Problem 2000/Die eigene DV saniert zu haben, entschärft die Milleniumbombe nicht

Das Problem 2000 zwischen Herstellern und Zulieferern

31.10.1997

Unternehmen werden sensibler für das Problem 2000. Gleichwohl erkennen DV-Verantwortliche und Manager vielfach nicht die wahre Dimension der IT-Umstellung. Sie beschäftigen sich vorrangig mit der Frage, mit welchem technischen Verfahren und zu welchem Preis sich die Transformation in vierstellige Jahresfelder erledigen läßt.

Der Status quo von Jahr-2000-Projekten ähnelt sich in den meisten Unternehmen. Bestenfalls wurden Projektteams zusammengestellt, Verantwortlichkeiten festgeschrieben und Programmbestände erfaßt. Die Entscheidung über einen Projektstart bremst jedoch noch ein weiteres Phänomen: Die Umstellung gilt allenthalben einzig als Thema für DV-Stäbe.

Sie wäre besser auch ein Thema des Topmanagements. Nur die oberste Leitungsebene eines Unternehmens hat realistisch gesehen die Möglichkeit, die über den eigenen Betrieb hinausgehenden Gefahren des Problems zu erkennen. Das wiederum ist Voraussetzung zum Handeln.

Moderne Unternehmen sind keine monolithischen Gebilde, sondern - in DV-Deutsch - offene Systeme mit einer Vielzahl von Schnittstellen nach außen. Eine Konzentration auf die zum Teil erheblichen Probleme in eigenen Anwendungsbeständen mißachtet die Tatsache, daß Hersteller mit ihren Zulieferern enorme Datenmengen austauschen. Aus dieser Vernetzung entstehen wirtschaftliche Abhängigkeiten, deren Wirkung weit über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinausgeht.

Die Automobilindustrie beschäftigte in Deutschland im letzten Jahr 361000 Arbeitskräfte. Abhängig von den wenigen Markenherstellern waren aber auch noch 255000 Arbeitsplätze bei direkten Zulieferern plus 44000 bei Firmen, die Aufbauten, Anhänger oder Container fertigen. Außerdem leben vorgelagert Firmen mit fast einer Million Beschäftigten, die beispielsweise Rohmaterialien und Werkzeuge herstellen, von Aufträgen der für "Made in Germany" stehenden Kfz-Branche. Die Zahl der Arbeitsplätze beläuft sich somit auf insgesamt 1,6 Millionen.

Abhängigkeitsverhältnisse gibt es natürlich auch in anderen Branchen. Um nur einige Beispiele zu nennen: die Beziehung von Banken und Firmenkunden, Versicherern und Versicherten, Einzelhandel und Lieferanten oder gar die Bedeutung von Transportunternehmen für die Grundversorgung. Alle tauschen Daten miteinander aus - jeden Tag und in Massen.

Es hat also kaum ein Unternehmen hierzulande "sein" Problem 2000. Ziel eines Umstellungsprojekts darf folglich nicht nur die IT-Modifikation des eigenen Unternehmens sein. Erst die Bereinigung sämtlicher Gefahrenquellen im Netz der Partnerschaften kann den beteiligten Betrieben die notwendige Sicherheit geben.

Das setzt eine gründliche Analyse des gesamten Datenaustauschs mit anschließender Identifizierung möglicher Schwachstellen voraus. Mithin gewinnt das Problem 2000 an zusätzlicher Brisanz, solange Unternehmensleitungen die gegenseitigen Abhängigkeiten in den Wertschöpfungsketten übersehen.

Das Beispiel großer Automobilhersteller spiegelt die Dimensionen wider, um die es hier geht. Mit der Reduzierung der eigenen Fertigungstiefe ist die Zahl der Zulieferer kontinuierlich gestiegen. So gehören zu den großen deutschen Autoherstellern inzwischen jeweils mehr als 1000 Zulieferer. Gleichzeitig wurden Just-in-time-Lieferungen verbessert. VW rühmt sich zu Recht, hierbei weltweit führend zu sein. Die Gefahren liegen jedoch genau in diesem Punkt.

Erfahrungen aus Umstellungsprojekten belegen, daß nur in Ausnahmefällen Unternehmen ihre Abhängigkeit von anderen Firmen erkennen. Führende Technologie-Analysten sagen voraus, daß über 15 Prozent der Organisationen den Jahr-2000-Wechsel nicht überleben dürften. Das wären bei einem Automobilhersteller also mindestens 150 Zulieferer. Fällt jedoch bei modernen Produktionsprozessen auch nur ein Lieferant weg, stehen die Bänder im Hauptwerk still.

Der Lkw-Streik in Frankreich ist dafür ein Beispiel: Obwohl er nur einige Tage dauerte, hat er die Produktionsabläufe bei Volkswagen stark beeinträchtigt. Nur durch große Anstrengungen und ein hohes Maß an Flexibilität sowie eine Reihe von Ad-hoc-Maßnahmen ließ sich ein Desaster verhindern.

Diese Abhängigkeiten sind nicht einseitig, sondern bilateral. Viele Zulieferer machen einen beträchtlichen Teil ihres Umsatzes mit nur einem Abnehmer. Umgekehrt sind manche Bauteile nicht so einfach durch Zulieferungen eines anderen Produzenten zu ersetzen.

Es gibt drei Szenarien, die zum Einbruch des Umsatzes und demzufolge zur Gefährdung der Existenz von Zulieferern führen können.

Erster Fall: Aufgrund eines Jahreszahlenfehlers beim Hersteller versagen dessen Produktionssysteme. Dies könnte beispielsweise durch die irrige Annahme der Computer geschehen, daß die Fließbandproduktion seit 100 Jahren nicht mehr gewartet wurde, was einen Notstopp aller Produktionsroboter auslöst. Der direkte Schaden wäre in diesem Fall ein Stillstand der Bänder. Ein indirekter Schaden wäre dagegen, daß Produkte mittelständischer Zulieferbetriebe nicht mehr abgenommen würden.

Zweites Beispiel: Ein Zulieferer kann nach einem Produktionsausfall aufgrund eines Jahr-2000-Problems im eigenen System den Hersteller nicht mehr beliefern. Dadurch kommt es bei diesem zum Stillstand der Bänder, die Folgen für die übrigen Zulieferer sind bekannt.

Ein dritttes Szenario: Durch unzureichende Vorbereitung Dritter stehen die gewohnten Basisleistungen nicht zur Verfügung. Darunter fallen beispielsweise die fehlende Stromversorgung durch Energieversorger, zusammengebrochene Kommunikationsverbindungen der Telefongesellschaften oder Fehler im Zahlungsverkehr über Banken.

Mittelständische Betriebe sind demnach ganz wesentlich von dem einschlägigen Problem betroffen, die Auswirkungen sind in Einzelfällen existenzbedrohend. Selbst Zulieferer, die bereits ordnungsgemäß auf eine Jahr-2000-konforme Datumsverarbeitung umgestellt haben, sind zunächst indirekt, letztlich jedoch direkt betroffen. Probleme des Jahr-2000-Wechsels bei nur wenigen Großunternehmen können so zumindest theoretisch eine hohe Anzahl mittelständischer Unternehmen zur Passivität zwingen.

Dabei haben Hersteller und Zulieferer verschiedene Handlungsoptionen, um sich vor dem befürchteten Computer-Crash abzusichern. Um nicht außer Bauteilen durch die DV-Hintertür ein Problem geliefert zu bekommen, stoßen die großen Markenhersteller ihre Lieferanten an, Maßnahmen gegen das drohende Desaster zu ergreifen.

Das Topmanagement muß konsequent Druck machen

Diese Initiative kann höchst unterschiedlich ausfallen. Den Grad der Einflußnahme sollte das Management des Herstellers vorausschauend festlegen. Bloße Hinweise auf die Bedeutung des Problems oder Empfehlungen einzelner Werkzeuge zur automatisierten Umstellung sind unterstützende Aktionen, mehr aber nicht.

Wenn ein Hersteller hingegen von den Zulieferern Einblick in entsprechende DV-Projekte, Umstellungsgarantien oder gar Haftungsübernahmen für Produktionsausfälle verlangt, könnte sich das negativ auf die Beziehungen zwischen den Partnern auswirken. Eine Lösung, die nachhaltig Druck auf die Zulieferer ausübt und diese gleichzeitig bei ihrem Umstellungsvorhaben unterstützt, scheint der erfolgversprechende Mittelweg zu sein.

Wäre es realistisch, daß umgekehrt Zulieferer die Hersteller zur Lösung der Jahr-2000-Probleme auffordern, damit diese auch noch in Zukunft Leistungen des Zuliefererbetriebs abnehmen können? Damit riskieren sie, ihre Hauptabnehmer zu verlieren. Trotz aller Bedenken sollten mittelständische Betriebe darauf drängen, daß auch der Hersteller die Datenverarbeitung in den eigenen Rechenzentren auf problemgerecht umstellt.

Am wirkungsvollsten ist es dagegen, wenn die Initiative von den großen Herstellern ausgeht. Nur diese haben einen Überblick über das Wirtschaftsgeflecht in ihrem Wirkungskreis und aufgrund ihrer Position die Macht, die Abgabe von Umstellungsgarantien einzufordern. Zulieferer sollten wiederum ihre Subunternehmer anstoßen.

Der Top-down-Weg ist der von Mächtigen gegenüber Unterlegenen. Dieses Vorgehen mag manchem Zeitgenossen Bauchschmerzen bereiten oder unangenehm sein. Es entspricht aber den Gegebenheiten und ist angesichts des Ernstes der Lage angebracht. Macht zu haben bedeutet auch, Verantwortung zu tragen und sich dieser zu stellen. Angesichts der Macht der Banken ist es nur konsequent, von ihnen mehr Engagement und Druck zur Lösung des Problems 2000 zu fordern.

Einige Hersteller verlangen von ihren Lieferanten schriftliche Erklärungen, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt das Problem 2000 gelöst zu haben. In den vergangenen Wochen sind einige deutsche Automobilhersteller dazu übergegangen, Nachweise einer Umstellung zu fordern. Diese Entwicklung läßt hoffen.

Das Bedürfnis der Hersteller nach Sicherheit gegen induzierte Produktionsausfälle könnte auch noch andere hoffen lassen. Auffällig ist jedoch, daß nur wenige spezialisierte Beratungshäuser diesen Herstellern anbieten, die Qualitätssicherung durch Zertifizierung der verbundenen Zulieferer zu übernehmen. Dies geschieht in der Regel durch ein "Quick Audit", in dessen Rahmen ein Beraterteam das Gefahrenpotential beim betroffenen Unternehmen einschätzt.

Hier zeigen schlechte Zeugnisse Wirkung. Ausschließlich darauf zu vertrauen, daß Zulieferer, Anlagenbauer, Werkzeugmaschinenhersteller und - vor allem - Softwarelieferanten rechtzeitig die Funktionsfähigkeit ihrer Produkte auch noch im Jahr 2000 sicherstellen, ist fahrlässig und nicht zu erwarten.

Angeklickt

Die autarke Firma gibt es nicht, unsere Wirtschaft ist vielmehr ein Netzwerk. Von den wenigen deutschen Automobilherstellern und ihren Zulieferern in Deutschland hängen direkt und indirekt weit mehr Arbeitsplätze ab als sie selber bieten. Ähnlich enge Verzahnungen mit ebenfalls weitreichenden Auswirkungen finden sich in anderen Branchen, die alle DV-technisch miteinander verknüpft sind. Ohne eine gründliche Analyse der Schwachstellen in den entsprechend weit verzweigten DV-Netzen sind die meisten Umstellungsprojekte unvollständig und demzufolge sinnlos. Doch wie lassen sich bessere Ergebnisse erreichen?

Lars Watermann ist Mitgeschäftsführer der Compartner GmbH in Düsseldorf.