Deutschland-Chef Andreas Dohmen im CW-Gespräch

Cisco Systems will sich neu erfinden

12.04.2002
Die IT-Branche hat das Tal der Tränen durchschritten. Zu dieser Erkenntnis kommt der neue Geschäftsführer der Cisco Deutschland GmbH, Andreas Dohmen, im Gespräch mit CW-Redakteur Gerhard Holzwart. Cisco werde von der Wiederbelebung profitieren - weniger als Router- denn als umfassender Lösungsanbieter.

CW: Cisco Systems gilt nach wie vor als einer der wichtigsten Gradmesser für den weltweiten Zustand der IT-Branche. Doch die Signale, die in den zurückliegenden Monaten aus Ihrer Company kamen, waren zwiespältig. Wie schätzen Sie persönlich die weitere Marktentwicklung ein?

Dohmen: Ich denke, dass sich die Marktsegmente, in denen wir uns positionieren, auch in Zukunft überdurchschnittlich entwickeln werden. Eine andere Frage wird sein, ob unsere Branche wieder zu regelmäßigen Wachstumsraten von teilweise 70 oder 80 Prozent pro Quartal zurückkehren wird. Aber im Grundsatz bin ich optimistisch. Darin be-stärken mich auch die Gespräche mit Kunden. Wir müssen voraussichtlich noch eine ge-wisse Durststrecke überstehen, weil angesichts der allgemein schwierigen Wirtschaftslage viele Budgets eingefroren sind. Derzeit haben, um es etwas salopp zu formulieren, die Chief Financial Officers das Sagen, früher waren es die verantwortlichen IT-Manager, der Vertrieb und das Marketing.

CW: Würden Sie auch der These zustimmen, dass in der Phase des E-Business-Hypes viele IT-Projekte angestoßen wurden - Hauptsache: sie muteten technologisch avantgardistisch an? Dass umgekehrt aber ein konkret messbarer Return on Investment nicht oder zumindest nicht ausreichend berücksichtigt wurde?

Dohmen: Dies lässt sich nicht völlig von der Hand weisen. Auch wenn wir es in Deutschland jetzt vielleicht wieder mit einem typisch deutschen Verhalten zu tun haben - das Pendel noch extremer als anderswo zur anderen Seite ausschlägt. Nur: Sparen alleine um des Sparen willens werden sich die Unternehmen - gerade im Bezug auf erzielbare Effizienzsteigerungen durch IT - auf Dauer nicht leisten können. Fest steht vielmehr: Firmen, die früh in zeitgemäße Netzinfrastrukturen und E-Business-Anwendungen investiert haben, erzielen heute schon signifikante Kosten- und Produktivitätsvorteile und sind dadurch wettbewerbsfähiger.

CW: Ist das nicht wieder diese Art von Self-Fulfilling-Prophecy, mit der sich die IT-Industrie in die eigene Tasche lügt und den Anwendern etwas vorgaukelt?

Dohmen: Nein. Es gibt inzwischen mehrere, auch kritisch nachprüfbare Studien wie die von uns in Auftrag gegebene Net Impact Studie, die aufgrund der weiteren Verbreitung von Internet-Techologien und -Anwendungen in den USA während der kommenden zehn Jahre ein Produktivitätswachstum von 50 Prozent und in Europa von immerhin noch 30 Prozent erwarten.

CW: Kommen wir von der Theorie zur Praxis: Sie sprachen eingangs von Marktsegmenten, in denen sich Cisco positioniert. Was sind für Ihr Unternehmen in Zukunft die wichtigsten Wachstumsmärkte?

Dohmen: Da würde ich primär die Bereiche Voice over IP sowie Wireless-Technologien nennen. Aber auch die Themen Content Delivery Networking, E-Learning und Security laufen bei uns unter der Rubrik New Technology. Ein Business-Bereich, der in drei Jahren immerhin schon rund zwei Milliarden Dollar zum Konzernumsatz beisteuern soll.

CW: Ist das nicht Wunschdenken? Schließlich strapaziert man bei Cisco beispielsweise schon länger das Thema Voice over IP - bis dato, wie es scheint, ohne durchschlagenden Erfolg.

Dohmen: Das sehe ich nicht so. Die Vertriebszahlen sprechen eine deutliche Sprache: Mehr als 3500 IP-Telefoniekunden weltweit, täglich mehr als 3000 verkaufte IP-Telefone - das sind Zahlen, die heute schon auf dem Tisch liegen. Und wir stehen erst am Anfang. Man kann die Vorteile dieser Technologie einfach nicht wegdiskutieren, etwa Einsparungen bei den Anschaffungs- und Betriebskosten sowie den reinen Telefongebühren. Zudem wird ein ganzes Bündel neuer Anwendungen möglich, die sich in der klassischen PBX-Welt so nicht realisieren lassen.

CW: Aber bis zu den großen Unternehmenskunden hat sich das noch nicht herumgesprochen.

Dohmen: Auch das würde ich so nicht unterschreiben. Schließlich haben wir schon einige bedeutende Referenzkunden - auch in Deutschland, etwa das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF). Viel wichtiger ist aber etwas anderes: Informierten sich die Kunden anfangs über Voice over IP, reden wir heute mit ihnen über konkrete Projekte. In vielen Bereichen, etwa bei den Banken und Versicherungen, werden - das ist mein Eindruck - demnächst Pilotprojekte auf Filial- und Niederlassungsebene gestartet. Sobald in Großkonzernen die alten PBX-Systeme abgeschrieben sind, rechne ich weltweit mit einem signifikanten Schwenk zu Voice over IP.

CW: Wollen Sie damit endgültig den großen, traditionellen Telco-Ausrüstern wie Siemens, Alcatel und Ericsson Konkurrenz machen?

Dohmen: Ja und Nein. Ja, wenn es darum geht, dass wir bei Voice over IP schneller im Markt waren und einfach effektiver sind. Nein, wenn es um die alten Glaubenskriege zwischen der Sprachwelt einerseits und der Datenwelt andererseits geht. Die Herausforderung, vor der die gesamte Netz- und Telco-Branche heute steht, ist eine ganz andere: Wir reden nicht nur über Migrationslösungen von der PBX- zur IP-Telefonie, sondern auch über die Transformation herkömmlicher Sprachübertragung auf konvergente Netze inklusive der Schaffung neuer Anwendungen und Dienste.

CW: Das haben Sie jetzt sehr bedeutungsvoll formuliert. Geht es auch etwas konkreter, bezogen auf die Situation von Cisco Systems?

Dohmen: Natürlich. Für uns hat das unter anderem die Konsequenz, dass der rein technologische Vertriebsansatz aus der Vergangenheit nicht mehr funktioniert. Wir werden in Zukunft in vielen Fällen nicht mehr nur zum Kunden gehen und sagen können: Guten Tag, hier ist unser neuer Switch. Der verfügt über 16 Ports und kann auch sonst mehr als vergleichbare Produkte des Wettbewerbs.

CW: Sondern?

Dohmen: Wir müssen mit dazu beitragen, dass ein völlig neues Beziehungsgeflecht entsteht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Bereich Wireless LAN, das vielleicht genau den Punkt trifft: Warum sollte es am Flughafen München nicht möglich sein, dass täglich zigtausende von Geschäftsreisenden vor Ort eine Infrastruktur vorfinden, mit der sie via Laptop, Notebook und in Zukunft auch Handy ihre Wartezeit bis zum Abflug sinnvoll nutzen können - also im Internet und/oder eigenen Firmennetz zu arbeiten? Wenn man das Ganze noch mit spezifischen Dienstleistungen garniert - ich denke da an Hotelreservierungen, Mietwagenservice, Reparaturservices für das eigene Auto, Sekretariatsarbeiten und vieles mehr - sind den so genannten Business Opportunities kaum Grenzen gesetzt. Wenn Sie dann aber das Beispiel zu Ende denken, werden Sie nicht umhin kommen, festzustellen, dass es für einen Anbieter wie Cisco im Zweifel nicht genügen wird, alle Beteiligten wie Flughafengesellschaft, den einen oder anderen Mobilfunk-Provider und die Hotels an einen Tisch zu bekommen sowie die entsprechende Technologie zu liefern, sondern dass man auch Gehirnschmalz dafür verwenden muss, um selbst neue Ideen und Services zu generieren.

CW: Also nicht Produkte, sondern Lösungen verkaufen.

Dohmen: Es ist weit mehr als das. Wir wollen Partner unserer Kunden sein.

CW: Das klingt für ein Unternehmen, insbesondere in der IT-Branche, nicht gerade originell. Ist Cisco als klassische Router-Company dafür überhaupt strategisch aufgestellt?

Dohmen: In unserem Eco-System-Modell arbeiten wir bereits mit zahlreichen Partnern auf der Basis offener Standards zusammen. Unsere Kunden suchen dann die für sie passende, branchenspezifische Lösung aus. Zunächst sind wir in gewisser Weise aber noch froh über das von Ihnen erwähnte Image. Denn unser Kerngeschäft ist nach wie vor sehr erfolgreich. In den Märkten, wo wir aktiv sind, sind wir die Nummer eins oder zwei.

Mit dieser Auskunft gestehe ich Ihnen natürlich auch zu, dass Ihre Frage berechtigt ist. Aber wir sind diesbezüglich weiter, als viele glauben. Schließlich kennen wir uns seit Jahren sowohl im Enterprise-Markt als auch im Geschäft mit den Telcos aus. Und wir haben nicht umsonst vor einigen Monaten unseren Vertrieb völlig neu geordnet und vertikal nach Branchen ausgerichtet.

CW: Zumindest das Consulting-Unternehmen Cisco dürfte aber noch im Markt zu vermitteln sein.

Dohmen: Mag sein. Aber mit der ebenfalls vor kurzem geschaffenen Internet Business Solutions Group, die organisatorisch unserem CEO John Chambers zugeordnet ist und in der viele ehemalige McKinsey- und Boston-Consulting-Leute arbeiten, fahren wir wirklich einen revolutionären Ansatz. Ich will damit nicht sagen, dass wir ab sofort McKinsey & Co. Konkurrenz machen, das wäre vermessen. Aber wir gehen in Teams zu den Kunden und schauen uns dort die Prozesse an. Ich kann mich in diesem Zusammenhang nur wiederholen: Wenn ich heute um einen Termin bitte, sage ich nicht, dass ich einen neuen Switch herzeigen will. Sondern dass ich über Geschäftsprozesse und Produktivität sprechen möchte - und dass ich im Zweifel nichts anderes verkaufen werde als das, was wir bei Cisco selbst bereits erfolgreich einsetzen. Und ob Sie es mir glauben oder nicht: Ich bekomme die Termine, und man hört mir sehr interessiert zu.

Zur PersonDer 42-jährige Andreas Dohmen ist seit Januar 2002 Vice President und Geschäftsführer der Cisco Systems GmbH. Vor seinem Wechsel zu Cisco war Dohmen als Gründer und Geschäftsführer seiner eigenen Beratungsfirma tätig. Von Mai bis Oktober 2000 war er bei Alcatel als Executive Vice President EMEA für den Bereich Carrier Internetworking zuständig. Vor dem Zusammenschluss mit Alcatel war Dohmen von 1997 bis 2000 bei Newbridge Networks beschäftigt. Dort bekleidete er unter anderem die Positionen des Executive Vice President EMEA und Vice President Marketing und Business Development.

Abb.1: Ciscos Mobile-Business-Vision

Cisco - Hansdampf in allen Gassen: Jede Anwendung soll in Zukunft mit Hilfe entsprechender Übertragungstechniken und Mobile Devices denkbar sein. Quelle: Cisco Systems

Abb.2: Markt für IP-Telefonie

Im "Zukunftsmarkt" IP-Telefonie beansprucht Cisco die Spitzenposition. Quelle: Synergy Research Group