Bremsenhersteller Lucas entschied sich fuer umfassende Netzloesung Die Multiprotokoll-Faehigkeit ist im Netzwerkkonzept zu beruecksichtigen

04.06.1993

Ein Netzwerk beschleunigt die Bremsenherstellung. Unter dieses Motto koennte man die letzten fuenf Jahre im Hinblick auf die DV- technische Entwicklung bei Lucas Automotive stellen. Margit Pecher* beschreibt, wie es bei dem Koblenzer Unternehmen mit einem Produktmix an Internetworking-Komponenten gelang, heterogene Inselloesungen zu einem unternehmensweiten Kommunikationsverbund zusammenzufuegen.

Unter Technikern und Einkaeufern der Automobilkonzerne ist der Name Lucas Automotive, vormals Girling, ein Begriff. Mehr als 2200 Menschen sind in Koblenz mit der Herstellung von Produkten beschaeftigt, denen viele von uns tagtaeglich ihr Leben anvertrauen. Mit mehr als 65 000 Beschaeftigten erwirtschaftete der britische Mutterkonzern "Lucas Industries" im letzten Geschaeftsjahr einen Umsatz von mehr als sechs Milliarden Mark.

Problemloesung durch

verteilte Anwendungen

Aus der Ende des 18. Jahrhunderts gegruendeten Birminghamer Fabrik fuer Schiffslampen und Fahrrad-Scheinwerfer hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Industrieimperium entwickelt, das heute in erster Linie Bremsen, Anlasser, Zuend- und Einspritzsysteme, Kabel und Batterien fuer die Automobilindustrie herstellt. Daneben bietet Lucas Automotive ein breites Spektrum hochwertiger Zubehoerteile fuer den Flugzeugbau an sowie elektrische und hydraulische Systeme, Messinstrumente, Ultraschallgeraete, Schalter, ICs und andere High- Tech-Produkte fuer die verschiedensten Industriezweige.

In ueber 30 Laendern stellt das Unternehmen in eigener Produktion - bei Beteiligungsgesellschaften und in Lizenzunternehmen - Produkte her, die zum groessten Teil in den Entwicklungszentren in Koblenz und Fen End (England) ihren Ursprung haben. Zu diesem Zweck sind in Koblenz unter anderem 2D- und 3D-CAD-Systeme sowie leistungsfaehige mathematische Computeranlagen im Einsatz. Insgesamt befinden sich derzeit am Standort am Bodensee im F&E- Bereich fast 200 computerunterstuetzte Arbeitsplaetze.

Schon Ende der 80er Jahre stellte sich zwangslaeufig die Frage, wie man das Problem der innerbetrieblichen Datenkommunikation zwischen diesen Entwickler-Arbeitsplaetzen und moeglichst auch noch mit dem kaufmaennischen Bereich sinnvoll loesen koenne. Bei der Heterogenitaet der vorhandenen Computersysteme kam letztlich nur ein Netzwerk in Betracht. Datenkommunikation laesst sich jedoch nicht per Dekret verordnen. Als man 1989 erste Ueberlegungen ueber ein unternehmensweites Netz anstellte, bewegte man sich weitgehend in technischem und konzeptionellem Neuland, in dem zunaechst nur eine klare Zielsetzung feststand: weg vom Mainframe und hin zum Aufbau eines Client-Server-Konzeptes.

In einem ersten Schritt galt es, die Rechner im Entwicklungsbereich zu verbinden. Damit hatte man sich auch gleich an die komplizierteste Aufgabe gewagt, war doch gerade dieser Bereich ein Paradebeispiel einer heterogenen Umgebung. Die Aufzaehlung der vorhandenen Hardware macht das deutlich: Die CAD-Systeme der 2D-Darstellung werden auch heute noch von einem IBM/4381-Mainframe bedient. Fuer die Bearbeitung der Testauswertungen und aller anderen mathematischen Applikationen ist eine, wenn auch schon aeltere Prime-Maschine (Modell 9655zustaendig, und die moderneren 3D-CAD-Programme laufen auf VAX-Rechnern von Digital Equipment. Zusaetzlich verrichtet noch eine Reihe von HP-4000-Rechnern ihren Dienst.

Die Typenvielfalt in der Hardware findet ihren Niederschlag in der der Betriebssysteme. IBMs VM steht hier neben Unix und VMS von Digital, hinzu kommen die zahlreichen DOS-basierten PCs. Auf jedem dieser Betriebssysteme baute eine Vielzahl von Anwenderprogrammen auf, die bislang nebeneinander her operierten und zwischen denen so gut wie kein Online-Datenaustausch moeglich war. Das unheilvolle Proprietary-Denken aller fuehrenden DV-Hersteller in den zurueckliegenden Jahrzehnten hat hier eine Situation entstehen lassen, bei der man noch vor wenigen Jahren gesagt haette: "Alles rausschmeissen - neu installieren!"

Es steht ausser Frage, dass eine solche Radikalkur einen enormen finanziellen Verlust mit sich gebracht haette. Die einzig sinnvolle und damit auch investitionserhaltende Massnahme konnte also nur der Einsatz einer Netztechnologie mit verteilten Anwendungen auf Client-Server-Basis sein; vom zeitlichen Aufwand und den Risiken der Umstellung in bezug auf Datenverluste und Betriebsunterbrechungen ganz abgesehen.

Die Groesse des Unternehmens und die Menge der elektronisch verarbeiteten Informationen spielten dabei eine besondere Rolle. Ausgehend von dieser Praemisse, wurde bei Lucas eine Konzeption erarbeitet mit dem Ziel, bei einem minimalen Investitionsaufwand ein umfassendes Netz zu errichten, in dem moeglichst alle Rechnersysteme eingebunden werden konnten. Die Basis dieser Konzeption bildeten zwei Glasfaser-Backbone-Ringe sowie ein Ethernet-Backbone (10Base-5) zwischen Rechenzentrum und Entwicklungsabteilung.

Von diesen Backbones gehen wiederum diverse Subnetze aus. In den einzelnen Werksbereichen wurden Fibronics-Konzentratoren als Kopfstationen installiert. Bei der Groesse des sich abzeichnenden Gesamtnetzes kam es insbesondere darauf an, die Verbindungen zwischen den Glasfaser- und dem Ethernet-Backbone optimal herzustellen. Hier entschied man sich fuer die Bridge-Router-Loesung von 3Com, um sowohl Uebertragungsfunktionen in puncto Bridging als auch fuer das Routing zu gewaehrleisten. Hinzu kam der Aspekt der erforderlichen Flexibilitaet beim Einsatz unterschiedlicher Uebertragungsprotokolle.

Als grundlegendes Bindeglied zwischen den heterogenen Welten entschied man sich fuer TCP/IP, das sich schon deshalb anbot, weil es als weltweit verbreiteter Industriestandard sowohl von Hosts und PCs als auch von Peripheriegeraeten, insbesondere den in der Entwicklungsabteilung so wichtigen Plottern, "verstanden" wird. Auch die Wahl von Ethernet

Yellow Cable als Backbone wurde nicht zuletzt durch die heterogene Rechnerwelt bestimmt. Dieses Kabelmedium wird in der PC-Welt ebenso erfolgreich eingesetzt wie im DEC-Bereich bei den VAX- Rechnern und korrespondiert zudem ausgezeichnet mit den HP- Rechnern und der Prime-Maschine.

Auch in Sachen Netzwerk-Betriebssysteme setzte man bei Lucas auf Standards. Unter den gegebenen Bedingungen waren Novells Netware und Digitals Decnet erste Wahl. Bei der Entscheidung ueber die einzusetzenden Adapterkarten machten unter anderem die Etherlink- II-Karten von 3Com das Rennen. Auch in Blickrichtung auf zukuenftig noetige Funktionen wie etwa Multiprotokoll-Faehigkeit und direkte Administrierbarkeit hatten diese Adapter die besseren Karten.

Nach diesen grundsaetzlichen Entscheidungen ging es an die Detailarbeit. Zuerst galt es, die Anbindung an den IBM/4381-Host zu realisieren. Die Wahl fiel dabei auf den Ethernet-Adapter K- 2000 von Fibronics. Fuer die Terminalanbindung des Prime-Rechners boten sich die Terminal-Server CS2000 von 3Com an, die ueber SNMP administrierbar sind. Insgesamt mussten rund 40 Subnetze fuer die erwaehnten Hosts und PCs installiert werden. Natuerlich konnte hier nur die Ethernet-Technologie zum Zuge kommen. Dabei stand ausser Frage, dass das wesentlich flexiblere und leichter zu verlegende duenne Ethernet-Kabel den Vorzug erhalten sollte. Zu den Uebertragungsprotokollen TCP/IP und Decnet kamen dann SNA und IPX fuer

die geplante X.25-Uebertragung hinzu.

Nachdem die Vernetzung in den Technikabteilungen relativ weit fortgeschritten war, galt es, auch den kaufmaennischen Bereich einzubinden. Bereits vor der Realisierung des umfassenden unternehmensweiten Netzwerckonzeptes existierte fuer die in den kaufmaennisch-administrativen Abteilungen vorhandenen AS/400- Systeme ein Token-Ring-Netz. Ueber eine Netware-Bridge wurde dabei die Verbindung zum Backbone in den Technikabteilungen hergestellt, um den dortigen Mitarbeitern die Moeglichkeit einzuraeumen, auf kommerzielle Daten zuzugreifen und umgekehrt.

Bei einem international taetigen Unternehmen ist es unumgaenglich, schon in der Planungsphase an die Anbindung anderer Netze in weiter entfernten Standorten zu denken. Fuer die Entwicklungsabteilung des Lucas-Werkes in Koblenz ist die Kommunikation und der Datenaustausch - etwa mit dem englischen Fen End - von existentieller Bedeutung. Um dies zu realisieren, waehlte man ein X.25-Gateway, das eine Verbindung ueber die ueblichen Telefonleitungen der nationalen PTTs herstellt.

Inzwischen gibt es auch Connections nach Pontypool in England und Arjeplog in Schweden. Eine Testinstallation verbindet Koblenz mit dem spanischen Pamplona. Italien, Frankreich und USA stehen auf den Installationslisten des naechsten Jahres. Gerade in diesem Anwendungsbereich ist noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. So sind neue Techniken wie Frame Relay und ISDN im Hause Lucas bereits

punktuell im Einsatz oder befinden sich in der Planung.

Das Zusammenfuehren der Informationsstroeme innerhalb des Unternehmens erforderte speziell bei Lucas auch eine Neuorientierung hinsichtlich der Datenbanktechnologie. Man baut hier auf SQL im Rahmen des Client-Server-Konzepts. Natuerlich muss speziell in diesem Sektor ein Hoechstmass an Sicherheit fuer jeden Bereich gegeben sein.

Hier wird gewiss noch eine Reihe von "interfraktionellen" Gespraechen und eine Menge Beratungsarbeit noetig sein, um zu einem allseits befriedigenden Ergebnis zu gelangen.

Wie bei allen grossen, langfristigen Projekten wird immer wieder die Frage nach der Effizienz gestellt. Die spielt besonders bei den vernetzten Konstruktions-Arbeitsplaetzen eine entscheidene Rolle. Dabei ist es das Ziel, jedem Konstrukteur nur einen einzigen Bildschirm auf den Tisch zu stellen, ueber den er zu allen erforderlichen Daten Zugang hat und ueber den er mit allen anderen Systemen kommunizieren kann. Dieses Unterfangen ist allerdings auch bei Lucas noch Zukunftsmusik.

Bis heute stehen die dafuer geeigneten Tools noch nicht zur Verfuegung. Man findet sich auch damit ab, dass es noch Jahre dauern kann, bis man diesen Idealzustand erreicht hat. Netze der Dimension, wie sie bei Lucas installiert sind und weiter ausgebaut werden, erfordern ein wirkungsvolles Netzwerk-Management. Dies ist bereits in ersten Ansaetzen vorhanden. Fuer die Kopfstationen gibt es ein eigenes Verwaltungsprogramm, ebenso fuer die Terminal-Server und sonstigen Komponenten von 3Com. Zum Einsatz kommt hier 3Coms Viewbuilder.

Auch in puncto X.25-Management verfuegt man mit Sniffer ueber ein brauchbares Analyseprogramm fuer die Datus-Knotenrechner. Alles in allem bewegt man sich aber erst in den Anfaengen; ein umfassendes Netzwerk-Management-Konzept auf der SNMP-Basis befindet sich noch in der Planungsphase. Dennoch muss auch der Bremsenhersteller auf diesem Gebiet beschleunigen, denn die Erfahrungen anderer Anwender zeigen, dass nicht nur die Zahl der Fehler und Ausfaelle minimiert werden, sondern auch eine bessere Leistungsfaehigkeit des Netzes bewirkt werden kann.

*Margit Pecher ist zustaendig fuer den Bereich Marketing bei der 3Com GmbH, Muenchen.

Die IT-Struktur bei Lucas Automotive ist ein Paradebeispiel einer heterogenen Systemlandschaft.