Britisches Bildschirmtext-System bereits ab 1979:Wohnzimmer-Terminal für jedermann

21.04.1978

LONDON (VWD) - Ein Jahr früher als geplant will die englische Post ihr Verbundsystem aus Fernsehgerät, Telefon und Rechner - das sogenannte "Viewdata-System" - der Öffentlichkeit zugänglich machen. Das "Wohnzimmer-Terminal für jedermann" bereits Anfang 1979 einzuführen, wird mit dem großen Interesse an Vievdata begründet. Etwas näher an der Wirklichkeit dürfte jedoch die Absicht liegen, sowohl den britischen Fernsehgeräteherstellern als auch den Teilnehmerfirmen, die das System mit abrufbaren Informationen beliefern, einen Vorsprung gegenüber der übrigen europäischen Konkurrenz zu sichern.

Im Sommer dieses Jahres soll der erste Großversuch mit etwa 1500 Fernsehteilnehmern aus allen Teilen Großbritanniens beginnen. Außer Privathaushalten wurden auch Industrie- und Handelsbetriebe und Finanzinstitute der Londoner City als Versuchskaninchen ausgewählt.

Vom 1. Juni an sollen sie eine Vielzahl auf ihren jeweiligen Bedarf zugeschnittener Informationen auf einem Fernsehschirm empfangen können. Dazu bedarf es lediglich eines Telefons, mit dem der nächstgelegene Informationscomputer der Post angewählt wird und eines modifizierten Fernsehgerätes, über das mit Hilfe einer Buchstaben- und Zahlentastatur die gewünschten Informationen abgerufen werden.

Für den Großversuch stehen rund 110 000 Bildschirmseiten zur Verfügung. Ihre Informationen reichen vom Sonderangebot im örtlichen Supermarkt über Steuertips, den Fahrplan der britischen Eisenbahnen bis zur Bilanz von Großunternehmen und den Börsenkursen. Ein für diesen Zweck modifiziertes Farbfernsehgerät kostet heute noch etwa 700 Pfund. Für die nächsten Jahre wird jedoch mit einem Preis gerechnet, der nur noch um 50 bis 100 Pfund über dem Normalpreis liegen soll.

Die britische Post will den Benutzer von "Viewdata" mit einem halben Pence je beanspruchte Bildschirmtext-Seite belasten. Hinzu kommt außerdem noch die Normalgebühr für ein Ortsgespräch.

Von der ursprünglichen Idee, "Viewdata" fast ausschließlich als großangelegtes Informationssystem einzurichten, ist die britische Post in jüngster Zeit wieder etwas abgerückt. Gegenwärtig werden insbesondere Möglichkeiten ausgeleuchtet, wie das System "Interactive", also als "Zweibahnstraße" benutzt werden kann.

Die Computer sollen dabei als Empfänger und Speicherer von Informationen, als Rechenzentrum oder gar als Schaltstelle für geschäftliche Transaktionen dienen. So sollen über "Viewdata" unter anderem auch Nachrichten zwischen den Teilnehmern gespeichert und abgerufen werden können. Haushalte, Firmen und andere Institutionen könnten das System letzlich für ihren "Privatgebrauch" als Datenspeicher und Rechenanlage benutzen.

Bisher haben sich etwa 100 Firmen und Organisationen darauf vorbereitet ab 1. Juni Informationen in des System einzuspeichern. Sie zahlen dafür jährlich eine Grundgebühr von 250 Pfund und jeweils ein Pfund für 960 Bildschirmbuchstaben oder -ziffern.

Das Verlagshaus British Printing Corp. beabsichtigt, ein 65 000 Wörter umfassendes Lexikon in "Viewdata" einzuspeisen.

Die "Financial Times" hat bereits gemeinsam mit dem Wirtschaftsinformationsdienst Extel 4000 Bildschirmseiten für Unternehmeranalysen, Wirtschaftsinformationen und - kommentare gebucht.

Über die nächsten 12 Monate will die britische Post 23 Millionen Pfund investieren, um Anfang 1979 mit annähernd 1 Million Bildschirmseiten Öffentlichkeit und Geschäftswelt in das neue Komunikationszeitalter locken zu können.

Die Auswirkungen des Systems auf weite Bereiche des menschlichen Lebens und vor allem auf die Geschäftswelt sind gegenwärtig noch nicht absehbar.

Völlig neue Möglichkeiten bieten sich im Bereich der Werbung. Bei den traditionellen Werbeträgern wie Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen hat inzwischen das große Rätselraten darüber begonnen, in welchem Umfang ihre Dienste 1985 noch gefragt sein werden. Wie in vielen anderen Bereichen wird voraussichtlich auch im Fall "Viewdata" der Gesetzgeber eingreifen müssen, um volkswirtschaftlich bedenkliche Begleiterscheinungen der Kommunikations-Revolution in Grenzen zu halten oder gar zur verhindern.

Die Deutsche Bundespost hatte sich 1977 bereit erklärt, das britische System zu übernehmen. Unter dem Namen "Bildschirmtext" war es zum erstenmal im Sommer 77 auf der Funkausstellung in Berlin gezeigt worden. Damals war davon die Rede, daß ein Großversuch mit dem Fernsehpublikum möglicherweise in zwei bis drei Jahren anlaufen könnte. Mit der vorgezogenen Einführung scheint sich nun das britische "Viewdata" einen Vorsprung von mindestens zwei Jahren gegenüber der Entwicklung in der Bundesrepublik gesichert zu haben.