Bull wird "eine Firma wie jede andere auch" Minister Longuet erteilt neuem Bull-Chef eine Blankovollmacht Von CW-Mitarbeiter Lorenz Winter

29.10.1993

PARIS - Achtzehn Monate Zeit gibt sich Jean-Marie Descarpentries, der neuberufene Vorstandsvorsitzende der Groupe Bull S.A. Dann will er den franzoesischen DV-Konzern finanziell wieder ins Lot gebracht und fuer eine "moeglichst rasche" Privatisierung vorbereitet haben. Von Industrieminister Gerard Longuet erhielt er "alle noetigen Blankovollmachten".

Feuerwehrmann Descarpentries hat im Hause Bull Brandherde an allen Ecken und Enden auszutreten. Das erste Halbjahr 1993 ging mit einem neuerlichen Nettoverlust von zwei Milliarden Franc (rund 570 Millionen Mark) zu Ende; der Umsatz sackte um 9,4 Prozent auf 12,5 Milliarden Franc. Die Verschuldung des Konzerns belaeuft sich auf 9,5 Milliarden Franc. Um diesen Berg von Schulden abtragen zu koennen, hoffen die Bull-Manager auf einen Kapitalnachschuss ihrer oeffentlichen und privaten Geldgeber in Hoehe von 8,6 Milliarden Franc. Diese erneute Subvention muss zu den 2,5 Milliarden Franc hinzugerechnet werden, die das Unternehmen bereits am Anfang des Jahres erhielt - eine "Staatshilfe", die Bruessel sich bisher noch zu genehmigen weigert. Jetzt soll die kolossale Gesamtsumme der EG-Kommission nicht nur durch Vorlage eines Sanierungskonzeptes, sondern auch mit dem Versprechen schmackhaft gemacht werden, es handle sich um die "endgueltig letzte" Subventionierung dieser Art. Danach werde aus Bull "eine Firma wie jede andere auch".

Descarpentries ist dabei nach Ansicht von Minister Longuet einer der am besten geeigneten franzoesischen Manager, um den angestrebten Wandel zu verwirklichen, obwohl er genau wie sein Vorgaenger Bernard Pache kaum Vorkenntnisse der DV-Branche besitzt. Der Harvard-Absolvent, ehemaliger Vertrauensmann der Angestelltengewerkschaft CGC und Buchautor ("Von der Ethik der Fuehrungskraefte in multinationalen Firmen"), blickt dafuer aber auf eine langjaehrige Karriere in diversen Privatunternehmen zurueck, wo er sich wiederholt als Sanierer auszeichnete. Nacheinander arbeitete Descarpentries seit 1962 bei Shell, McKinsey, BSN (Nahrungsmittel), Saint-Gobain (Mischkonzern), Carnau-Metallbox (Verpackungen) sowie zuletzt bei der Gruppe Novalliance/Mory (Transportwesen).

Bisher weigerte sich der neue Bull-Chef allerdings, Einzelheiten seines Konzepts zu nennen: "Ueber Strategien spricht man nicht, man wendet sie an." Immerhin erklaerte er, den von Pache eingeleiteten Stellenabbau - 6500 Jobs weltweit im Jahr 1993/94 - zwar fortsetzen, aber "nicht unbedingt darueber hinaus" gehen zu wollen. Auch das derzeitige Fuehrungsgremium des Konzerns soll im wesentlichen unveraendert bleiben. Kommerziell zu ueberdenken sind bei Bull vor allem das verlustreiche PC-Geschaeft und das Engagement der Gruppe in Nordamerika. So wichtig dieser Regionalmarkt fuer das Unternehmen auch sein mag, trug er im Vorjahr doch allein 35 Prozent zum Gesamtverlust bei. Im PC- Bereich (Zenith Data Systems) wiederum galt schon zu Paches Zeiten die Devise: anbieten aber nicht unbedingt auch selbst fabrizieren. Deshalb vereinbarte Bull im vorigen Sommer mit dem US-Hersteller Packard Bell Arbeitsteilung: Die Amerikaner beliefern gemeinsame Kunden der Partner kuenftig mit Mikros, Bull/Zenith mit Portables. Im Zuge dieser Entwicklung soll das PC-Werk in Villeneuve d+Ascq bei Lille demnaechst verkauft werden.

Umgekehrt wird Bull wohl auch unter Fuehrung von Descarpentries den beabsichtigten Ausbau seines Servicegeschaefts weiter forcieren. 1992 machte es zwar erst zwoelf Prozent des Gesamtumsatzes von 30 Milliarden Franc aus. Schon bis 1996 soll dieser Anteil jedoch auf 40 Prozent klettern.

Dabei ist der Konzern in der Systemintegration und in der herstellerneutralen Wartung von Hardware schon glaubhaft positioniert. Das Facilities-Management steckt dagegen noch in den Kinderschuhen: Erste konkrete Massnahme auf diesem Gebiet bildet die derzeitige Aushandlung eines Joint-ventures mit dem Pariser Softwarehaus Cisi.

Fest steht deshalb im Blick auf die Gesamtlage von Bull nur so viel: Der Versuch, aus dem Konzern einen "Champion der nationalen IT-Branche" zu machen, kostete die Franzosen seit der Verstaatlichung der Firma im Jahr 1982 fast zehn Milliarden Mark. Unterm Strich bleibt - allen verdienstvollen Einzelleistungen von Jacques Stern, Francis Lorentz und Bernard Pache zum Trotz - heute aber nur ein industriepolitisches Fiasko.