System-Management/ERP-Software entwickelt sich zur Commodity

Das Internet macht kurzen Prozess

14.04.2000
Immer mehr Unternehmen nutzen das Internet, um mit Partnern in aller Welt Geschäfte abzuwickeln. Dafür werden neue Beschaffungs-, Vertriebs- und Lieferprozesse erforderlich. August-Wilhelm Scheer* gibt einen Überblick über die Veränderungen.

In den vergangenen Jahren konnten sich Geschäftsprozesse zum zentralen Betrachtungsgegenstand organisatorischer Umgestaltungen herausbilden. Zu ihrer effizienten Unterstützung ist eine Reihe von Informations- und Kommunikationstechnologien wie Workflow- und ERP-Systeme entstanden. Seit einiger Zeit spielt das Internet eine wachsende Rolle und ermöglicht neuartige Geschäftsmodelle, die auch aber eine Neukonzeption von Softwaresystemen erfordern und die Anwendungslandschaft in den Unternehmen verändern.

Das Internet ermöglicht neue digitale Produkte und Geschäftsprozesse, wobei sich Produkt- und Prozessinnovationen gegenseitig beeinflussen. Mit Macht drängen immer mehr Unternehmen ins Internet und entwickeln innovative E-Business-Modelle für digitale Produkte und die Interaktion mit Lieferanten, Partnern und Geschäftskunden. Über zwei Drittel aller europäischen Unternehmen geben an, dass sie E-Business in ihr strategisches Konzept integrieren wollen. Reihenweise werden derzeit neue Branchenmärkte im Cyberspace eröffnet. Mehr als 240 virtuelle Marktplätze existieren bereits in den USA, in Deutschland war man bislang noch etwas zurückhaltender. Doch die Kluft zwischen Europa und den USA dürfte sich bald schließen.

Die Unternehmen setzen hohe Erwartungen in die Umsetzung einer Internet-basierten Geschäftsstrategie. Dabei gehen die Möglichkeiten weit über den Online-Handel hinaus. Für Business-to-Business-Anwendungen wird ein zehnmal größeres Umsatzvolumen vorausgesagt als für den klassischen Internet-Verkauf an Endkunden. Denn E-Business verspricht enorme Einsparungen beispielsweise in der Auftragsbearbeitung und im Einkauf. Sinkende Kommunikationskosten ermöglichen eine stärkere Arbeitsteilung zwischen den Unternehmen, Produktangebote und Informationen erhalten eine globale Reichweite.

Eine erfolgreiche E-Business-Strategie bedingt erstens, dass die Geschäftsprozesse den Anforderungen des elektronischen Geschäftsverkehrs angepasst werden. Nur so lassen sich die Potenziale ausschöpfen und Fehlinvestitionen verhindern. Beispielsweise kann ein Online-Kaufhaus nur dann erfolgreich sein, wenn es neben der Auftragsbearbeitung auch die Logistikprozesse der materiellen Güterströme entsprechend verändert. Ansonsten wird die Firma nicht in der Lage sein, Kundenwünsche schnell und flexibel zu erfüllen.

Zweitens erfordert der Aufbau unternehmensübergreifender Beziehungen andere informationstechnische Lösungen. Zwar bieten viele Netzwerkbetreiber und Softwareunternehmen spezifische Internet-Systeme an. Doch die Formel E-Business gleich IT geht nicht auf. Vielmehr muss es heißen: E-Business gleich IT plus Wissen. Entscheidender als die Technik ist das Wissen um die betriebswirtschaftlichen Potenziale und Auswirkungen des Technikeinsatzes.

Das gilt auch und gerade für betriebswirtschaftliche Standardlösungen. Die ERP-Systeme werden sich ähnlich weiterentwickeln wie vor rund fünfzehn Jahren, als man die finanzwirtschaftlichen Anwendungen um die operativen Applikationen für Beschaffung, Vertrieb und Produktion erweiterte. Damals stellte man fest, dass die relevanten Daten für die Buchführung und das Controlling aus den Logistikprozessen kommen und deshalb integriert werden müssen. Jetzt führt man den Integrationsgedanken fort, indem man die Geschäftsprozesse zu den externen Zulieferern und Geschäftskunden hin verlängert und deren Systeme einbezieht.

Häufig wird dabei übersehen, dass das Internet drastischere Auswirkungen auf die Geschäftsabwicklung hat als frühere Technologiesprünge. Als die Client-Server-Architektur die Großrechner ablöste, konnten ERP-Anbieter noch ihre bewährten inhaltlichen Konzepte übernehmen. Heute ist eine völlige Neuausrichtung erforderlich, die über eine technologische Aufrüstung hinaus die Entwicklung moderner Inhalte und Modelle erfordert. Neue Ansätze des Wissens- und Content-Managements gewinnen deshalb an Bedeutung.

Im Mittelpunkt stehen veränderte Geschäftsformen zwischen Unternehmen sowie zwischen Unternehmen und Konsumenten. Es reicht allerdings nicht aus, bestehende Abläufe effizienter zu gestalten und zu unterstützen. Wer in der digitalen Welt erfolgreich sein will, muss den Erwartungen von Kunden und Geschäftspartnern in Bezug auf Preise sowie Antwort- und Lieferzeiten gerecht werden. Wo E-Mail-Aufträge nicht bearbeitet oder aktualisiert werden, ist die Konkurrenz nur den sprichwörtlichen Mausklick entfernt.

Daraus leiten sich hohe Anforderungen an die Kernprozesse und Anwendungen ab. Bevor Unternehmen die Implementierung zeitgemäßer Softwaresysteme ins Auge fassen, sollten sie ihre eigenen Geschäftsabläufe für die organisatorische und technische Beherrschung abbilden. Wichtig hierbei ist vor allem die Definition und Verwaltung von Schnittstellen für die kontrollierte Anbindung an das Internet, damit sich die eigenen Prozesse mit den Systemen externer Kunden und Lieferanten verknüpfen lassen. Besonders, wenn man an komplexe Prozessketten wie Supply-Chain-Management oder Customer-Relationship-Management denkt, ist leicht einzusehen, dass gerade die Integrationsanforderungen ein sauberes Design der Geschäftsprozesse voraussetzen.

Im Business-to-Consumer-Bereich trägt beispielsweise der Kunde mit der Initiierung eines Auftrags über das Internet selbst die Stammdaten in ein elektronisches Auftragsformular ein. Diese Daten werden automatisch mit den Inhalten der Unternehmensdatenbank abgeglichen, ohne dass ein Sachbearbeiter die Eingaben von einer schriftlichen Vorlage übernehmen oder mit Einträgen in der Datenbank abgleichen muss.

Die Umsetzung der Geschäftsprozesse erfolgt mit IT-Werkzeugen, die auf das Internet ausgerichtet sind. Um die Aufträge über Vertriebs-, Beschaffungs-, Fertigungs- oder Abrechnungssysteme einheitlich steuern zu können, setzt man Workflowsysteme ein. Sie übernehmen die Aufgabe, Dokumente von einem IT-Arbeitsplatz zum System des nächsten Arbeitsschritts elektronisch zu versenden. Auf diese Weise lassen sich vom Kunden im Internet eingegebene Auftragsdaten ohne erneute Übertragung in ein internes System direkt bearbeiten. Für die konkrete Bearbeitung werden Anwendungsmodule von ERP-Lösungen aufgerufen.

Die Client-Server-Welt muss erweitert werdenFür E-Business-Anwendungen müssen ERP-Systeme zunächst über eine Internet-Anbindung verfügen. Die Client-Server-Architektur wird hierbei erweitert, damit sie eine große Zahl von Internet-Benutzern bewältigen kann. Dreistufige Client-Server-Architekturen sind vorteilhaft, weil dabei bereits mehr Funktionalität auf dem Server liegt und der PC oder Thin-Client nur noch die Präsentation unterstützt. Bei SAPs "Mysap.com" kombiniert der Internet-Transaction-Server die Internet-Technologie mit dem R/3-System und sorgt für einen sicheren Zugriff auf alle SAP-Transaktionen. Ein zusätzlicher Web-Server verbindet die Clients mit betriebswirtschaftlichen Anwendungen.

Neben der Datenintegration spielt die Schnittstelle zum Benutzer im E-Business eine sehr viel größere Rolle als früher. An die Stelle der Profinutzer treten Gelegenheitsanwender, die von der IT in der Regel wenig verstehen. Die Bedienungsoberfläche muss deshalb selbsterklärend sein und sich intuitiv anwenden lassen.

Die größere technische Herausforderung stellt jedoch die Integration mit den Partnersystemen dar, die häufig über ein Marketplace-Portal erfolgt. Ein solches Portal ist ein Treffpunkt für Unternehmen und stellt sicher, dass die Geschäftsvorfälle inhaltlich richtig und zuverlässig abgewickelt werden. In den Aufbau solcher virtuellen Marktplätze investieren ERP-Anbieter gegenwärtig hohe Summen. Auf der andern Seite können Mitarbeiter über Workplace-Portals auf interne und externe Wissensquellen zugreifen, um ihre Aufgaben zu erledigen. Die einheitliche Sicht auf Daten - etwa auf die Informationen zu einem Kunden - sind ein wichtiger Faktor, damit man im Internet-Zeitalter schnell reagieren und personalisierte Produkte oder Services anbieten kann.

Um einiges komplexer als B-to-C-Anwendungen sind B-to-B-Beziehungen, bei denen es um die Koordination entlang der ganzen Wertschöpfungskette geht. Manche Unternehmen bilden Business-Webs, um ihre eigene Kernkompetenzen mit denen der Partner zu verknüpfen. Hier kommt es auf Gesamtlösungen mit offenen Schnittstellen an, die ein reibungsloses Zusammenspiel der Komponenten sicherstellen. Zwar wird die flexible Montage von Softwaremodulen im E-Business-Bereich an Bedeutung gewinnen, doch bei wertschöpfungsorientierten Anwendungen muss es einen Anbieter geben, der die Qualität und Zuverlässigkeit der Prozessunterstützung gewährleistet.

B-to-B beginnt damit, dass interne Leistungen auf Lieferanten übertragen werden. Beispielsweise werden Bestandskontrollen nicht mehr von der eigenen Lagerverwaltung geleistet, sondern der Lieferant selbst ist dafür verantwortlich, dass die ermittelte Sicherheitsmenge seiner Ware nicht unterschritten wird. Wenn die Prozessketten über mehrere Partner hinweg geknüpft sind, entstehen neue, effiziente Leistungsverbünde, die den direkten Zugriff auf Fremdsysteme voraussetzen. Bei mehrstufigen Prozessketten wie Supply-Chain- oder Customer-Relationship-Management, die von der Integration der Abläufe verschiedener Unternehmen genährt werden, kann man sich die Komplexität solcher Internet-Applikationen gut vorstellen.

Das Modul Bestellung über das Internet in Mysap.com beispielsweise erlaubt dem Kunden, sich mit dem R/3-System des Lieferanten zu verbinden und Artikel, Werk, Menge und Wunschliefertermin für einen Auftrag festzulegen. Nach einer Konsistenzprüfung wird dem Kunden das Bereitstellungsdatum und die Menge bestätigt. Hierfür ist beispielsweise die Anbindung der Lager- und Fertigungssysteme erforderlich. Zusätzlich lassen sich Informationen über Artikel im digitalen Produktkatalog bereitstellen und Varianten von Produkten selbst konfigurieren. Für den Kunden besteht auch jederzeit die Möglichkeit, den Auftragsstatus über das Netz zu verfolgen. Die umfassende Information des Käufers und seine Selbstbedienung stehen im Vordergrund von E-Business.

E-Business: Selbstbedienung der KundenIm Zentrum der E-Business-Anwendungen steht also nicht die Technik, sondern der Inhalt. Softwaremodelle erfahren dabei eine ähnliche Entwicklung wie einst die Hardware: Sie werden zu Commoditys. Ein Indikator für diese Entwicklung ist der Preisverfall, der bei Standardsoftware zu beobachten ist. Die Möglichkeit, Warenwirtschaftssysteme oder das Ressourcen-Management von einem Applikations-Service-Provider (ASP) quasi aus der Steckdose zu beziehen, dürfte diesen Trend forcieren. Ohne die enge Zusammenarbeit mit den Anwendern lassen sich neue Geschäftsmodelle allerdings nicht entwickeln. Die inhaltliche Kompetenz, das Branchen-Know-how und die Kenntnis der Geschäftsprozesse werden für Anwender und Anbieter zum Erfolgsfaktor.

In Zukunft wird man sich überlegen, inwieweit neue Buchhaltungs- und Controlling-Systeme erforderlich sind. Bei modernen Logistikkonzepten beispielsweise bleibt der Lieferant so lange Besitzer seiner Ware, bis die Teile auch tatsächlich in das Endprodukt eingebaut sind. Das bedeutet, dass die abgelieferten Fertigprodukte noch einmal in der Stückliste aufgelöst werden, damit sich daraus die Rechnungsstellung ableiten lässt. So würde dann auch das Rechnungswesen eine neue Philosophie erhalten.

Zum ersten Mal ist es also nicht die Technologie alleine, welche die Anwendungsentwicklung treibt. Die Revolution wird von den neuen organisatorischen Möglichkeiten ausgelöst, die zu innovativen Geschäftsmodellen führen und die Wirtschaft nachhaltiger verändern werden, als dies je zuvor in der Geschichte der Informationstechnik geschehen ist.

* Prof. A. W. Scheer ist Leiter des Instituts für Wirtschaftsinformatik (IWI) an der Universität Saarbrücken sowie Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender der IDS Scheer AG.

Abb.: Die Informations- und Einkaufsprozesse verändern sich durch das Web, am Ende verschwindet sogar das materielle Produkt Musik-CD. Quelle: Scheer