Elektronische Illusionen werden immer perfekter

Computer simulieren beliebige Scheinwelten im Cyberspace

06.03.1992

Ein Spaziergang auf dem Mars? Eine Stunde lang Superman sein - egal, ob du Mann oder Frau bist? Die Gravitation außer Kraft setzen? Oder als Mikrowesen dein Körperinneres auskundschaften? - "Cyberspace" macht's möglich. Was zuerst nur eine Spielerei war, wird immer mehr zu einer auch ernsthaften Anwendung im Bereich Computersimulation. Beliebige Welten, ob echt oder vollkommen irreal können mittels Rechenpower nachgeahmt werden, die Anwender können in diese Welten "eintauchen".

Wie sich die Zeiten doch ändern! Am Anfang - 50 Jahre ist es erst her - lieferte der Computer nur Zahlen. Wobei diese Aussage massiv beschönigt ist: Im Grunde genommen waren es nämlich lediglich ellenlange Folgen primitiver Ja-Nein-Informationen, welche die Computerspezialisten erst mühsam in uns geläufige Zahlen umrechnen mußten.

Heute zeigt uns jeder halbwegs moderne PC auf seinem Bildschirm nicht nur Texte und Grafiken, sondern auch farbige und bewegte Bilder. Was den Rechner jedoch darüber hinaus auszeichnet, ist die Möglichkeit der wirklichen Interaktion.

Im Kino kann man sitzenbleiben oder gehen, beim Fernsehen um- oder ausschalten notfalls vielleicht im Studio anrufen - aber richtig eingreifen kann man nicht. Der Computer hingegen läßt sich (im Prinzip) von A bis Z steuern, man kann ihm seine ureigenen Ideen eingeben und diese auch jederzeit ändern - wobei es überhaupt keine Rolle spielt, ob das Ganze mit der Wirklichkeit etwas zu tun hat oder nicht. So entsteht im Rechner eine virtuelle, scheinbare Realität, eine Wirklichkeit, die sich der Benutzer ausgedacht hat.

William Gibson, ein amerikanischer Science-Fiction-Autor, hat dafür 1984 in seinem Buch "Neuromancer" den treffenden Begriff "Cyberspace" geprägt: ein Raum, in dem alles machund erlebbar ist - vorausgesetzt, die nötige Steuerkunst (Kybernetik) sei vorhanden. Und davon soll nun die Rede sein.

"Ein roter Ball", schildert Peter Hafens in einem GEO-Bericht über Cyberspace, "hüpft in einem Zimmer herumg einem Raum, an dem nichts Besonderes wäre, würde darin nicht Schwerelosigkeit herrschen, Der Ball ist nicht leicht zu fassen, aber wenn man ihn zu fassen kriegt, ruft er: Wirf mich! Behält man ihn in der Hand wird er ärgerlich und beginnt zu quengeln. So wirf mich doch! Bewegt man die Hand, scheint man ungehindert durch den Raum zu schweben, immer schön dem Zeigefinger nach."

Damit der Cyberspace realistisch erscheint, braucht es neben dem Computer zwei technische Hilfsmittel: das Eye-Phone, eine Art elektronische Brille, die dem Benutzer die virtuelle Welt präsentiert, schön farbig und in drei Dimensionen, und den Data-Glove (Datenhandschuh), mit dem er das Geschehen steuern kann.

Das Eye-Phone, der Augen-Kopfhörer, besteht im wesentlichen aus zwei kleinen Videomonitoren und Spezialkopfhörern. Die Kopfhörer erwecken durch Lautstärkeveränderungen den Eindruck, daß sich die Geräuschquellen bewegen, und simulieren so eine räumliche Akustik.

Die Monitore projizieren ihre Bilder direkt in die Augen des Benutzers, und zwar exakt aus der Perspektive, die seiner Kopfhaltung entspricht. Dazu braucht es einen Sensor, der laufend die Kopfbewegungen registriert und dem Computer weitermeldet, damit dieser die 3D-Bilder errechnen kann.

Der Augen-Hörer vermittelt dem Träger die Illusion, er befinde sich tatsächlich im Raum, der doch nur im Computer existiert.

Stets im Blickfeld des Cybernauten ist der Data-Glove, sein Universalwerkzeug. Mit ihm steuert er im imaginären Raum herum; mit dem Handschuh berührt ergreift, verschiebt und entfernt er dort auch Gegenstände, die natürlich ebenfalls imaginär sind.

Der Datenhandschuh ist ein optoelektrisches Präzisionsgerät, das mehrere tausend Dollar kostet. Dioden an den Fingerspitzen emittieren Infrarotlicht, dieses wird über Glasfasern zwischen den Stofflagen bis zum Handgelenk geleitet, wo es in elektrische Signale umgewandelt wird. Ein Mikroprozessor wertet die Signale aus - je gekrümmter ein Finger, desto geringer der Strom - und leitet sie an den Computer weiter, zusammen mit der Positionsmeldung, die von einem Navigationssensor im Handschuh kommt.

Man kann auf dem Rechner sogar eine primitive Form von Tastsinn simulieren. Forscher am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology haben jedenfalls ein System entwickelt, das Vibrationen auf die Tastnerven der Fingerspitzen überträgt und so dem Benutzer ein Gefühl für die Oberflächen der Gegenstände vermittelt, die er in der virtuellen Welt antrifft.

Mit dem Data-Glove steuert der Cybernaut den virtuellen Körper, für den er sich entschieden hat. "Man kann beispielsweise in den Körper eines andern Menschen schlüpfen", schildert der amerikanische Cyberspace-Guru Jaron Lanier in der Zeitschrift 'Whole Earth Review', aber auch ein Gebirge, eine Galaxie, ein Kieselstein, oder ein Klavier sein." Mit anderen Worten: Der Benutzer wird selbst zum Bestandteil der virtuellen Realität.

Streckt er den Zeigefinger im Data-Glove nach vorn und den Daumen nach oben, teilt er dem Rechner mit, er sei bereit, durch Cyberspace zu fliegen wie Superman. Der Flug beginnt, wenn er den Daumen nach vorne beugt. Um anzuhalten, braucht er bloß die Hand zu einer Faust zu ballen. Das gezielte Manövrieren in Cyberspace erfordert allerdings einige Übung - Anfänger sausen wie trunkene Insekten durch den Raum.

Die Erzeugung kontinuierlicher Abläufe in der Scheinwelt stellt gewaltige Anforderungen an den Computer: Er muß die Sinneseindrücke, die man mit Eye-Phone und Data-Glove wahrnimmt, laufend in dreidimensionale Bilder und Töne umsetzen, und zwar möglichst verzögerungsfrei in hoher Qualität, damit die virtuelle Welt Oberhaupt glaubwürdig erscheint.

Bisher schafft das noch kein System perfekt - das gibt auch Lanier zu, der mit seiner 1985 gegründeten Firma VPL Research selbst solche Geräte anbietet, Wer heute eintaucht in Cyberspace, mag deshalb vielleicht enttäuscht sein: Überzeugend ist lediglich der 3D-Sound. Die Bilder hingegen lassen noch zu wünschen übrig - sie erinnern an billige Videospiele: zwar schön bunt und dreidimensional, aber krud in den Formen und ruckartig in den Bewegungen.

Aber solche Anfangsschwierigkeiten tun dem Enthusiasmus der Virtual-Reality-Jünger, die "Cyberspace für alle" propagieren, keinen Abbruch. "Die Mängel der Technik werden durch eine Unmenge von Sinnestäuschungen kompensiert", behauptet Lanier.

Tatsächlich erleben wir auch im Alltag, daß wir nicht immer alle Informationen in Hi-Fi. Qualität brauchen, um etwas als real zu empfinden. Unser Gehirn kann sogar fehlende Teile in einem erstaunlichen Maß ergänzen. Ein typisches Beispiel dafür sind die Telefongespräche, die uns, oft weit mehr vermitteln, als man rein vom Informationstransfer her annehmen könnte.

"In Cyberspace", so Lanier, "ist das Gefühl von Präsenz deutlich stärker als im Kino oder Fernsehen, obwohl diese eilte weit bessere optische Qualität aufweisen. Damit wird die virtuelle Welt noch lebhafter, als sie eigentlich gedacht war: Man sieht Dinge, die gar nicht vorhanden sind, und spürt beim Berühren von Gegenständen einen Widerstand, obwohl sie gar keine Masse haben."

Das zeigen auch die Erfahrungen mit modernen Flugsimulatoren, die eine gewisse Ähnlichkeit mit virtueller Realität auf. weisen: Militärpiloten erleben einen simulierten Luftkampf fast echt und zeigen ähnliche Symptome wie in einer entsprechenden realen Situation. Der einzige Unterschied ist, daß sie bei der Simulation jederzeit aussteigen können.

Wohin das alles führen könnte, wurde vielen zum erstenmal im Herbst 1990 an der Linzer "Ars electronica" klar, einer Veranstaltung, die sich um send mit diesem Thema auseinandersetzte.

Eine naheliegende Anwendung sind Telekonferenzen. Statt für Sitzungen ins Ausland zu reisen, könnten Manager im Büro bleiben und sich via vernetzte Computer in einem virtuellen Sitzungszimmer treffen. Architekten könnten zusammen mit Bauherren gemeinsame Besichtigungen durchfuhren Besichtigungen von Gebäuden, die noch gar nicht existieren. Ebenfalls sehr geeignet wäre die neue Technik für die Fernsteuerung von Robotern: Der Operator sitzt mit Brille und Datenhandschuh bequem in der Zentrale, und die Maschine arbeitet auf dem Meeresgrund oder auf einem fernen Planeten.

Anwendungen zuhauf gäbe es in der Medizin: Am liebsten hätten technophile Ärzte wohl einen virtuellen Menschen an dem sie völlig gefahrlos nach Belieben herumdoktern könnten. Mit letzter Konsequenz würde das wohl dazu führen, daß man als Patient von einem Scanner vermessen und als Datenpaket in den Computer gefüttert wird, worauf der liebe Herr Doktor Eye-Phone und Data-Glove anzieht und im Innern des Patienten auf Inspektionstour geht!

Nun, vorerst müssen sie sich die Mediziner noch mit einzelnen Körperteilen zufriedengeben - alles andere wäre viel zu aufwendig. Immerhin lassen sich auf diese Weise heute bereits virtuelle Operationen an virtuellen Beinen ausprobieren, und der Chirurg sieht gleich die entsprechenden Resultate: Der erste Versuch war besser als der zweite. Oder: Wenn du so operierst, ist das Bein nachher gelähmt.

Doch die Cyberspace-Enthusiasten möchten noch wesentlich weitergehen. "Virtuelle Realität, ist ein Konzept, das den Rahmen jedes Rechners sprengt", behauptet Lanier und präzisiert: "Der Computer ist ein Werkzeug, mit dem man konkrete Aufgaben erledigt. Virtuelle Realität hingegen ist eine neue erweiterte Realität. Da kann man beispielsweise tatsächliche und virtuelle Objekte überblenden und so eine Art doppelte Wirklichkeit erzeugen. Oder man kann sein Gedächtnis auslagern, um es später bei Bedarf wieder zu aktivieren."

Der Hexenmeister der Branche freut sich schon heute auf eine Erweiterung des Eye-Phone, mit der man bestimmte Teile der virtuellen Realität wegfiltern könnte - zum Beispiel alles, was mit einer bestimmten Person oder einem bestimmten Gebiet zu tun hat. "Ich könnte mich dann", schwärmt Jargon Langer, "mit einem Drehknopf vor- oder rückwärts durch meinen Gedächtnisspeicher bewegen und gleichzeitig Filter ein- und ausschalten, um beispielsweise Dinge aus der Vergangenheit hervorzuholen und sie im gegenwärtigen Umfeld wiederaufleben zu lassen."

Für Peter Weibel, Medienkünstler und Mitorganisator des Linzer Symposiums, überwindet Cyberspace die "letzte Grenze zwischen Wirklichkeit und Wunscherfüllung".

Virtuelle Realität scheint also grenzenlos zu sein. Ist sie das auch tatsächlich? Nicht ganz, meint der Frankfurter Psychologe und Traumforscher Paul Tholey.

"Weil man nicht alle Sinne unserer Wahrnehmungswelt wirklichkeitsgetreu simulieren kann, ist die computererzeugte virtuelle Realität eben doch begrenzt", schreibt Tholey in der Zeitschrift gdi Impuls, und er fährt fort: "Es gibt eine viel einfachere und bessere Methode, um Scheinwelten zu erzeugen, mit denen man sich aktiv auseinandersetzen kann: das sogenannte Klarträumen. "

Klarträume sind Träume, die man bei klarem Bewußtsein und im Vollbesitz seiner Gedächtnis-, Verstandes- und Willensfunktionen erlebt. Die Weit der Klar, träume kommt der Wirklichkeit viel näher als die virtuelle Realität, weil in, ihr alle sinnlichen Qualitäten vorhanden sind, einschließlich der in Cyberspace nicht realisierten, Geschmacksund Geruchsempfindungen. Dabei braucht es für das Klarträumen nicht einmal künstliche Hilfsmittel - praktisch jedermann kann die Technik in kurzer Zeit erlernen.

Tholey räumt allerdings ein, daß die virtuelle Realität bestimmte Anwendungen hat, die Klarträume nicht ermöglichen - insbesondere dort, wo Sachverhalte modellhaft veranschaulicht oder risikoreiche Handlungen simuliert werden.

Über den grenzenlosen Optimismus der Cyberspace-Freaks hingegen kann der Traumpsychologe nur den Kopf schütteln: "Diesen Phantasten fehlen nicht nur neuere psychologische, sondern auch physiologische Kenntnisse. Sie hängen einer veralteten Robotertheorie nach und übertragen überholte sensualistische und technizistische Modelle unbesehen auf den Menschen."

Tholey mag aber auch die Vorwürfe der Gegner nicht mehr hören. "Wenn behauptet wird, Cyberspace, erzeuge ein Realitätsverlustsyndrom oder sei gar die Droge der Zukunft, so ist das maßlos übertrieben", ereifert sich der Forscher, der virtuelle Realität aus eigener Anschauung kennt. "Das Erleben von Cyberspace bringt keine Suchtgefahr im medizinischen Sinn, denn das Bewußtsein, sich in einer Scheinwelt zu befinden, läßt sich dabei nicht ausschalten."

Tatsächlich haben Versuche gezeigt, daß es selbst beim viel wirklichkeitsnäheren Klarträumen niemals zu einer Realitätsvermischung kommt, sondern im Gegenteil zu einem erhöhten Unterscheidungsvermögen zwischen Schein und Wirklichkeit. Fazit von Paul Tholey: Der Cyberspace-Slogan Wirklichkeit allein genügt nicht mehr ist nicht nur völlig unbedenklich, sondern sogar begrüßenswert, denn wer ihm nachlebt, sieht die Welt mit andern Augen, und das kann für die Menschheit sicher nur förderlich sein."

*Felix Weber ist freier Wissenschaftsjournalist in Zürich

Fahrplan der virtuellen Realität

Die Idee, auf dem Computer virtuelle Realitäten zu schaffen, entstand in der Mitte der sechziger Jahre und stammt aus dem Umfeld des MIT-Professors Marvin Minsky, der sich als Pionier der künstlichen Intelligenz einen Namen gemacht hat.

Das erste Eye-Phone wurde 1969 vom Amerikaner Ivan Sutherland entwickelt. Die Idee für den Data-Glove stammt von Tom Zimmermann, einem Musiker, der sich Anfang der Achtziger Jahre zum Ziel gesetzt hatte, Körperbewegungen in Töne umzusetzen. 1983 lernte der 26jährige Zimmermann den drei Jahre jüngeren Jaron Lanier kennen, einen Freak mit Rastalocken, der sich damals ebenfalls der Musik verschrieben hatte. Gemeinsam entwickelten die beiden eine neue Programmiersprache, die auf visueller Basis funktioniert, wobei der Daten-Handschuh als Schnittstelle zwischen Benutzer und Computer eingesetzt wird.

Das neuartige System war für Lanier Grund genug, 1985 im kalifornischen Redwood City ein eigenes Unternehmen namens VPL Research zu gründen. Seither entwickelt und vertreibt die Firma, die inzwischen zum unbestrittenen Branchenführer avanciert ist, eine ganze Palette von Cyberspace-Systemen - allerdings nicht für den Normalverbraucher - dafür sind sie viel zu teuer: Eye-Phones kosten je nach Ausführung zwischen 10 000 und 49 000 Dollar, ein Paar Data-Gloves 8800 Dollar. Da VPL-Systeme für jeden der beiden Monitore eine separate Workstation von Silicon Graphics einsetzen, kostet die ganze Ausrüstung leicht mehr als eine Viertelmillion Dollar. Mit dem Spitzenmodell "RB2" - das Kürzel steht für "Reality Built For Two" - können sich sogar zwei Personen gleichzeitig im Cyberspace bewegen und aufeinander reagieren.

Daß es - bei entsprechendem Qualitätsverzicht auch wesentlich preisgünstiger geht, zeigt der amerikanische Spielzeughersteller Mattel. Das Unternehmen verkauft seinen Daten-Handschuh für 50 Dollar. Zusammen mit einer Nintendo-Spielkassette für 100 Dollar kann man damit auf einem virtuellen Platz gegen einen virtuellen Gegner Handball spielen.

VPL entwickelt nun einen Data-Glove für PC-Benutzer, der nur noch rund 200 Dollar kosten soll. Eine entsprechende Stereobrille (1300 Dollar) und ein Virtual-Reality-Chip-Board, das man in den PC steckt (für 1000 bis 2000 Dollar) könnten dann preisgünstige virtuelle Welten realisieren.