimale Verkehrsnetze aufbauen. Entlang ihrer Wege sondern sie unentwegt Duftstoffe, Pheromone, ab. Diese dienen der Kommunikation und Orientierung. Da die Tiere jene Pfade, die schon viele andere gegangen sind, wegen der intensiven Duftspur am liebsten gehen, ergibt sich im Laufe der Zeit eine perfekte Ameisenstraße. Entscheidend dabei ist, dass die Pheromone nach kurzer Zeit wieder verdunsten, so dass die Attraktivität seltener gewählter Wege automatisch nachlässt. Variationen dieses im Grunde simplen Verfahrens unterstützen Unternehmen heute bei einer Reihe von betrieblichen Herausforderungen, beispielsweise überlasteten Telefonnetzen oder im Frachtverkehr.

Hier lesen Sie …

• wie sich Erkenntnisse aus der Biologe auf die Kooperation von Teams übertragen lassen;

• welche Online-Dienste sich dieses Prinzip zu Eigen gemacht haben;

• wie sich Unternehmen diese Prinzipien intern zunutze machen können;

• warum Weblogs und Wikis diese Konzepte in einer idealen Form repräsentieren.

Mehr zum Thema

www.computerwoche.de/go/

*72835: Weblogs - noch ein zartes Pflänzchen;

*70038: Wie Wikis die IT-Nutzung verändern;

*69253: Soziale Netze statt anonymes Internet.

Seit gut 20 Jahren versuchen Wissenschaftler und Ingenieure, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, um Mechanismen und Technologien zu entwickeln, wie der Mensch Herausforderungen wie den Verkehr oder die Informationsverarbeitung besser organisieren kann.

Betrachtet man das Phänomen Schwarmintelligenz, lassen sich vor allem drei wichtige Eigenschaften nennen: Flexibilität, Robustheit und Selbstorganisation. Staatenbildende Insekten passen sich gut an unterschiedlichste Bedingungen an, und sie sind sehr robust gegenüber dem Ausfall einzelner Individuen. Die Mitglieder des Schwarms benötigen vergleichsweise wenig Aufsicht oder Kontrolle. Durch die Interaktion autarker Einzelner agiert die Gruppe ohne zentrales Kommando selbstorganisiert und dynamisch. Die genannten drei Eigenschaften bilden das Rückgrat von Systemen, die auch eine Fülle unternehmerischer Hürden meistern können.

Keine starren Abläufe

Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich eine Richtung der KI-Forschung, die so genannte Verteilte Künstliche Intelligenz (VKI), verstärkt mit der Adaption und Umsetzung solcher Konzepte. Das Ziel ist es, benutzerfreundliche Werkzeuge zu entwickeln, die ohne starre Programmabläufe interagieren, und diese ebenso unaufdringlich wie nutzenstiftend in unsere Arbeits-, Lern- und Lebenswelt zu integrieren. In den vergangenen Jahren wurden wichtige Techniken des so genannten Soft-Computing realisiert, die nicht nur logisch-regelbezogen, sondern emotional und fehlertolerant agieren. Beispiele hierfür sind neuronale Netze, Lernalgorithmen oder die Fuzzy-Logik zur fehlertoleranten Informationsverarbeitung. Solche Lern- und Auswahlverfahren eignen sich deshalb besonders als Schnittstelle zum Internet.

Herausforderung Internet

Die Semantic-Web-Initiative des WWW-Architekten Tim Berners-Lee verfolgt das Ziel, die Bedeutung von Informationen auf eine standardisierte Weise zu beschreiben. Auf dem Weg, das existierende Web durch ein mit aussagekräftigen Metadaten angereichertes semantisches Internet zu ersetzen, empfahl das W3C-Konsortium im Jahr 2004 zwei Kerntechnologien: das Resource Description Framework (RDF) und die Web Ontology Language (OWL). Doch die Entwicklung von Software, die Inhalte in derart komplexen Informations- und Kommunikationsräumen mit Hilfe von Ontologien themenspezifischer Vokabulare maschinell interpretieren können, steckt noch in den Kinderschuhen.

Amazon beispielsweise schlägt beim Erwerb eines Buches vor, noch weitere dazu passende Titel zu kaufen. Dahinter steht die Analyse des Nutzungsverhaltens bestimmter Käufergruppen. Aus der Häufigkeit der gewählten Kaufvarianten anderer Kunden schlussfolgert das System einen thematischen Zusammenhang. Auch Google bietet auf Basis kollaborativer Mechanismen ohne Wörterbuch eine automatische Rechtschreibkorrektur.

Im kleineren Rahmen verspricht intelligente Software auch für Unternehmen praktischen Nutzen. Entscheidend ist, dass solche Systeme durch die Interaktion der Benutzer lernen und das kollektive Recherchewissen in Form von aktuellen Themennetzen oder spezifischen Suchausdrücken permanent verbessern. Zudem werden nicht nur erfolgreich beantwortete Fragen abgelegt, sondern auch Personen oder Rollen aufgeführt, die sich für spezifische Themen interessieren. So kann ein System etwa das Leseverhalten von Anwendern analysieren und häufig genutzte Dokumente anderen als besonders interessant empfehlen. Kollaborative Technologien basieren darauf, dass sie die Aktionen der Anwender protokollieren und für die Verhaltenssteuerung anderer Mitarbeiter verwenden.

Kooperation Gleichberechtigter

Eine Reihe von erfolgreichen Internet-Initiativen der letzten Jahre basiert auf dem Prinzip der Zusammenarbeit gleichberechtigter Akteure. So beruht beispielsweise der Erfolg von Linux auf den Vorzügen seines Organisationsprinzips: offen, flach, autonom, experimentierfreudig. Es ist eine Kooperation, die sich nicht auf das Verhältnis von Hersteller und Zulieferer stützt, sondern auf die Zusammenarbeit von gleichberechtigten Mitspielern. Einige Jahre nach dem Beginn der Linux-Verbreitung, im Sommer 1999 sorgte der damals 19jährige Shawn Fanning mit Napster für Furore. Innerhalb weniger Monate verwandelten 20 Millionen Kunden das Internet in eine Musiktauschbörse. Jeder Teilnehmer war sein eigener Produzent.

Interessanterweise leisten auch hier Konzepte mit den Eigenschaften, die wir als Charakteristika für Schwarmintelligenz identifiziert hatten, wirkungsvolle Dienste. Flexibilität, Robustheit, Selbstorganisation - Technologien, die diese Eigenschaften adaptieren, fasst man seit einigen Jahren unter dem Sammelbegriff Peer-to-Peer-Computing (P-to-P) zusammen.

P-to-P nicht nur für Tauschbörsen

Dabei ist der P-to-P-Gedanke nicht neu, entspricht er doch der natürlichen Form zu kommunizieren. Auch das Internet wurde als P-to-P-System konzipiert und sollte ursprünglich gleichberechtigte Teilnetze miteinander verbinden. Sie übertragen Daten dezentral und sind dadurch robust. Der Ausfall eines Segments hat keine Auswirkungen auf das Gesamtsystem, einen Single Point of Failure gibt es nicht.

Dieses Konzept erlitt jüngst durch die Entscheidung des obersten US-Gerichts einen Rückschlag. Die Betreiber einer P-to-P-Plattform sollen künftig für jeden Missbrauch durch ihre Benutzer verantwortlich gemacht werden. Dennoch wird sich die P-to-P-Technologie in Unternehmen und Verwaltungen weiter durchsetzen, beispielsweise für die Verbreitung von Nachrichten, die Wettervorhersage oder für die Internet-Telefonie. Oder im Gesundheitssystem: In Schottland werden Röntgenaufnahmen von Krankenhäusern über P-to-P an die Hausärzte versendet.

Eines Tages wird nach Meinung des britischen Wirtschaftsmagazins "Economist" der größte Teil der Wissensarbeit von Teams erledigt, die nach dem P-to-P-Ansatz arbeiten. Die Kooperation kann oft nur temporär sein: Die Gruppen gehen auseinander, wenn das Projekt beendet ist. Das Web ermöglicht Schwärmen von Freiberuflern, sich zu organisieren.

Was Collaboration durch den Einsatz einfacher Werkzeuge zu leisten vermag, zeigt der Erfolg der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia. 350 bis 400 neue Beiträge werden derzeit täglich in die deutschsprachige Ausgabe eingestellt. Im August 2005 stehen somit 275000 Beiträge zur Verfügung. Es ist die zweitgrößte Sammlung des internationalen Projektes nach der englischsprachigen Wikipedia mit 600000 Artikeln. Auch die aktuelle Auszeichnung mit dem Grimme Online Award zeigt, wohin die Reise im Internet geht: Von jedermann editierbare Web-Inhalte (Wikis) gehören inzwischen zur alltäglichen Online-Praxis. Das Einsatzgebiet von Wikis reicht von unternehmensinternen Wissensdatenbanken bis hin zu Großprojekten wie dem Wiki-Wörterbuch "Wiktionary". Bei der BBC finden Anwender seit Ende 2004 in unternehmensinternen Wikis Projektunterlagen, Einsatzpläne oder Brainstorming-Notizen. Der Sender setzt seit kurzem auch rund 70 Weblogs ein. Die Kombination aus Blog-Einträgen und Lesekommentaren kann effektiver sein als eine klassische Redaktion, da die Korrektur bei einer falschen Information sehr viel transparenter ausfällt.

Paradigmenwechsel mit P-to-P

Bei aller gegebenen anthropozentrischen Vorsicht gegenüber einem Phänomen wie der Schwarmintelligenz, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass erfolgreiche Initiativen wie Peer-to-Peer-Konzepte oder erfolgversprechende Visionen wie das Semantic Web zentrale Grundeigenschaften der mit Schwarmintelligenz beschriebenen Verhaltensmuster erfolgreich adaptieren und damit einen Paradigmenwechsel ankündigen. (ws)