Das Produktivitaetsparadox in der IT Deutsche Dienstleister scheinen von IT nur wenig zu profitieren

10.03.1995

Von Arnold Picot und Ansgar Gruendler*

Das Problem ist fast so alt wie die Datenverarbeitung selbst: Wie wirkt sich der Einsatz von Informationstechnologie auf die Produktivitaet von Unternehmen aus? Waehrend US-Studien der 80er Jahre einen positiven Einfluss bestritten, trat Erik Brynjolfsson Anfang der 90er den Gegenbeweis an. Aufwendungen fuer DV, so der Professor an der Sloan School of Management des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT), bringen eine jaehrliche Pay-back-Quote von 50 Prozent. Allerdings scheint in der deutschen Dienstleistungsbranche dieser positive Zusammenhang bisher nicht spuerbar zu sein. Im Gegenteil, massive IT- Investitionen haben die Dienstleister weniger rentabel und weniger kampfbereit fuer andere Fronten gemacht.

Produktivitaet ist nichts anderes als das Verhaeltnis zwischen Input und Output. So einfach wie die Definition der Formel ist, so schwer sind Produktivitaetsgewinne beim Einsatz von Informationstechnologie nachzuweisen. Je mehr die zentrale automatisierte Datenverarbeitung der integrierten arbeitsplatzbezogenen Informations- und Kommunikationstechnik weicht, desto schwieriger wird es, IT-Investitionen und Nutzeffekte abzugrenzen und zuzuordnen.

Weil die Vernetzung der Arbeitsplaetze und Computer zu komplexen Auswirkungen auf Arbeitsablaeufe und Organisationsstrukturen fuehrt, macht eine anwendungs- beziehungsweise arbeitsplatzbezogene Wirtschaftlichkeitsbetrachtung immer weniger Sinn. Sie muss von einer umfassenden wirtschaftlichen Beurteilung der gesamten IT- Investitionen fuer das ganze Unternehmen abgeloest werden.

Die R+V-Versicherung, Wiesbaden, bietet beispielsweise bestimmte Dienstleistungen ueber die Filialen der Volks- und Raiffeisenbanken an. Seitdem koennen Sachbearbeiter in den Bankniederlassungen, deren IT-Infrastruktur vom RZ der Bank betreut wird, eine Anfrage an die Datenbank der R+V in Wiesbaden richten. Wer kommt nun fuer die Kosten dieser Anfrage auf, die Bank oder die Versicherung? "Noch komplizierter wird die Berechnung, wenn einer unserer Aussendienstmitarbeiter vom Arbeitsplatz eines Sachbearbeiters in einer Bankfiliale eine Abfrage taetigt", meint Gerd Ewerdwalbesloh, Leiter der Hauptabteilung Systembetrieb bei der R+V.

Auch wenn diese Kosten fuer beide Partner zu verschmerzen sein duerften, handelt es sich bei den IT-Ausgaben deutscher Unternehmen keineswegs um Peanuts. Obwohl die Preise fuer Informationstechnologie staendig fallen, haben sich die jaehrlichen Aufwendungen fuer Informations- und Telekommunikationstechnologie in Deutschland bei zirka fuenf Prozent des Brutto-Inland-Produkts eingependelt. Hierzulande werden derzeit rund

70 Milliarden Mark pro Jahr fuer die neuesten Informationstechnologien aufgewendet.

Dabei ueberrascht es nicht, dass der Dienstleistungssektor einen groesseren Anteil des Gesamtkapitals an Informationstechnologie gebunden hat als die produzierende Industrie. 1983 investierten die europaeischen Unternehmen fuer jeden Angestellten etwa 500 Dollar in Informationstechnologie. Seit dieser Zeit hat sich das dafuer ausgegebene Kapital pro Angestellten auf rund 1000 Dollar verdoppelt. Die massiven Technologie-Investitionen haben jedoch die Produktivitaet der Angestellten, die diese Informationstechnologien benutzen, nicht erhoeht. Dieser Sachverhalt wird in der Literatur als Produktivitaetsparadox der Informationstechnologie bezeichnet.

In den Vereinigten Staaten wurden in den 80er Jahren viele empirische Studien zur Auswirkung der Informationstechnologie auf die Gesamtunternehmung beziehungsweise die gesamte Oekonomie der Vereinigten Staaten veroeffentlicht. Einer der wichtigsten Meinungsfuehrer in dieser Debatte war und ist Steven Roach von Morgan Stanley & Co., der immer wieder von der Existenz des Produktivitaetsparadoxes der Informationstechnologie berichtete: "Obwohl amerikanische Unternehmen sehr viel in IT investiert haben, scheinen sich diese Aufwendungen nicht rentiert zu haben." Roach stand mit diesem Ergebnis nicht allein. In einer Vielzahl empirischer Untersuchungen wurden waehrend der 80er Jahre aehnliche Folgerungen praesentiert: Ein positiver Effekt zwischen Investitionen in Informationstechnologie und Produktivitaetssteigerungen existiert nicht oder ist zumindest nicht nachweisbar. Allerdings beziehen sich fast alle Studien auf aehnliche Daten, die zum grossen Teil in den 70ern und Anfang der 80er Jahre - also in der Vor-PC-Aera - erhoben wurden.

Erst Anfang der 90er Dekade griff MIT-Professor Brynjolfsson das Thema wieder auf. Bei gleicher Fragestellung kam er mit neuen Daten, die ihm von der CW-Schwesterpublikation "Computerworld" zur Verfuegung gestellt wurden, zu sensationell anderen Ergebnissen.

Konnte in keiner der vorangegangenen Studien ein positiver Effekt zwischen IT-Investitionen und Produktivitaet nachgewiesen werden, so kam Brynjolfsson zu dem Schluss, dass Investitionen in Informationstechnologien im Durchschnitt eine Pay-back-Quote von rund 50 Prozent pro Jahr haben. Bei herkoemmlichen Investitionen ermittelte er dagegen nur eine durchschnittliche Pay-back-Quote von etwa zehn Prozent pro Jahr. Letzteres deckt sich durchaus mit dem Resultat frueherer Untersuchungen. Damit sind Ausgaben fuer IT - obwohl sie nicht so nachhaltig wirken und in kuerzeren Zyklen anfallen - deutlich rentabler als herkoemmliche Investitionen.

In der MIT-Studie wurde grosser Wert auf die Unterschiede zwischen produzierender Industrie und Dienstleistungsbranche gelegt. Dieser Sektor wurde deshalb so genau unter die Lupe genommen, weil er in den 80er Jahren das nachlassende Geschaeft im produzierenden Gewerbe kompensieren sollte. Dieser Ausgleich wurde zwar mehr als erreicht, doch in den 90ern machte die Servicebranche den gleichen schwierigen und schmerzhaften Schrumpfungsprozess durch wie die herstellende Industrie in den 80ern.

Auf den ersten Blick scheinen die Dienstleister Deutschlands hohe Erwartungen erfuellt zu haben. Arbeiteten 1970 fast 43 Prozent aller Erwerbstaetigen in Deutschland im Dienstleistungssektor, waren es 1992 bereits 59 Prozent.

Aber allein das starke Wachstum der Beschaeftigungsraten im Dienstleistungssektor ist kein Grund zum Feiern. Bereits seit Mitte der 70er Jahre erreicht er nur noch marginale Produktivitaetsverbesserungen.

Die Erklaerung fuer die Notwendigkeit von Restrukturierungen ist einfach. Bis vor kurzem waren die Dienstleistungen vom Wettbewerb abgeschirmt und kaum gezwungen, Leistungsschwaechen wie Ueberinvestitionen in Informationstechnologie und chronische Ineffizienz auszumerzen. Beguenstigt durch Regulierung und eine geringe Anzahl auslaendischer Wettbewerber, leisteten sich die Serviceanbieter ueberbezahlte Angestellte, sahen der mangelnden Rentabilitaet ihrer IT-Investitionen unbekuemmert zu und gaben sich mit einer stagnierenden Produktivitaetsrate zufrieden. Jetzt bringen Deregulierung und auslaendischer Wettbewerb neue Marktteilnehmer ins Spiel, die bisher verdeckte Schwaechen gnadenlos ausnutzen.

Obwohl Wirtschaftswissenschaftler seit langem die Beziehung zwischen wachsender Kapitalausstattung und Produktivitaetsverbesserung erkannt haben, hat sich dieses Verhaeltnis noch nicht eindeutig auf die Dienstleistungen uebertragen lassen. Die massiven Technologie-Investitionen haben in vielen Faellen die Produktivitaet nicht nur nicht erhoeht, sondern sie haben viele Dienstleistungsunternehmen weniger rentabel und weniger kampfbereit fuer andere Fronten gemacht.

Kostenstruktur hat sich eigenartig gewandelt

Der Nutzen der Informationstechnologie fuer die Produktivitaet ist besonders bei administrativen Anwendungen schwer erfassbar. So ging das scheinbar attraktive, aber auch sehr kostenintensive Konzept des voll vernetzten Bueros jahrelang nicht auf. Ein vernetztes Buero kann den Fluss der elektronischen Kommunikation erleichtern, aber erst die kreativen Anwendungen mit hoher Wertschoepfung ermoeglichen deutliche Produktivitaetsverbesserungen. Ein erfolgreicher Einsatz von Informationstechnologie ist vor allem dann gegeben, wenn die Technologie direkt zur Dienstleistung beitraegt wie bei Reservierungssystemen fuer Flugreisen oder Hoteluebernachtungen.

Durch die gestiegenen Technologie-Investitionen hat sich die Kostenstruktur des Dienstleistungssektors eigenartig gewandelt. Waehrend Mitarbeiter weiterhin eingestellt und entlassen werden koennen, sind die Serviceanbieter nun zu staendigen Ausgaben fuer den Unterhalt der bluehenden und mittlerweile fest verwurzelten Technologie-Infrastruktur gezwungen. De facto sieht es so aus, dass die Unternehmen heute statt von variablen von fixen Kosten dominiert werden und dadurch ihre Flexibilitaet opfern, ohne daraus groessere Produktivitaetsvorteile zu ziehen.

Diese erreichen nur solche Unternehmen, die den Technologie- Einsatz zu organisatorischen Verbesserungen nutzen, etwa dem Wandel von der funktions- zur geschaeftsprozessorientierten Ausrichtung des Unternehmens. Zum Beispiel hat John Hancock, ein Anbieter von Investment-Fonds in den Vereinigten Staaten, in einem kompletten Geschaeftsbereich das papierlose Buero in Form einer Workflow-Anwendung realisiert. Jedes eingehende Schriftstueck wird gescannt und, wenn moeglich, automatisch einem Kunden zugeordnet. Der Geschaeftsvorfall wird dann in das elektronische Postfach des zustaendigen Mitarbeiters uebertragen. Dieser kann nun mit Hilfe des Zugriffs auf das Schriftstueck (Image-Copy auf einem optischen Speicher) und auf die Kundendatei, in der die komplette Historie des Kunden abgelegt ist, den Geschaeftsvorfall bearbeiten. Nach Beendigung seines Arbeitsschrittes startet er einen zentralen Druck- und Versendeauftrag oder schickt den Geschaeftsvorfall mit der elektronischen Post zum naechsten Sachbearbeiter.

Super-Highways und moderne Telekommunikationssysteme ermoeglichen die Verlagerung von Buero- zu Heimarbeitsplaetzen, wodurch sich langfristig weitreichende Veraenderungen in unserem Gesellschaftssystem ergeben. Diese innovativen Anwendungen sind in der deutschen Dienstleistungsindustrie noch in der Minderzahl, so dass deren Produktivitaetswachstum hinter dem der produzierenden Industrie zurueckbleibt.

Inwieweit die Ergebnisse von Brynjolfsson auch in Deutschland nachweisbar sind, soll eine Studie des Instituts fuer Organisation an der LMU in Zusammenarbeit mit der COMPUTERWOCHE zeigen.