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Zehntausende bei Demos

Das Internet geht auf die Straße

13.02.2012
Das gab es noch nie: Das juristische Spezialthema Urheberrecht politisiert die Massen.

Viele junge Leute gehen zum ersten Mal zu einer Demo. Jetzt ist die Politik gefragt, einen neuen Rahmen für den Umgang mit dem Copyright im Internet zu schaffen.

Partystimmung vor dem Justizministerium: "Wer nicht hüpft, der ist für ACTA, hey, hey!" Alle Demonstranten springen auf und ab, gegen die eisige Kälte und gegen Bestrebungen, ihren Lebensstil im Internet einzuengen. So sehen sie den Vertrag mit dem sperrigen Namen Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA). Der sieht eigentlich nicht viel anderes vor, als das geltende Urheberrecht mit wirksamen Werkzeugen für ihre Durchsetzung zu stärken.

Und zwar auch im Internet, wo Musik, Filme, Bücher und Software verbreitet werden, oft ohne Respekt für das Recht auf geistiges Eigentum. Dessen Wurzeln reichen mehr als 200 Jahre in die Zeit der Aufklärung zurück, lange vor der Digitalisierung aller Inhalte und vor der globalen Vernetzung.

"Wir sind alle Kriminelle", steht auf einem Schild, das Jugendliche an der Spitze der Berliner Demonstration mit sich führen. Ebenso ironisch skandieren andere: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Pornos klaut!" Viele sind zum ersten Mal in ihrem Leben bei einer Demo dabei.

"Hier demonstriert die Jugend für unsere digitale Zukunft", twittert der Netzaktivist Markus Beckedahl kurz nach seiner Ansprache bei der Auftaktkundgebung vor dem Roten Rathaus. Er selbst gehöre ja schon zu den Ältesten, erkennt der 35-jährige Vorsitzende des Vereins Digitale Gesellschaft, der mit zu den Protesten aufgerufen hat.

"Das Internet ist aus dem Leben der meisten jungen Menschen nicht mehr wegzudenken", sagt Beckedahl, der sich auch als Sachverständiger der Internet-Enquete-Kommission des Bundestags mit einer Reform des Urheberrechts beschäftigt. Jede Bedrohung dieser Kommunikationswelt und neuer Formen der Mediennutzung werde als Angriff auf das eigene Leben aufgefasst. ACTA zementiere das traditionelle Urheberrecht, anstatt das Recht den veränderten Gegebenheiten im Netz anzupassen.

Nie zuvor hat ein politisches Thema in derart kurzer Zeit so viele Menschen mobilisiert wie ACTA. Über lange Zeit hinweg wurde das Abkommen gegen Produktpiraterie nur im Kurzmitteilungsdienst Twitter diskutiert - ohne Beachtung der breiten Öffentlichkeit. Aber auch in gängigen Internet-Foren etwa für Computerspieler wurden die vier Buchstaben zum Inbegriff einer Bedrohung der eigenen digitalen Lebenswelt. "ACTA wird in Deutschland nicht durchkommen", schrieb am Samstag ein Gamer in der "World of Players". "Auch wenn unsere Politiker wenig Ahnung vom Internet haben, wo wissen sie doch, was sie sich leisten können."

Die Demonstrationen in rund 60 deutschen Städten scheinen dem Bremer Wissenschaftler Peter Kruse Recht zu geben, der die Bundestagsabgeordneten der Internet-Enquete schon im Juli 2010 warnte: "Was die Menschen im Moment merken, ist, dass man über die Netze mächtig werden kann." Lange Zeit sei es im Netz vor allem um Information und Selbstdarstellung gegangen, jetzt gebe es Bestrebungen, sich zusammenzuschließen und gemeinsame Interessen zu verfolgen. "Wir bekommen einen extrem starken Bürger", sagte Kruse und empfahl den Politikern, "ein Gefühl für die Resonanzmuster der Gesellschaft" zu entwickeln.

Die für ACTA federführend zuständige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ist dem Rat offenbar gefolgt. Noch Ende Januar sagte sie, dass sie das Abkommen genau geprüft habe und die Bedenken der Gegner nicht teilen könne. Einen Tag vor den Demonstrationen aber gab das Auswärtige Amt bekannt, dass Deutschland ACTA zunächst nicht unterzeichnen werde, weil es Bedenken der Justizministerin gebe.

Hellhörig geworden sind die Parteien. Grüne, Linke und Piraten zeigen auf der Berliner Demo ihre Fahnen. Dort spricht sich der Grünen-Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele für das Modell einer Kultur-Flatrate aus: Die Urheber geistiger Werke sollen Geld aus einem großen Topf bekommen, in das alle Internet-Nutzer einzahlen, etwa über eine Pauschalabgabe zum Internet-Zugang, die über die Provider erhoben werden könnte.

Der netzpolitische Sprecher der Grünen, Malte Spitz, sieht in der großen Beteiligung an den Protesten ein Zeichen für grundlegende Veränderungen: "Wir sind mitten drin im Wandel unserer politischen Kultur." Die Demonstrationen seien nicht Ausdruck abstrakter Ängste, sondern der Sorge um konkrete Folgen der Politik. "Dass diese erfolgreichen Proteste innerhalb von zwei Wochen kollaborativ im Internet vorbereitet und beworben wurden, zeigt die Bedeutung und Möglichkeiten des Internets für unser demokratisches Zusammenleben." Diesem Wandel dürften sich Politiker und Parteien nicht verschließen.

Auch in München, Düsseldorf, Stuttgart und vielen weiteren Städten hüpfen die Demonstranten gegen ACTA und gegen die Kälte an - zur selben Zeit gehen auch in anderen europäischen Ländern Internet-Nutzer auf die Straße, vernetzen sich über Twitter mit den Gleichgesinnten in Deutschland. Netzaktivisten wie Beckedahl erwarten: "Die Proteste, wie wir sie gerade sehen, sind sicher erst der Anfang, wenn die Politik nicht eine bessere Netzpolitik macht." (dpa/tc)