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Das ERP-Imperium schlägt zurück

30.03.2001
Das E-Business verändert die Grundstrukturen der Software. Orientierte sich die Funktionalität traditioneller betriebswirtschaftlicher Komplettlösungen primär an der Innensicht von Unternehmen, steht nun die Integration externer Beziehungen jeglicher Art auf dem Tapet.

Von Achim Born*

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Für Nigel Rayner von Gartner stand schon im vergangenen Jahr fest: Das traditionelle Modell der Enterprise Resource Planning (ERP) ist tot! Dessen dominierende Stellung in der betrieblichen Anwendungslandschaft neige sich dem Ende zu. Nach dem erfolgreich gelösten Jahr-2000-Problem schien denn auch tatsächlich in den ersten neun Monaten des Jahres dem ERP-Markt die Luft auszugehen. Während die Umsatzzuwächse bei den traditionellen ERP-Anbietern sehr bescheiden ausfielen, verzeichneten Soft-wareschmieden mit Lösungen für E-Business, Supply-Chain-Management (SCM) oder Customer-Relationship-Management (CRM) enorme Umsatzsprünge und rasante Börsenkurszuwächse. Der Verlust der Eigenständigkeit von Baan, JBA, Marcam und SSA tat ein Übriges, um das Vertrauen in die Zukunft des ERP nachhaltig zu schädigen.

Überraschend gute Jahresergebnisse

Schließlich wird der Markt für Unternehmensanwendungen laut AMR Research trotz eines starken Wachstums von 27 Milliarden Dollar in 1999 auf 78 Milliarden Dollar in 2004 kräftig durchgeschüttelt. Denn die Gewichtung der einzelnen Softwaresegmente - ERP, CRM/ ERM (Enterprise-Relationship-Management), SCM und E-Commerce-Anwendungen - verschiebt sich gewaltig zu Lasten des traditionellen ERP. Diese Veränderung drückt sich natürlich auch in unterschiedliche Wachstumsraten aus. Während ERP moderat um jährlich fünf Prozent zulegt, boomen E-Commerce mit 56, ERM mit 36 sowie SCM mit 40 Prozent.

Angesichts dieser Prognosen waren die Analysten an der Börse fast schon dabei, den Abgesang auf das ERP und dessen Anbieter anzustimmen. Noch während junge E-Business-Softwareschmieden wie Intershop eine erschreckend schlechte Bilanz vorlegten, taucht ein schwacher Silberstreif am Horizont auf - J. D. Edwards, Peoplesoft und SAP warteten mit überraschend guten Jahresergebnissen auf. Selbst Baan, mittlerweile Invensys zugehörig, durfte im letzten Jahresquartal 2000 schwarze Zahlen vermelden.

Sich permanent neu erfinden

Urplötzlich gewann damit die Debatte um New versus Old Economy ihre spezifische Ausprägung für die Softwareindustrie. "Wir haben eine Sturm-und-Drang-Zeit erlebt, die eine Revolution begleitet hat. Die ist vorbei, jetzt schreitet der eigentliche Evolutionsprozess voran", teilte unlängst Hasso Plattner dem "Spiegel" seine Sicht der Dinge mit. Der letzte im SAP-Vorstand verbliebene Gründer des Unternehmens setzt nun darauf, dass der Internet-Handel zwischen Unternehmen jetzt erst die richtige Zukunft vor sich hat. Er spielt damit auf Anwendungen an, denen heute Berater das Label Collaborative-Commerce (C-Commerce) geben und zu denen neben digitalen Marktplätzen sowie Beschaffungslösungen primär die auf eine unternehmensübergreifende Zusammenarbeit ausgerichteten Software-variationen zählen.

"ERP ist ganz sicher tot, wenn es sich nicht permanent neu erfindet", umschreibt Helmuth Gümbel von Strategy Partners die Entwicklung. Wenn sich die Geschäftsprozesse der Unternehmen ändern, müsse sich zwangsläufig auch die Zielsetzung der unterstützenden Software wandeln. Gartner, das schon den Begriff ERP etablierte, spricht in diesem Kontext nunmehr von ERP II oder der zweiten Vision von ERP. Das Visionäre an dem Ansatz, der gleichermaßen Unternehmensstrategie und Anwendungswelt berührt, ist die Transformation der vertikal integrierten Organisationsformen mit optimierten internen Unternehmensfunktionen in agile, um Kernkompetenzen herum aufgebaute Unternehmenseinheiten, die ein Unternehmen optimal im Rahmen einer Lieferkette oder eines Wertschöpfungsnetzwerks positioniert. Für die Gartner-Mannen ist es ausgemachte Sache, dass diese Entwicklung die Anwender zwingt, ihre ERP-Prozesse und -Systeme vollkommen zu überarbeiten. Der überwiegende Teil der heutigen ERP-Systeme würde dabei obsolet – sowohl in architektonischer Hinsicht als auch aus der Perspektive des eigentliches Geschäfts. Die Web-zentrierten, auf Integrationsbelange ausgerichteten Architekturen von ERP-II-Systemen unterscheiden sich von monolithischen ERP-Architekturen so sehr, dass mitunter eine komplette Transformation erforderlich sei.

Diese Aussage ist geeignet, bei so manchem ERP-Anbieter für Angstschweiß auf die Stirn zu sorgen, haben sie doch gerade den Umstieg in die Client-Server-Welt halbwegs bewältigt.

Hinzu kam, dass eine reine Umsetzung der bestehenden Lösung auf Client-Server-Architekturen den Unternehmen in der Regel funktionell keine Vorteile, wohl aber mehr Arbeit brachte. Diejenigen Unternehmen, die das begriffen und eine weitreichende Vernetzung und Integration der einzelnen Anwendungsmodule realisierten, ernteten gleichwohl die Früchte ihrer Entwicklungsanstrengungen. SAP, mit Gründungsjahr 1972 schon ein Oldie unter den Anbietern, Peoplesoft, AS/400-Spezialist J. D. Edwards (JDE) und Baan profitierten überdurchschnittlich von dem einsetzenden ERP-Boom in den vergangenen rund sieben Jahren.

Auf sich selbst konzentriert

Angesichts der gut laufenden Geschäfte waren die ERP-Anbieter zunächst auch vollständig auf sich selbst und den eigenen Markt konzentriert. Die Potenziale des SCM und CRM wurden dagegen sträflich vernachlässigt. Hierfür mag auch die Fehleinschätzung der eigenen Rolle als unersetzbarer Lieferant der Software für Kerngeschäftsprozesse verantwortlich gewesen sein. Zudem waren die neuen Softwarekategorien nicht gänzlich unbekannt. Vertriebssteuerung per Sales Force Automation (SFA), Verkaufsförderung durch Computer Aided Selling (CAS), integrierte Fertigung à la Computer Integrated Manufacturing (CIM) - viele Schlagworte dokumentierten seit je her das Bemühen, die Informationen zwischen Produktion, Betriebswirtschaft und Logistik oder die Daten aus den unterschiedlichen Berührungspunkten mit Kunden möglichst reibungslos miteinander zu verbinden. Da diese als Zusätze an die eigene ERP-Lösung angeflanscht oder als Stand-alone-Lösung zum Einsatz kamen, erkannten die ERP-Anbieter hierin zunächst keine Gefahr für sich und trauten diesen Kategorien keinen lukrativen Markt zu. Als sich dann abzuzeichnen begann, dass spezialisierte Softwareschmieden sich in der einen oder anderen Ausschreibung durchsetzten, reagierten die etablierten Softwarehäuser und versuchten, durch erhöhte Entwicklungsanstrengungen, Aufkäufe oder Kooperation gegenzusteuern. So kaufte JDE den SCM-Anbieter Numetrix, Baan und Peoplesoft übernahmen die CRM-Softwarespezialisten Berclain beziehungsweise Vantive. Jenseits des engeren ERP-Marktes ging natürlich die Entwicklung ebenso weiter. Insbesondere der Bereich der logistischen Lieferbeziehungen wurden angetrieben vom Internet und E-Business, zum Tummelfeld von SCM-Anbietern und Newcomern wie Commerce One.

Eine Integrationsschicht

Viele ERP-Anbieter sehen sich deshalb heute in einer gefährlichen Lage: Zum einen müssen sie ihre Anwendungsarchitektur komplett auf das Internet und die C-Commerce-Infrastrukturen ausrichten, zum anderen sind sie gezwungen, sofort in den neuen E-Business-Feldern mitzumischen und des Weiteren sollten sie in der Lage sein, Drittanbieter zu integrieren.

Um diesen neuen Anforderungen möglichst schnell gerecht zu werden, reagieren die Anbieter wie gewohnt mit Kooperation, Kauf und Eigenentwicklung. Auf der Anwendungsseite verfügt zum Beispiel JDE heute über einen Reseller-Vertrag für die SCM- und Marktplatzsoftware von Ariba und i2 Technologies sowie Siebels CRM-Software. Peoplesoft setzt als Beschaffungslösung den Sourcecode der Buysite von Commerce One ein, der mit den eigenen Entwicklungswerkzeugen überarbeitet wird. Die Marktplatzlösung Marketsite von Commerce One soll dagegen zunächst einmal ungeändert genutzt werden. Gerade die Marktplatztechnologie dieses Anbieters bildet aber den Kern einer weit reichenden Partnerschaft, die der Hersteller mit SAP einging.

Als Integrationsschicht ziehen die ERP-Anbieter neue Middleware-Software oder Application-Server ein. Peoplesoft, das zunächst mit einer Zwei-Stufen-Architektur recht erfolgreich war, hat sich mit der Version 8 vollständig zum Thin-Client-Verfechter gewandelt. "No Code on the Client" hämmert beinahe schon gebetmühlenartig Peoplesoft-Chef Dave Duffield seiner Mann- und Kundschaft ein. Fremdprodukte wie Bea ziehen der neuen Software das kommunikative Korsett ein. JDE nutzt wiederum beim Ausbau der Integrationsleistung von Oneworld Xe den erworbenen Code des Enterprise-Application-Integration-Programms Activeworks von Active Software. Die Firma gehört seit kurzem zu Webmethods, auf deren B-to-B-Integrations-Server auch SAP setzt. QAD und IBS favorisieren wiederum als Middleware Websphere von IBM.

Diese vielfältigen Partnerschaften belegen, dass die ERP-Anbieter von ihrem Alleingang in der Entwicklungspolitik abgekommen sind und sich - wenn auch zwangsläufig - mehr und mehr dem Best-of-Breed-Gedanken nähern. Neben eigenen neuen Modulen bieten sie Fremdprodukte an oder integrieren dergleichen. Allerdings versäumten sie bislang, die neue Integrationsleistung ihrer Software in dieser Hinsicht werbeträchtig herauszustreichen. Oracle, zuvor der Lauteste unter den Best-of-Breed-Trommlern, hat zudem eine komplette Kehrtwendung in dieser Hinsicht vollzogen. Mit großer Unverfrorenheit fordert Larry Ellison die Anwender auf, alles bei seinem Unternehmen zu kaufen.

IBM-Trio ein Auslaufmodell?

Und wie belastbar und tragfähig die Partnerschaften tatsächlich sind, müssen die Firmen erst noch belegen. Die früheren Erfahrungen in der Softwarebranche sprechen hier nicht zwangsläufig für einen Erfolg. Während SAP-Commerce-One offenbar funktioniert, scheint nach Meinung nahezu aller Experten das von IBM geführte Trio Ariba-IBM-i2 bereits ein Auslaufmodell zu sein, bevor es richtig zum Laufen gekommen ist. Mit der eingeschlagenen Aufkaufpolitik stellt sich zumindest Ariba immer mehr als Konkurrent zu i2 auf. Im Sinne einer Komplettierung scheint dies durchaus richtig zu sein. Trotzdem werfen die Analysten von AMR Research angesichts des Kaufspreises von 2,55 Milliarden Dollar für den Spezialisten für Product Life-Cycle-Management- Agile provokativ die Frage auf, warum sich die US-Firma nicht JDE schnappe und so das fehlende ERP-Know-how sichere. Die derzeitigen Börsenpräferenzen lassen eine solchen Schritt durchaus als machbar erscheinen. Zumal Analysten wie Jean-Christian Jung von PAC es als grundsätzlich einfacher erachten, sich aus dem ERP-Backbone der SCM-Thematik zu nähern, als vice versa.

Synergien selten

Aber auch Übernahmen und Fusionen, gerne als probates Mittel zur Stärkung der Marktposition angesehen, sind nicht immer Erfolg beschieden. Beispiele aus der Vergangenheit wie Baan oder Brain belegen, dass insbesondere bei dem Zusammengehen von Firmen im gleichen Marktsegment ein Scheitern programmiert ist, da sich die erhofften Synergien kaum einstellen. Die erst kürzlich erfolgte Dänen-Hochzeit zwischen Damgaard und Navision mit ihren drei Produktlinien wird hier kaum eine Ausnahme darstellen.

Trotzdem wird der Konsolidierungsdruck auf die kleinen und mittleren Hersteller anhalten. Sie werden kaum in der Lage sein, sich gegen die neue Konkurrenz durchzusetzen und gleichzeitig den Umbau der eigenen Produkte in die Wege zu leiten. PAC-Analyst Jung macht dies an einer Zahl fest: "Erzielten noch in 1999 rund 40 Hersteller 89 Prozent aller Lizenz- und Wartungsumsätze im deutschen ERP-Markt, werden in drei Jahren die Top 30 allein 90 Prozent des Marktvolumens auf sich vereinen".

"Viele werden den Umstieg zu ERP II nicht bewältigen", mahnt auch Gartner die Anwender zur Sorgfalt bei der Anbieterauswahl. Mit ERP II erwarten die Berater zudem eine stärkere Lösungsorientierung - sprich Branchenausrichtung - der Software. Um dies zu bewältigen müssen die Anbieter sehr eng mit ihren Kunden zusammenarbeiten. Für den ERP-Spezialist Gümbel würde dies eine gänzlich neue Entwicklungspolitik nach sich ziehen, da die Hersteller nicht im Nachhinein das entwickeln, was die Anwender fordern, sondern den Bedarf vielleicht schon sofort in die Entwicklung involvieren. Solche Strategien erinnern ein wenig an die frühen Tage der ERP-Standardsoftware.

*Achim Born ist Journalist in Köln