Internet verändert Berufsanforderungen

CD-ROM-Bastler haben bei E-Commerce keine Chance

03.07.1998

Wenn sich Bettina Rotter daran erinnert, wie ihre Multimedia-Karriere begann, gerät sie ins Grübeln. Wie beim "Gang nach Canossa" habe sie sich gefühlt, als es ihr zum wiederholten Male nicht gelang, die Kosten für eine Weiterbildung nach der Arbeitszeit vom Arbeitgeber erstattet zu bekommen. Daß die 32jährige Germanistin mittlerweile für den Internet-Auftritt des Flughafens München verantwortlich ist, grenzt unter solchen Vorzeichen schon an ein Wunder.

Dabei hat sich Rotter schon während ihres Studiums nach Alternativen umgesehen. Sie jobbte in Softwarehäusern und schrieb einige Computerbücher. Der Lohn ihrer Mühe: der Einstieg in die PR-Abteilung des Münchner Airports.

Dort arbeitete sie zunächst vor allem an Zeitungen und Broschüren mit, war damit aber nicht zufrieden: "Die Liebe zur Computerei war einfach stärker." Sie entschied sich für eine Ausbildung zum Multimedia-Producer, die sie nach Feierabend an der Münchener Mediadesign Akademie absolvierte. Damals stand sie "kurz vor der Kündigung". Als ihr Arbeitgeber sich aber entschloß, massiv ins Internet zu investieren, kamen ihre Kenntnisse wie gerufen.

Mittlerweile arbeitet sie an der Weiterentwicklung der Internet-Präsenz, kann auf ein wachsendes Budget zurückgreifen und sich mit Zukunftsthemen wie Business-TV beschäftigen. Bei einem Wettbewerb unter europäischen Flughäfen landete die von Rotter konzipierte Web-Site unlängst auf einem beachtlichen dritten Platz.

Allein das Land Nordrhein-Westfalen beschäftigt 200000 Menschen in der Kommunikationsbranche, in Köln gehört bereits jeder zehnte Arbeitsplatz in diesen Bereich. Einer Kienbaum-Studie zufolge haben die Unternehmen aber große Probleme bei der Rekrutierung. Drei Viertel der neuen Mitarbeiter weisen demnach Qualifikationsdefizite auf, und vielen Beschäftigten fehlt es an praktischer Erfahrung.

Nur jedes vierte Multimedia-Unternehmen sorgt sich um die Ausbildung seines Nachwuchses. Dabei überwiegen immer noch Ausbildungsberufe in der Bürokommunikation, Werbung oder DV, obwohl der Bedarf an Multimedia-Spezialisten rasant wächst und sich ändert.

"Der virtuelle Budenzauber", urteilt Wolfgang Franz, "hat ausgedient." Franz, Urgestein der Multimedia-Weiterbildungsszene und Gesellschafter der Interkom Akademie in München, kritisiert nicht als einziger, daß sich die meisten Weiterbildungsinstitute noch immer eher an der Werbung orientieren als an den Bedürfnissen der Internet-Benutzer. "Wer als Bastler für CD-ROM-Produktionen ausgebildet wird, hat vom Electronic Commerce keine Ahnung."

Die Bildschirm-Show, mit der Kreative ihre Kundschaft einlullen versuchen, geht auch nach Meinung von Georg Unbehaun am Bedarf der Unternehmen vorbei. Der Geschäftsführer des Münchener Dienstleisters P+P Online GmbH, der den Web-Auftritt von Compaq, Siemens und der Deutschen Bank konzipiert hat, beobachtet viele Werbeagenturen, die ins Internet-Business einsteigen wollen, dabei aber nur "virtuelle Imagebroschüren" abliefern. Unternehmen, die am Electronic Commerce jedoch partizipieren wollen, müssen ihre Kommunikationslösungen mit Warenwirtschaftssystemen und anderen wichtigen Ressourcen verknüpfen. "Dafür sind die vom Grafik- zum Screen-Designer mutierten Werber nicht hinreichend qualifiziert." Unbehaun sucht Grafik-Designer, die in der Lage sind, Zeichnungen direkt am PC umzusetzen. Darüber hinaus sollten die Experten auch über Online-Erfahrung verfügen.

Dienstleister und ihre Kunden benötigen Informatiker oder Physiker sowie grafische "Allrounder", die allerdings in der Regel erst im Unternehmen herangebildet werden müssen. Vom Arbeitsmarkt sind sie kaum zu bekommen, weil laut Unbehaun die Konkurrenz der Telekommunikationsindustrie zu stark ist.

Armin Hopp, Geschäftsführer der Digital Publishing GmbH in München, Produzent von CD-ROMs zu unterschiedlichsten Themen wie Geschichte und Fremdsprachen, stößt ins gleiche Horn. "Der Aufwand, den die Unternehmen für die Lösung des Jahr-2000-Problems betreiben, hinterläßt einen leergefegten Arbeitsmarkt."

Was die Qualifikationsanforderungen betrifft, stehen neben dem Informatik-Know-how Sprachkenntnisse oben auf der Wunschliste der Unternehmen. Marketing-Erfahrung setzen Firmen genauso voraus wie Kommunikations- und Teamfähigkeit. Ein Profi aus der Branche formulierte es mal so: "Gesucht wird der krea- tiv denkende Techniker einerseits sowie der technisch denkende Kreative andererseits. Wenn die- se beiden Gruppen dann noch teamfähig sind, kann nichts passieren".

Joachim Graf, Herausgeber eines Brancheninformationsdienstes in München, beobachtet seit Anfang der 90er Jahre, was unter dem Stichwort Multimedia vor sich geht. "Die Computerpresse treibt jedes Jahr eine neue Sau durchs Dorf", lautet seine Kritik. Heuer sei es der Electronic Commerce, zuvor Internet/Intranet, Business TV oder Virtual Reality. Niemand könne vorhersagen, welche technischen Entwicklungen in Zukunft dominierten, "am wenigsten die Weiterbildungsinstitute oder Universitäten und Fachhochschulen".

80 Studiengänge und rund 250 Weiterbildungsanbieter im deutschsprachigen Raum bilden direkt für den Multimedia-Arbeitsmarkt aus, wie Graf ermittelt hat. Viele Absolventen der zum Teil sehr jungen Ausbildungsgänge werden laut Professor Ulrich Glowalla von der Universität Gießen in den kommenden zwei Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen. Der Professor, im Deutschen Multimedia-Verband (DMMV) für Weiterbildungsthemen zuständig, plädiert für eine striktere Kontrolle der Ausbildungsinhalte. Der DMMV berät derzeit ein von Glowalla vorgelegtes Diskussionspapier zur Einführung einer Zerti- fizierung, die bereits En- de 1998 wirksam werden soll.

Die Zeit drängt. Glo- walla: "Mit dem Internet kommen völlig neue Marktanforderungen auf uns zu." Nicht nur beim DMMV hat man registriert, daß die naturgemäß vereinfachende Sicht der Werbung für einen guten Internet-Auftritt nicht ausreicht.

Auch die Praktiker Unbehaun, Franz und Hopp versuchen deshalb, Geisteswissenschaftler und Betriebswirte in die Multimedia-Welt zu lotsen. Inhalte und ihre ständige Aktualisierung sollen in Zukunft im Mittelpunkt stehen. Dort rollt auch der Rubel. Professor Glowalla: "Das Web ist die Gelddruckmaschine des 21. Jahrhunderts."

Winfried Gertz ist freier Journalist in München.