DV-Außenseiter EGS bekommt Zuschlag für das "Office of the Chancellor"

Bürolösung: Kanzleramt pfeift auf Standards

11.03.1988

BONN - Die öffentliche Hand läßt es mit Lippenbekenntnissen für die Unix-Idee bewenden: Bei der Ausschreibung für ein Bürokommunikationssystem im Kanzleramt haben DV-Standards eine untergeordnete Rolle gespielt.

Ein kleines, auf Bürokommunikation spezialisiertes mittelständisches Unternehmen hat gegen die Konkurrenz der Großen der Branche im Bundeskanzleramt das Rennen um das "Office of the Chancellor" gemacht. Die Erkrather EGS wird ihr Außenseiter-System auf der Basis von Token-Bus und unter EGS-spezifischem Betriebssystem, allerdings mit Unix als Option, an der Adenauerallee in Bonn installieren.

Der Entscheidung zugunsten des rheinischen Exoten war, so das beratende Unternehmen Infora, Köln, ein langwieriges Evaluationsverfahren vorhergegangen. Die Anwendung des wesentlichsten Referenzkunden der EGS, des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), hatte nicht ausgereicht, die Kanzleramtsorganisatoren von der geforderten Praxisreife sofort zu überzeugen; weitere Testinstallationen

waren angesagt. Auch die Vertragsgestaltung sei so angelegt, daß sich

das Kanzleramt optimale Bewegungsfreiheit gelassen habe; offenbar wurde teils geleast, teils gekauft.

Härtester "Gegner" der Außenseiter war, so ist aus der Bonner Kulisse zu hören, die Kölner Bull AG, dicht gefolgt von Siemens. Beide haben demzufolge Q-Office unter Unix angeboten - Siemens allerdings mit deutlich geringerer Performance auf ihrem Unix-Rechner MX500 als Bull auf ihrer Hardware. Selbst die Frankfurter Telenorma sei in die engere Wahl gekommen. Sehr schlecht habe DEC abgeschnitten, obwohl bereits eine VAX "im Amt" gewesen sei, allerdings nur in der Funktion eines Vorrechners für den Zugang zum Host des Bundespresseamts.

"Natürlich hat sich auch EGS X.400 auf die Fahnen geschrieben", erklärt Berater Dirk Stolte, "aber" - auf weitere für die öffentliche Verwaltung relevante Standards angesprochen - "welches Bürosystem arbeitet heute bereits mit X.400? Das Thema Standards ist gut und schön, aber kein Hersteller konnte uns in der Bundesrepublik eine Referenzinstallation im Bereich Bürokommunikation in einer ähnlich mittleren Größenordnung vorzeigen. Mit Unix gab es keine einzige Installation von großen namhaften Herstellern mit mehr als drei, vier Arbeitsplätzen."

Bereits in der Ausschreibung haben Standards, so berichten die Konkurrenten, eine untergeordnete Rolle gespielt. Vielmehr habe man gehört: "Uns interessiert nicht MS/ DOS, nicht Unix, wir wollen für unser Haus und für unsere Anwendung (90 Prozent Textverarbeitung) die entsprechende Lösung haben." Dafür habe sich die Abteilung "Innerer Dienst" allerdings ursprünglich "einen großen, kompetenten Partner mit entsprechender Manpower gewünscht, bei dem man sicher sein kann, auch in ein paar Jahren noch richtig zu liegen."

Das EGS-System, das jetzt an so prominenter Stelle zum Zuge kommt, könnte - über eine Vorreiterrolle "an höchster Stelle" hinaus - auch in Thailand Schule und damit Markt machen. Einer der Kanzleramtsmitarbeiter wird zusammen mit Infora-Geschäftsführer Stolte die thailändische Regierung in Sachen Regierungsbürosystem beraten, und zwar im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, wie Stolte präzisiert. Um ein paar Bonner Ecken herum, im Bundespräsidialamt, soll das kleine rheinische Systemhaus jedenfalls auch schon Fuß gefaßt haben.

Die Ausstattung des Kanzleramtes umfaßt EGS zufolge in der ersten Ausbaustufe, die bereits begonnen hat, zirka 60 Bildschirmarbeitsplätze, mehrere File-Server und Laserdrucker sowie Kommunikationseinrichtungen für Post- und Großrechnerdienste. Im Mittelpunkt stehen demzufolge integrierte Text- und Datenanwendungen sowie Datenbankanwendungen und die hausinterne Kommunikation.

Für die Textverarbeitung kommt das Programm "egstra", für die Dateiverwaltung das Datenbanksystem "Dorado" und als Kommunikationssoftware "egstern" zum Zuge" Stolz sind die EGS-Entwickler besonders darauf, daß alle Anwendungen "standardmäßig integriert arbeiten", so daß ein nachträgliches Erstellen von Schnittstellen entfällt. Nachträglich indes soll das Kanzleramtssystem um einen Unix-File-Server aus eigener Entwicklung ergänzt werden, wie er auf der CeBIT präsentiert werde, gleichzeitig mit X.400.