Gewerkschaftler erwartet künftig mehr Routinearbeiten

"Computerexperten sind die Facharbeiter von morgen"

14.07.2000
Ausländische Computerfachleute sollen die Löcher in der hiesigen Personaldecke stopfen. Gleichzeitig werden deutsche Bewerber abgewiesen, weil sie nicht insRaster der Unternehmen passen. Wolfgang Müller, früher IT-Spezialist und heute Gewerkschaftssekretär bei der Bezirksleitung der IG Metall Bayern, prangert in einem Gespräch mit Ina Hönicke* die Einstellungs- und Qualifizierungspolitik der Unternehmen an.

CW: Alle Welt redet vom Personalmangel in der IT-Welt. Nun haben wir es hier aber sicher nicht nur mit einem deutschen Problem zu tun. Wie gehen beispielsweise die USA damit um?

Müller: In den USA haben die IT-Unternehmen seit Jahren den Kongress unter Druck gesetzt, Maßnahmen zum leichteren Anwerben von IT-Profis aus dem Ausland zu veranlassen. Dazu gehören vor allem Visa-Erleichterungen, die so genannte Green Card. Die amerikanischen IT-Firmen haben erreicht, dass im vergangenen Jahr immerhin rund 100000 Spezialisten in die USA gekommen sind. Für dieses Jahr ist die Quote sogar auf 200000 hochgesetzt worden. Die Folgen dieser "IT-Einwanderung" sind für die dortigen Fachleute dramatisch. Egal ob es sich um die Chip- oder Softwareindustrie handelt - ein amerikanischer IT-Profi, der über 35 Jahre ist, wird, selbst wenn er Spezialist ist, kaum noch einen Job finden. Er wird höchstens irgendwo als Leih- oder Zeitarbeiter oder zu Bedingungen, zu denen man nicht mehr arbeiten möchte, unterkommen. Wir müssen uns dies einmal vor Augen führen: In den USA ist die Zahl der IT-Jobs in den letzten fünf Jahren um 35 Prozent, die Zahl der Anträge aus der Branche für Visa um 350 Prozent gewachsen.

CW: Ist dieser Trend auf Deutschland übertragbar?

Müller: Auf jeden Fall. Die ausländischen IT-Spezialisten werden doch vor allem deswegen nach Deutschland geholt, weil die einschlägige Ausbildung hierzulande versäumt wurde und die Unternehmen auch heute noch die Qualifizierung scheuen. Mit der Anwerbung ausländischer Computerspezialisten soll gegengesteuert werden.

CW: Kritiker der deutschen Green-Card-Aktion behaupten, dass ältere Profis ausgemustert, jüngere Spezialisten eingestellt und die Gehälter gedrückt werden sollen. Sehen Sie das auch so?

Müller: Ja. Da kann ich Beispiele nennen. Auf der diesjährigen CeBIT war die IG Metall zum ersten Mal mit einem eigenen Messestand vertreten. Dieser Stand war zu unserer eigenen Überraschung überlaufen. Es kamen vor allem ältere Computerspezialisten, die sich angesichts des Personalmangels eine Chance auf einen Job ausgerechnet hatten und hier enttäuscht wurden. Sie mussten feststellen, dass sie nicht in das gewünschte Raster passten. Sie sind älter als 25 Jahre, sind keine SAP- oder Internet-Profis, haben den falschen Hochschulabschluss oder sind "nur Umschüler" - und last, but not least, sie verfügen nicht über die "skills de jour".

CW: Das klingt reichlich zynisch.

Müller: Das mag sein, aber mit diesem Ausmaß an Enttäuschungen und Frust hatten wir nicht gerechnet. Bei uns haben sich Umschüler, arbeitslose IT-Profis und Ingenieure regelrecht ausgeweint. So hat beispielsweise ein arbeitsloser 42-jähriger Ingenieur, verheiratet mit zwei Kindern, in einer IT-verwandten Branche einen Job mit einem Gehalt von 3000 Mark inklusive Überstunden angeboten bekommen. Damit kein Missverständnis entsteht: Dieses Angebot kam nicht aus den neuen Bundesländern, sondern aus dem Raum Hannover.

CW: Dennoch steht fest, dass die Personaldecke in der IT-Branche sehr dünn ist.

Müller: Natürlich werden für spezielle Fachgebiete händeringend Experten gesucht. Aber die große Nachfrage nach Internet- oder Java-Programmierer könnte durch Computerfachkräfte, oder auch durch Umschüler, mit einer weitergehenden Ausbildung durchaus gedeckt werden.

CW: Der Bund der deutschen Psychologen sieht das ähnlich. Er wirft der IT-Branche "Rekrutierung nach Gutsherrenart" vor. Nur die besten Computerexperten werden genommen, alle anderen erhielten keine Chance.

Müller: Stimmt. Die IT-Branche sucht den so genannten Plug-and-play-Specialist. Wenn das Unternehmen sein Wissen und seine Kraft ausreichend bekommen hat, kann es dem Spezialisten passieren, dass er ganz schnell ex und hopp entsorgt wird. Die Jüngsten und Besten der Welt sollen zusammengeholt werden. Zum Glück formiert sich, vor allem in den USA, eine Gegenwehr. Dort gibt es bereits verschiedene Sammelklagen - unter anderem gegen einen großen Münchner Elektrokonzern. Elf Programmierer, alle über 40 Jahre alt, klagen, dass sie aufgrund ihres Alters entlassen und Jüngere eingestellt worden sind. In der amerikanischen Fachliteratur gibt es mittlerweile den Begriff "Agism", das heißt nichts anderes als Alters-Diskriminierung. An den US-Hochschulen haben mittlerweile immer mehr Dozenten diese Diskriminierung erkannt und halten der IT-Branche den Spiegel vor.

CW: Wie sieht es mit diesem Spiegel hierzulande aus?

Müller: Schlecht. Leider sind die Gewerkschaften dem Marketing-Wirbel der Regierung und der Branchenlobby teilweise aufgesessen. Die Green-Card-Aktivitäten und ihre Hintergründe werden viel zu wenig hinterfragt.

CW: Welche Eigenschaften muss denn ein Hightech-Spezialist haben, um in dieser Branche unterzukommen?

Müller: Er muss unter 35 Jahre sein, über höchstens drei Jahre Berufserfahrung verfügen, ungebunden sein und über gute Programmierkenntnisse verfügen. Dazu kommt noch die Bereitschaft, rund um die Uhr zu arbeiten. Dafür gibt es doch genügend Beispiele. Nehmen wir das Betriebssystem Windows NT. Das ist von Softwarespezialisten entwickelt worden, die für ein halbes Jahr oder länger in einem Microsoft-Campus gelebt und dort Tag und Nacht Software geschrieben haben. Für solche Arbeitsbedingungen braucht man die von mir geschilderten Leute. Die Ansprüche in dieser Branche steigen ständig - das halten in der Tat nur die jüngeren IT-Profis aus.

CW: Wie sehen denn die vom Schicksal Begünstigten ihre eigene Situation?

Müller: Fest steht, die Arbeit macht den meisten Spaß. Das hält eine Reihe von ihnen aber nicht davon ab, sich trotzdem mit ihrer Jobsituation auseinander zu setzen. Viele der jüngeren Mitarbeiter legen Wert darauf, einen 40-Stunden-Vertrag zu bekommen. Das heißt nicht, dass sie unbedingt 40 Stunden arbeiten wollen - es geht ihnen ums Geld. Für die Zeit, die sie für den jeweiligen Arbeitgeber arbeiten, fordern sie einen fairen Deal. Das heißt, sie wollen für ihre Überstunden entweder Geld oder Freizeit.

CW: Nun locken aber gerade die Startup-Unternehmen mit Mitarbeiterbeteiligung und Aktienoptionen. Wie will die Gewerkschaft hier einen Fuß in die Tür bekommen?

Müller: Natürlich lassen sich manche Mitarbeiter von den Titelseiten der Börsenzeitungen blenden. Doch nach meiner Erfahrung wollen auch die Beschäftigten dieser Firmen, dass ihre Arbeitszeit angemessen vergütet wird. Darüber hinaus ist ihnen die Qualifikation wichtig. Wenn man diese Themen sachlich anspricht, kommt das bei den jungen Leuten auch richtig an. Und diese Forderungen durchzusetzen ist nun einmal Aufgabe der Gewerkschaften.

CW: Wird der jetzige Boom in der IT-Branche anhalten - oder haben wir es hier mit einer großen Seifenblase zu tun?

Müller: Grundsätzlich ist am Fachkräftemangel wegen der Ausbildungsversäumnisse der deutschen Wirtschaft etwas dran. Allerdings ist anzunehmen, dass aufgrund der Green-Card-Aktivitäten dieser Boom irgendwann vorbei sein wird. Dann sind die Internet-Programmierer die Facharbeiter von morgen. In den USA bezeichnen sich die Netzwerkadministratoren schon heute als "Hightech-Janitors", also Putzleute, weil sie nichts anderes zu tun haben, als die Netzwerke rund um die Uhr sauber zu halten. Bei solchen Jobs ist vom Nimbus der Computerbranche nicht mehr viel zu spüren. Auch bei uns werden die IT-Leute, die heute noch händeringend gesucht werden, feststellen müssen, dass sie doch vieles gemeinsam haben mit anderen Beschäftigten und dass ihre aktuell gesuchte IT-Qualifikation schnell entwertet sein kann.

CW: Was raten Sie denn denjenigen jungen Leuten, die sich heute für einen Job in der Cyberwelt entschließen?

Müller: Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder sie entscheiden sich für eine Spezialisierung im Hightech-Bereich. Wenn sie das nicht vorhaben, sollten sie sich überlegen, auf welches zusätzliche Fachgebiet, sei es Jura, Medizin oder etwas anderes, sie sich neben den Informatikkenntnissen spezialisieren. Neben der Mehrgleisigkeit müssen sie bereit sein, sich im Laufe ihres Lebens immer wieder weiterzuqualifizieren.

*Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.