"Cloud Computing befreit die Nutzer"

20.11.2008
Von 
Christoph Witte arbeitet als Publizist, Sprecher und Berater. 2009 gründete er mit Wittcomm eine Agentur für IT /Publishing/Kommunikation. Dort bündelt er seine Aktivitäten als Autor, Blogger, Sprecher, PR- und Kommunikationsberater. Witte hat zwei Bücher zu strategischen IT-Themen veröffentlicht und schreibt regelmäßig Beiträge für die IT- und Wirtschaftspresse. Davor arbeitete er als Chefredakteur und Herausgeber für die Computerwoche. Außerdem ist Witte Mitbegründer des CIO Magazins, als dessen Herausgeber er bis 2006 ebenfalls fungierte.
Gartners Guru für Cloud Computing, Daryl Plummer, erklärt im Gespräch mit CW-Herausgeber Christoph Witte*, warum er das Konzept für so enorm wichtig hält.

CW: Sie vergleichen das Potenzial von Cloud Computing mit den Auswirkungen der ersten industriellen Revolution des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ist das nicht ein bisschen hoch gegriffen?

PLUMMER: Hinter Cloud Computing steckt die Idee, sehr skalierbare IT-Infrastruktur und Applikationen als Services über das Web anzubieten. Das Potenzial von Cloud Computing schätze ich als genauso groß ein wie das der industriellen Revolution. Aber ob das Konzept dieses Potenzial wirklich ausschöpft, steht noch auf einem anderen Blatt. In der Cloud dreht sich alles um die Lieferung von Services, zunächst einmal gleichgültig, ob es sich dabei um Speicherkapazität, CPU-Leistung, E-Mail oder irgendeinen anderen Service handelt. Es geht um Standards und Fähigkeiten, die jedem zur Verfügung stehen, der sie benötigt. Etwas Ähnliches geschah während der industriellen Revolution: Fertigungskapazitäten und Waren standen im Gegensatz zur vorindustriellen Zeit fast jedem zur Verfügung. Das erlaubte es vielen Unternehmen und Branchen, industrielle Produktionsweisen aufzunehmen. Cloud Computing bietet ebenfalls solche neuen Möglichkeiten. Neue Unternehmen, kleine und große, können Services kreieren und über die Cloud jedem anbieten, der sie benötigt.

CW: Die Dampfmaschine löste die erste industrielle Revolution aus. Cloud Computing ist aber keine Maschine, sondern ein Konzept.

PLUMMER: Wenn Sie so wollen, versorgen drei Motoren die Cloud mit Energie: Internet, Virtualisierung und Service-Orientierung. Das Internet als weltweit für jedermann zugängliche Distributionsplattform hat die Computernutzung doch schon revolutioniert. Hinzu kommen Service-orientierte Architekturen (SOA) mit Web-Services. Dahinter steckt die Idee, Unternehmen etwas genau in der Form zu liefern, in der sie es sofort benutzen können, ohne darüber nachzudenken, wie es funktioniert, wie es geliefert wird oder wie sie es in ihre Umgebung einpassen. Da haben Sie also das Internet als Dampfmaschine und die Service-Orientierung als Form der Interaktion zwischen Lieferanten und Kunden. Als drittes Element erlaubt die Virtualisierung den Unternehmen, Hardware ebenfalls als Service zu beziehen. Das gab es vorher nicht. Der IT-Benutzer war an die Technik gebunden, die ihm vorschrieb, wie er mit IT umgehen musste. Das ändert sich mit Cloud Computing radikal. IT kommt als Service. Ich muss nur noch wissen, was der Service bewerkstelligt, nicht mehr, wie er ein bestimmtes Ergebnis produziert. Der Anwender wird viel freier als heute.

CW: Ist diese Freiheit des Anwenders der größte Vorteil von Cloud Computing?

PLUMMER: Nicht nur der Nutzer bekommt mehr Freiheit, der Lieferant ja auch. Er kann die seinem Service unterliegende Technik verändern, ohne das dem Nutzer überhaupt mitteilen zu müssen. Natürlich nur, solange der Service gleich bleibt. Aber das macht den Lieferanten ebenfalls technikunabhängig. Er kann die beste und preiswerteste Technik auswählen und ist nicht mehr auf ein Ökosystem eines Herstellers angewiesen.

CW: Werden Unternehmen ihre gesamten heutigen Anwendungen als Services aus der Cloud beziehen?

PLUMMER: In den nächsten drei bis fünf Jahren wird sich ein hybrides Modell etablieren. Anwender werden einige Services aus der Cloud beziehen und andere nach wie vor selbst vorhalten. Wir empfehlen, mittelfristig zweigleisig zu fahren.

CW: Wie ausgereift sind die heutigen Cloud-Angebote?

PLUMMER: Sie sind noch nicht ausgereift. Das können sie auch noch gar nicht sein. Cloud Computing entfaltet sich gerade erst. Wenn Sie Amazon-Services nutzen, bekommen Sie nicht die gleiche Funktionsgarantie wie bei eigenen Applikationen. Google hatte dieses Jahr schon ein paar Ausfälle, und bei Salesforce.com gibt es zum Beispiel noch offene Fragen zur Datenmigration und andere Dinge. Auch die Sicherheit ist noch nicht auf dem Niveau, auf dem sie sein sollte. Aber das alles wird sich mit der Zeit entwickeln.

CW: Was raten Sie Anwendern heute in Sachen Cloud Computing?

PLUMMER: Es gibt bereits verschiedenste Services in der Cloud. Unternehmen sollten die Sachen ausprobieren. Wenn ich zum Beispiel der CIO einer Hochschule wäre, würde ich mich ernsthaft fragen, ob ich die E-Mail-Infrastruktur für die Studenten selbst unterhalte oder ob ich sie nicht besser an Google Mail auslagere. In Sachen E-Mail ist Sicherheit kein Argument. Das heißt nicht, dass bei Google oder bei anderen Services keine Fehler auftreten. Es wird korrupte Daten geben, es wird zu Ausfällen kommen, aber das passiert nun einmal. Wir werden daraus lernen und besser damit umgehen.

CW: Aus welchen Elementen besteht ein guter Cloud-Service?

PLUMMER: Im Wesentlichen aus zwei Dingen: Zum einen muss der Service die gestellte Aufgabe erfüllen. Zum anderen muss er ein Application Programming Interface (API) anbieten, um granulare Services direkt zu nutzen. Wenn Sie beispielsweise Flickr verwenden, wollen Sie vielleicht nicht die gesamte Funktionalität; sie benötigen nur den Service "Fotoalbum", und den können Sie über die API adressieren und in einen anderen Service integrieren. Es geht um Wahlmöglichkeiten.

CW: Was kann Cloud Computing noch aufhalten?

PLUMMER: Die Einstellung, die Weise, wie wir denken. Die IT liefert immer noch Technologie aus und keine Services. Noch zwingt sie die Nutzer, sich nach der Technologie zu richten. Nach dem Motto, wenn du den Rasen mähen willst, brauchst du einen Rasenmäher und musst ihn richtig bedienen können. In der Servicewelt ist das anders. Wer einen kürzeren Rasen will, bestellt das Rasenmähen als Service.

CW: Und warum wird sich Cloud Computing durchsetzen?

PLUMMER: Weil die Anwender mehr Flexibilität, mehr Wahlmöglichkeiten und mehr Unabhängigkeit von den Anbietern fordern. Außerdem wollen die Endbenutzer nicht mehr von ihren eigenen IT-Abteilungen gegängelt werden. Unternehmen könnten die Kapitalkosten für die Anschaffung neuer IT-Systeme reduzieren.

CW: Was bedeutet Cloud Computing für IT-Abteilungen? Verlieren sie Einfluss?

PLUMMER: Nein. Sie sind die Vermittler zwischen Cloud-Computing-Services und den Endnutzern. Außerdem können sie natürlich selbst Services in der Cloud anbieten.