Coaching: Trendwende in der DV-Beratung

14.10.1994

Spaetestens mit Aufkommen des Personal Computing hat sich das Anforderungsprofil fuer DV-Berater grundlegend gewandelt. Nicht mehr die zentralen DV-Abteilungen bestimmen den Beratungsbedarf, sondern die Anwender selbst wurden zur neuen Klientel. Statt der DV-Abteilung zaehlen Geschaeftsfuehrung sowie Fachabteilungsleiter und ihre Mitarbeiter zu den wichtigsten Gespraechspartnern.

Von Ingo Zank*

Der Uebergang von der DV-Beratung zur allgemeinen Unternehmensberatung ist fliessend geworden. Sowohl die DV- Verantwortlichen auf der Kundenseite als auch viele Hersteller und Systemhaeuser haben dieser Entwicklung allerdings lange Zeit zuwenig Beachtung geschenkt. Natuerlich kann ein "Benutzerservice" im taeglichen Kampf gegen die Tuecken der Technik erfolgreich Hilfestellung leisten. Die wirklichen Probleme der Anwender liegen aber an einer ganz anderen Stelle, naemlich beispielsweise in der erforderlichen Reorganisation ihrer Geschaeftsablaeufe. Und da helfen weder Benutzerservice noch die Produktberatung eines Herstellers.

Nicht mehr die Fachberatung steht heute im Mittelpunkt des Interesses, sondern strategische Orientierungshilfen und langfristige Veraenderungs- und Verbesserungsprozesse im Kunden-

unternehmen. Die Client-Server-Architektur hat diesen Beratungsbedarf noch weiter verstaerkt, denn technisch ist nunmehr fast jeder Wunsch erfuellbar. Aber wer uebernimmt die Verantwortung fuer eine sinnvolle Nutzung dieser neu gewonnenen Freiheit?

Benoetigt wird eine ganzheitliche Beratung, die den Menschen mit einbezieht. Denn es geht nicht mehr nur um die rational beste technische Loesung, sondern auch um die Einbindung aller Betroffenen in Konzeption und Realisierung. Natuerlich bergen die angestrebten Veraenderungsprozesse Unsicherheiten. Niemand kann die tatsaechliche Entwicklung eines DV-Projekts in allen Einzelheiten vorhersagen. Daher kann auch kein Berater die zu erreichenden Ziele allein festlegen oder die dafuer erforderlichen Aktivitaeten praezise vorausplanen. Statt dessen muss der Klient vom Berater in die Lage versetzt werden, seine Ziele selbst sinnvoll zu definieren und situationsgerecht auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Systemisches Denken, das heisst zielgerichtetes Denken in ganzheitlichen (vernetzten) Zusammenhaengen, ist notwendig, damit optimale Loesungen fuer das Gesamtsystem gefunden und nicht nur Symptome behandelt werden.

Statt Patentrezept: Client wird auf die Spur gesetzt

Der DV-Berater befindet sich dabei in der Rolle eines Moderators, Katalysators und Entwicklungsfoerderers. Seine Hauptaufgabe besteht darin, einen Lernprozess in Gang zu setzen, in dessen Verlauf die fuer den Kunden beste (System-)Loesung gefunden und realisiert wird.

Aber nicht nur die Anwender, sondern auch die DV-Abteilungen, Loesungsanbieter, Systemhaeuser etc. sehen sich einer erheblich veraenderten Verantwortungssituation gegenueber. Die Lieferung der funktionsfaehigen Hard- und Softwaresysteme ist laengst zum Nebenpunkt geworden. Erwartet werden ein zielorientiertes Projekt- Management unter Einbeziehung aller Beteiligten und eine optimale Unterstuetzung der reorganisierten Geschaeftsablaeufe durch die neu erstellte Loesung. Aufgabe des Beraters ist es daher, auch die Verantwortlichen mit der veraenderten Situation vertraut zu machen und in den gemeinsamen Lernprozess mit aufzunehmen.

Qualifiziertes "Coaching" ist das wirkungsvollste Mittel, um diesen komplexen Anforderungen an die DV-Beratung gerecht zu werden. Natuerlich ist das mit Coaching abgedeckte Themengebiet stark von der jeweiligen individuellen Situation abhaengig. Es lassen sich jedoch einige allgemeingueltige Inhalte und Formen des Coaching erkennen, die im folgenden naeher beschrieben werden sollen.

Coaching stellt die Menschen, die an Systemloesungen als Auftraggeber, Mitarbeiter, Anwender oder anderweitig Betroffene beteiligt sind, in den Mittelpunkt des Geschehens. Diese Personen werden als ein entscheidender Erfolgsfaktor fuer die Realisierung angesehen. Jeder einzelne hat seine Aufgaben im Projekt, und nur durch zielgerichtetes Zusammenwirken aller lassen sich die anspruchsvollen Ziele verwirklichen. Die Leistung des Coach besteht darin, diese Menschen optimal zu foerdern und zur maximal moeglichen Spitzenleistung zu fuehren.

Coaching ist eine ausgesprochen indirekte, menschenbezogene DV- Beratung. An die Stelle einer sachorientierten Fachberatung tritt die personenorientierte Moderation eines Lernprozesses. Der Klient bekommt kein fertiges Patentrezept, keine Empfehlung fuer die nach Expertenmeinung beste Konzeption. Statt dessen wird er vom Coach auf die Spur moeglicher Loesungen gebracht und erhaelt die Gelegenheit zu eigener Kreativitaet und eigenen Erfahrungen.

Coaching ist daher auch keine neuartige management-by-Methode, sondern steht fuer einen langfristigen und intensiven Prozess der Persoenlichkeitsentwicklung. Dabei kann es ganz diskret unter vier Augen stattfinden wie beispielsweise beim Fuehrungskraefte- und Leistungstraeger-Coaching. Es ist aber auch gruppenbezogenes Team- und Projekt-Coaching moeglich, um die Zielorientierung und Leistungsbereitschaft kleiner Arbeitsgruppen zu optimieren.

Im Gegensatz zum ebenfalls indirekt beratenden, fachbezogenen Trainer, der vorrangig Fachinhalte aktiv vermittelt, wirkt der Coach meist nur als Katalysator fuer den individuellen Entwicklungsprozess des Kunden. Dabei liegt der Schluessel im festen Vertrauen darauf, dass Menschen wirklich in jeder Situation etwas Sinnvolles tun wollen und auch koennen. So geht es bei der Arbeit eines Coach haeufig darum, den Beteiligten ihren jeweiligen Sinnhintergrund erfahrbar zu machen und Wege zur Sinnerfuellung aufzuzeigen. Die Erkenntnisse und Ideen der psychologischen Schule der Logotherapie lassen sich beim Coaching erfolgreich anwenden.

Im Verlauf des Coaching-Prozesses werden inhaltlich die folgenden drei Themenkreise behandelt:

- Foerderung der Persoenlichkeit

Ueberblick, Initiative, Verantwortung, Kooperation, Entscheidungs-, Delegations- und Einsatzbereitschaft, Durchsetzungsvermoegen, soziale Kompetenz, Fuehrungsverhalten, systemisches Denken

- Vermittlung erfolgreicher Techniken

Kommunikation, Motivation, Menschenfuehrung, Zeit-Management, Moderation, Problemloesungstechniken, Review, Preview, Walkthrough, Workshop, Aufwandschaetzung, Neurolinguistische Programmierung (NLP, siehe Seite 47), Logotherapie

- Katalyse eines Entwicklungsprozesses

Querdenker, Visionaer, Advocatus Diaboli, Fachexperte, Entscheidungsunterstuetzung, Moderation, Workshop, praktische Logotherapie, NLP-Techniken. Projektfuehrung heisst in erster Linie Menschenfuehrung. Coaching verbessert die Qualifikation, Motivation und soziale Kompetenz fuer die Kernaufgaben der Projektfuehrung. Folgende Fragen werden im Rahmen des Coaching-Prozesses gestellt und immer wieder neu beantwortet:

- Was soll erreicht werden?

Philosophie, strategische Ziele, konkrete Projektziele.

- Welcher Weg fuehrt zum Ziel?

Projektorganisation, Struktur- und Ablaufplanung.

- Welche Randbedingungen sind einzuhalten?

Projektsteuerung und Controlling, Regulierung der Aktivitaeten.

Dabei ist der Coach immer nur der Moderator, der den Projektleiter und die uebrigen Beteiligten bei der Suche nach Loesungsmoeglichkeiten unterstuetzt. Er achtet auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die alle Bereiche und ihre systemische Vernetzung mit bedenkt. Er hilft bei der strategischen Orientierung und den darauf aufbauenden langfristigen Veraenderungsprozessen. In jedem Fall foerdert Coaching die Kreativitaet des betreuten Unternehmens und erlaubt das Sammeln eigener Erfahrungen.

Komplexe DV-Projekte fuehren definitionsgemaess und unvermeidlich durch unbekanntes, risikobehaftetes Neuland. Aus der damit verbundenen Unsicherheit heraus birgt Projektarbeit auch immer ein hohes Konfliktpotential. Coaching bekaempft die moeglichen Konfliktursachen an der Wurzel und hilft so Projektkrisen zu vermeiden. Aus Sicht der Logotherapie sind dabei vier Bereiche zu unterscheiden:

- kognitive Ursachen, das heisst Ursachen, die in der Denk- und Entscheidungsfaehigkeit der Menschen begruendet liegen. Von zentraler Bedeutung sind hier Einstellungswerte.

-Emotionale Ursachen, das heisst Motive, Gefuehle und Wertungen als Konfliktursache. Hier geht es um persoenliche Erlebniswerte und den Willen zum Sinn.

-Aktionale Ursachen, das heisst Ursachen, die mit verantwortlichem, kreativem Handeln zu tun haben. Hier sind schoepferische Werte wesentlich.

-Physische Ursachen, das heisst Ursachen, die sachlich begruendet sind. Hier ist die technische Basis mit ihren Ausgestaltungsmoeglichkeiten betroffen.

Aufgabe des Coach ist es, die Konfliktursachen rechtzeitig zu erkennen und mit den ihm zur Verfuegung stehenden Mitteln zu loesen, bevor ein groesserer Schaden entstehen kann. Entscheidend ist hier natuerlich die sorgfaeltige Unterscheidung zwischen Ursache und Symptom. Kreativitaet und Leistungsbereitschaft sind zu aktivieren, Zielorientierung ist herzustellen und aufrechtzuerhalten, Denkblockaden sind abzubauen, Verhaltensteufelskreise aufzuloesen, die Individualitaet innerhalb von Gruppen ist zu foerdern, und auch Schuldfragen sind geeignet zu behandeln. Zwar lassen sich Konflikte prinzipiell nicht voellig vermeiden, aber Coaching verhilft zu einem positiven Umgang mit ihnen.

Nur ein externer Coach kann die psychologischen Barrieren ueberwinden, die den Erfolg der Beratungsleistung einschraenken oder gar verhindern. Als Aussenstehender hat er eine Reihe von Vorteilen auf seiner Seite:

Er kann ohne Betriebsblindheit und vorauseilenden Gehorsam "querdenken".

Er wird nicht zur Konkurrenz fuer die Betroffenen.

Er kennt andere Projekte, Firmen und Branchen aus der Praxis.

Er ist ehrlich, loyal, diskret und wohlwollend.

Er ist neuen Ideen gegenueber aufgeschlossen und unvoreingenommen.

Er gibt Rueckendeckung nach innen und aussen.

Er hat kein ablenkendes Tagesgeschaeft.

Er vermindert die Projekt-"Fertigungstiefe" des betreuten Unternehmens.

Internes Coaching durch eigene Mitarbeiter kann demgegenueber den erwuenschten offenen Lernprozess, der alle Beteiligten gleichermassen mit einbezieht, nur in speziellen Situationen erfolgreich in Gang setzen.

Ein qualifizierter Coach muss in jedem Fall die folgenden persoenlichen Voraussetzungen erfuellen:

- Hohe fachliche Qualifikation

Entsprechende Kenntnisse in Psychologie, Informationstechnologie und Betriebswirtschaft. Neutralitaet und Unabhaengigkeit muessen gewaehrleistet sein.

- Hohe soziale Kompetenz

Persoenliche Reife und Autoritaet gehoeren ebenso dazu wie Einfuehlungsvermoegen, Taktgefuehl und Verschwiegenheit.

Bei der Auswahl eines geeigneten Coachs kommt es daneben vor allem auf Vertrauen und Sympathie an, denn es geht um eine langfristige, sehr persoenliche Zusammenarbeit. Der wohlklingende Name eines grossen Beratungsunternehmens allein ist dafuer keine Garantie. Auch hier ist der einzelne Mensch entscheidend fuer den Erfolg. Waehrend sich die klassische DV-Beratung mit klar abgegrenzten Aufgaben beschaeftigte, werden heute zunehmend umfassende Beratungsleistungen erwartet.

Literatur: Dr. Elisabeth Lukas: Geist und Sinn. Psychologie Verlags Union, Muenchen, 1990.

Cora Besser-Siegmund: Coach Yourself. ECON-Verlag, Duesseldorf, Wien, New York, 1991