Expertensysteme bereiten den Weg für Integrations-Lösungen:

CIM nur mit KI-System wirtschaftlich tragbar

22.04.1988

Je mehr sich CIM von der unternehmensphilosophischen Träumerei zur handfesten Lösung wandelt, desto klarer kristallisieren sich die Hürden heraus, die bis zum Ziel noch zu nehmen sind. Expertensysteme spielen dabei eine wichtige Rolle.

Nur wenige auserwählte Betriebe waren bisher in der Lage, sich hochfrequente CIM-Logistiken zu erarbeiten. Der "normale" Fertigungsbetrieb mit begrenzter Investitionskraft dagegen ist ohne entsprechende Werkzeuge von dieser Entwicklung ausgenommen.

Der Grund liegt im Anforderungsprofil: Die Einsatzfaktoren "Geschwindigkeit" und "Komplexitätsgrad" müssen befriedigend unter einen Hut gebracht werden. Die Problemstellungen jeder Komponenten für sich sind verhältnismäßig einfach zu lösen. Wer genügend Zeit zur Verfügung hat, kann mit dem nötigen Know-how die komplexesten Aufgaben lösen. In einer CIM-Umgebung, die die Fabrik der Zukunft von der Kundenanfrage über die Auftragsdefinition weiter zu den beschaffenden und produzierenden Einheiten bis zum Versand umfaßt, treffen beide Faktoren mit gleich hohem Anspruch aufeinander. Hochkomplexe und asynchron verlaufende Aktionen und Reaktionen im System müssen innerhalb kürzester Zeit verarbeitet werden.

Dabei spielen Datenbanken innerhalb des Flechtwerks nicht einmal mehr die entscheidende Rolle. Viel schwerer zu koordinieren sind alle ablaufenden Reaktionen, in die die Entscheidungsfindung des Systems eingebettet ist. CIM-relevante Bausteine müssen zudem noch in allen Funktionen fehlertolerant - oder nennen wir das Kind beim Namen: "idiotensicher" - sein; eine Anforderung, an der, das zeigt die Praxis, bisweilen sogar Hersteller von Konservendosen, scheitern.

Trotz aller Unkenrufe: CIM ist machbar

Zwar haben heute schon einzelne wichtige CIM-Bausteine ihre Feuerprobe in der Praxis erfolgreich bestanden. CAD-, PPS-, BDE-, Leitstands-, Qualitätssicherungs-, Lagersteuerungs- und weitere Produkte zeigen, daß in diesen einzelnen Feldern die Entscheidung für eine CIM-Zukunft bereits jetzt getroffen werden kann. CIM als integrales Ganzes im Gegensatz zu schnittstellenmetastasierenden Verknüpfungen von Insellösungen wird noch auf sich warten lassen.

Aber trotz aller Unkenrufe: CIM ist machbar. Und wenn sich für den auf CIM wartenden Fertigungsbetrieb bisher nur ein Silberstreif am Horizont zeigt, so ist dieser doch in den Blick des vorausschauenden Beobachters gerückt.

Was hier bis heute allerdings realisiert worden ist, zwingt zu einem klaren Schluß: Wirtschaftlich tragbare computerintegrierte Fertigung wird es ohne Expertensysteme nicht geben. Es ist nicht möglich, aus der Idee "Computer integrated manufacturing" lauffähige Software zu entwickeln, ohne darin die Konzeption zu verankern, Expertenwissen für den Laien - oder für das System selbst - reproduzierbar zu machen. Gründe hierfür gibt es viele: Jede Systemkomponente mit CIM-Attributen muß, um finanzierbar zu bleiben, zu einem hohen Grad ein Standardprodukt sein. In der Praxis heißt das, daß externes Expertenwissen aller Problemkreise jederzeit abrufbar bereit stehen muß, um Fragestellungen zu lösen, die über den Bereich des Endanwenders hinausgehen. Versuche, dies allein mit Anwenderschulungen zu meistern, sind vor allem im Echtbetrieb zum Scheitern verurteilt.

Spezialisten gibt es nicht an jeder Ecke

Ein weiterer Grund liegt im praktischen Einsatz: Alle auftretenden Probleme blockieren den Fluß, benötigen zur Lösung Expertenwissen und kosten Zeit und Geld. Spezialisten zur Lösung dieser Probleme werden zudem nicht an jeder Straßenecke wie frische Brötchen offeriert. Expertenentscheidungen müssen deshalb so weit wie möglich durch eine Hyper-Systemkomponete selbst getroffen werden. Nur so wird es möglich, hohe logistische Geschwindigkeit und echte Transparenz zu verbinden.

Je schneller sich Systemzustände neuen Gegebenheiten anpassen sollen, desto mehr entziehen sich solche Systeme dem analytischen Blick des "menschlichen" Beobachters. Das führt zu Schwachstellen, die realtime nur durch Expertensysteme zu lösen sind. Das System muß in der Lage sein, die Vorgänge selbst zu beobachten und nach vorgegebenen Regeln neue Situationen selbständig zu entscheiden. Je schneller sich dabei die Datenbasis den tatsächlichen Prämissen anpaßt, desto weniger kann hier der Faktor Mensch als Steuerung eingreifen.

Um diese vielfältigen und im Kern widersprüchlichen Anforderungen befriedigend zu lösen, müssen Expertensysteme schon in der Konzeption der Anwendung integriert werden. Grundsätzlich unterscheidet man dabei zwei Ebenen: die systemumgebende und die systemimmanente.

Expertenwissen für Laien und Anfänger

Systemimmanente Expertensysteme sind in der Regel Offene Expertensysteme, das heißt, sie sind in der Lage, die unterschiedlichsten Fragestellungen zu verarbeiten. Das Kennzeichen Offener Expertensysteme: Das Ergebnis wird aus einem nach dem Vorbild von Expertenentscheidungen konzipiertem Regelwerk abgeleitet, das mit Datenbanken verknüpft ist.

Eine fest definierte Struktur verbindet dabei eine Fragestellung (Startpunkt) mit dem Ergebnis, wobei Regeln und Entscheidungsbäume den Pfad determinieren. Eine Datenbank der Gesamtstruktur, die Wissenserwerbskomponente, muß dabei adaptiv angelegt sein, um einmal getroffene Entscheidungen für das System reproduzierbar zu machen.

Mit so konzipierten Expertensystemen ist es möglich, Expertenwissen im Laufe der Zeit aufzubauen und nutzbar zu machen. Anfänger und Neulinge, eventuell sogar Laien, sind in der Lage, die im System vorhandenen Erfahrungen und das Know-how von Experten zu nutzen.

Wie Expertensysteme arbeiten

Ein Beispiel aus dem Anlagenbau verdeutlicht die Arbeitsweise dieser Expertensysteme: Das System erfaßt eine Kundenanfrage für den Bau einer Anlage als eine logisch bildbare, aber nicht vorhersehbare Struktur. Innerhalb des Expertensystems zur Projektierung wird diese Anfrage spezifiziert und nach vom Experten vorgegebenen Regeln zu einem Modell konfiguriert, das dem Anforderungsprofil entspricht. Ein Inferenzprogramm steuert den Zugriff auf die statischen und dynamischen Datenbanken .

Die statischen Datenbanken enthalten Vorgangsstrukturen, Vorgangsregeln und Strukturmerkmale. In den dynamischen Datenbanken repräsentieren sich Vorgangsausprägungen, die Wissenserwerbskomponente, das Auskunftssystem und die Ergebnisse.

Ein weiteres Kennzeichen: Alle Regeln und Strukturen werden statisch repräsentiert - neue Regeln, die für den Entscheidungsprozeß von Bedeutung sind, müssen von einem Experten von außen installiert werden. Ein Lösungsansatz hierfür wäre Künstliche Intelligenz (KI). Da sich KI aber immer noch auf dem Niveau bauklötzchenspielender Programme bewegt, wird sie in der praktischen Umsetzung kurzfristig keine gewichtige Rolle spielen.

Innerhalb der Fabrik wird der Auftrag "Anlage" weiterbearbeitet: Die Koordination der einzelnen Komponenten CAD, Kalkulation, Angebot über integrierte Textverarbeitung, Arbeitsvorbereitung, Projektplanung, Einkauf, Fertigung, CNC, BDE, Versand und Montage übernimmt die CIM-Umgebung, wobei innerhalb der einzelnen Bereiche Expertensysteme arbeiten, zum Beispiel beim Klassifizieren und Suchen, beim Erstellen der Stücklisten, bei der Projektplanung und im Engineering.

Während dieses Ablaufes tauchen laufend Ausnahmesituationen auf, die möglichst schnell und treffsicher bearbeitet werden müssen. Der Vorteil bei herkömmlichen Systemen besteht darin, daß der Anwender zwar mit einer stetig steigenden Fehlerrate bei der Datenaktualität rechnen muß, aber vor jedem Batch-Lauf diese Fehlerrate auf Null drücken kann, indem er die entsprechenden Parameter den neuen Anforderungen anpaßt. Das Beheben von Ausnahmesituationen benötigt jedoch Zeit. Diese Verarbeitungszeit bestimmt der Frequenz der Batch-Läufe und damit unmittelbar die Größe der Fehlerrate in der Datenbasis. Die Fehlerrate durch Ausnahmesituationen ist proportional dem Zeitintervall der Systemreaktionen.

Fehler und Schwächen frühzeitig aufdecken

ClM-Systeme müssen das Anwachsen der Fehlerrate durch ein Expertensystem auf einer höheren Ebene wirksam verarbeiten: Ein geschlossenes Expertensystem legt sich als Außenschale um die Gesamt Umgebung, um so einen ungestörten Ablauf sicherzustellen. Im Gegensatz zu den systemimmanenten Expertensystemen enthält das systemumgebende Expertensystem Expertenwissen, das von außen die im System ablaufenden, asynchronen Aktionen und Reaktionen koordiniert.

Dieses Expertensystem erfüllt Aufgaben wie die Vernetzung der Einzelkomponenten, die Kommunikation innerhalb des Systems, die Integration aller Datenbasen und schließlich das Controlling. Im Einsatz muß das systemumgebende Expertensystem Fehler und Schwächen frühzeitig aufdecken und Verbesserungsvorschläge anbieten - ohne einen solchen unabhängigen Regelmechanismus würde der kybernetische Regelkreis "CIM-Logistik" in einem sich aufschaukelnden Zyklus die Kontrolle verlieren. Diese Aufgabenstellung setzen die Kenntnis und das Wissen über sämtliche Zusammenhänge - und damit externes Expertenwissen - innerhalb des zu steuernden Systems voraus.

Die Komponenten dieses Mantels sind ähnlich denen der Expertensysteme innerhalb des Systems, nur eben mit dem Unterschied, daß Wissen schon von Beginn an implementiert wird. Dazu müssen die Konfiguration determiniert und Parameter gesetzt, die möglichen Dateninhalte (z.B. Währung, Gewichts- und Maßeinheiten) bestimmt und Abhängigkeiten (Sequenzreihenfolgen) definiert werden.

Die als dynamische Datenbank installierten Vorgangsausprägungen dienen dazu, den systemverantwortlichen Experten oder das System selbst mit allen für die Lösung des Problems notwendigen Fragestellungen zu versorgen.

Innerhalb der Vorgangsstrukturen reagiert das System durch einen Maßnahmenbaum (Entscheidungsbaum) der in einem mehrschichtigem Top-down-Prozeß durchlaufen wird und die Zielsetzung und Analyseschritte festlegt. Hier ist die logische Sequenz des Experten verankert.

Vorgangsregeln müssen klar definiert sein

Die Vorgangsregeln, die das System benötigt, um Entscheidungen von Baumebene zu Baumebene zu treffen, müssen vom Experten klar definiert sein. Die in diesen Vorgangsregeln eingesetzten Variablen werden entweder vom System in der inneren Schale gemessen oder abgefragt oder sie werden vom Systemüberwachenden direkt angegeben.

Kommt es als Ergebnis zu einer Entscheidung, muß diese Entscheidung in der Zukunft stets wieder abrufbar sein - das System muß in der Lage sein, sich Wissen anzueignen, also zu lernen. Dazu dient die Wissenserwerbskomponente beziehungsweise das Archiv. In diesem Archiv sind alle bis zu diesem Zeitpunkt getroffenen Entscheidungen gelagert. Ähnliche Fragestellungen oder Analogien müssen dadurch nicht mehr von neuem erarbeitet werden, sondern werden schneller und exakter abgerufen.

Entscheidungen lückenlos dokumentiert

Einmal getroffene Entscheidungen im Baum, die Anwendung von Regeln und die Definition des Start- und Endpunktes werden in einer Erklärungskomponente lückenlos dokumentiert. Nur so ist es möglich, die Entscheidungen des Systems zu überwachen und notfalls zu ändern. Das in einer Ergebnisdatenbank abgelegte Ergebnis kann nun entweder dem Überwacher mitgeteilt werden oder selbständig zu Reaktionen innerhalb des Systems führen. Entscheidend für die Alternative ist, daß die Zyklus- und Reaktionszeit der Frequenz des agierenden CIM-Systems angepaßt ist, das heißt, die Zykluszeit muß kleiner oder gleich der Reaktions- und Ausführungszeit. des CIM-Systems sein. Die Fehlerrate wird auf einen Maximalwert eingestellt, der nicht überschritten werden darf, ohne daß das Expertensystem eingreift.

Für den durchschnittlichen Fertigungsbetrieb werden hochfrequente CIM-Logistiken nur dann wirtschaftlich zum Tragen kommen, wenn innerhalb der Konzeption für den Endanwender diese Werkzeuge zur Verfügung stehen. Solange diese nicht kurzfristig realisiert werden, bleibt CIM als Lösung lediglich auserwählten Betrieben mit der nötigen Investitionskraft vorbehalten.

*Uli Lindner ist Geschäftsführer der CAS GmbH Weinstadt.