Zufallsfolgen produzieren Kunst:

Computer als unkontrollierte Ästheten

08.07.1977

Kunst aus dem Computer - sie gehört zu den jüngsten Erscheinungsformen des Computerzeitalters, aber auch zu den umstrittensten. Können Automaten Kunst hervorbringen? Bedeutet das nicht eine völlige Abkehr von den klassischen Anschauungen über Kunst und Schönheit?

Der Begriff Computergrafik entstand, als zum erstenmal digitale Großrechner für ästhetische Zwecke eingesetzt wurden, und zwar waren es zwei Deutsche, Frieder Nake und Georg Nees, sowie ein Amerikaner, A. Michael Noll, die damit - unabhängig voneinander - im Jahr 1965 an die Öffentlichkeit traten.

Das Wesentliche an der Computerproduktion von Kunstwerken ist, daß man die ästhetische Struktur in einem Programm beschreibt. Dieses beschränkt sich nicht nur auf eine Folge von Befehlen für die Ausführung, sondern enthält vor allem Anweisungen für rechnerische oder logische Prozesse. Ein Beispiel für eine solche Anweisung könnte lauten: Berechne aus den drei vorhergegangenen Punkten den nächsten Zielpunkt; prüfe, ob sich der entstehende Strich mit der bisher festgelegten Strichfolge überschneidet - wenn ja: Sprung zum nächsten Befehl, wenn nein: Ausführung! Auf diese Weise kann man eine grafische Struktur nach Gesetzen aufbauen, die so komplex sind, daß eine Berechnung im üblichen Sinn nicht möglich oder zu umständlich wäre. Außerdem erreicht man eine Präzision der Rechengenauigkeit und der Ausführung, die bisher schlechthin unvorstellbar war.

Eine weitere Bereicherung bildet der Einsatz des Zufalls. Meist bedient man sich bestimmter Rechenvorgänge, die zwar keine mathematisch einwandfreie Zufallsreihe liefern aber doch eine Folge von Zahlen, in der keine Gesetzmäßigkeit sichtbar ist. Ein Beispiel wäre die Berechnung beliebig vieler Dezimalstellen der Zahl "Pi"; die dabei auftretenden Ziffern verwendet man als Zufallsfolge. Ein dementsprechender Befehl könnte lauten: Berechne die Richtung der nächsten geraden Strecke und bestimme deren Länge nach einer Zufallsfolge. Damit kommt eine sehr reizvolle Unbestimmtheit in das Geschehen; der Computergrafiker weiß selbst nicht, wie das Bild aussieht, das im Zeichenautomaten entsteht.

Für die visuelle Ausgabe stehen verschiedene Gerätetypen zur Verfügung. Einige werden vom Computer direkt mit Daten gepeist (Online-Betrieb). Da die Rechnerprozesse sehr schnell vor sich geben, kann man seine Entwürfe dann unter Sichtkontrolle vornehmen und sie, wenn nötig, nach dem unmittelbaren Eindruck verändern. Der weniger elegante, aber meist noch gebrauchte Weg führt über Lochstreifen oder Magnetbänder, in die der Computer die Resultate seiner Berechnungen und damit die Befehle für den Zeichenvorgang eingespeichert hat. Diese Streifen oder Bänder betreiben dann das Ausgabegerät (Offline-Betrieb).

Das konventionellste Ausgabenmedium ist der Zeichentisch, bei dem sich ein lochbandgesteuerter Farbstift über das Papier bewegt. Vorteil dieses Vorgehens ist die klare Form der Strichzeichnung, der Nachteil ist die recht langwierige Ausführung. Eine viel flexiblere Anlage ist das Bildschirmgerät. Schließlich ist noch der Schnelldrucker zu erwähnen - kein ideales Zeichengerät, oft nur als Notbehelf gebraucht, mitunter aber auch als Mittel des Vorstoßes in neue Bereiche, beispielsweise der grafischen (konkreten) Poesie.

Es versteht sich von selbst, daß der künstlerische Einsatz des Computers nicht auf die Grafik beschränkt bleibt. Der Vorstoß zum Film bietet sich geradezu an - kein anderes Mittel erleichtert den Entwurf und die Abwandlung von Phasenbildern so wie er. Manche Filme greifen auch auf reale Vorbilder zurück, auf Fotos oder Fernsehaufnahmen. Auch hier bieten sich einzigartige Möglichkeiten an. der Aufbau von Bildern aus beliebigen grafischen Einheiten - geometrischen Elementen oder Schriftsymbolen - oder die sukzessive Zerstörung von Figurantinnen sowie ihre Verwandlung in andere Gebilde. Eine andere Art der Erweiterung grafischer Versuche ist der Schritt in den Raum - zur Computerplastik. Neben den Methoden der "bildenden Computerkunst" haben sich auch noch jene der Musik und der Lyrik entwickelt. Bemerkenswert ist, daß alle ästhetischen Programme gewisse gemeinsame Eigenschaften haben. Das bestärkt die Theoretiker in der Ansicht, daß Kunst und Schönheit tatsächlich sehr allgemeine Erscheinungen sind - nicht an bestimmte Materialien oder Entstehungsweisen gebunden.

Herbert W. Franke

wurde 1927 in Wien geboren. Nach dem Studium (Physik, Chemie, Psychologie, Philosophie) und der Promotion zum Dr. phil. war er bis 1956 bei Siemens in Erlangen tätig. Seitdem ist er freier Fachpublizist. Franke ist Lehrbeauftragter für "Kybernetische Ästhetik" an der Universität München.