Prozessindustrie/Durchgängige Strukturen im DV-System

Branchensoftware schafft Farbpalette mit individuellen Tönen

03.12.1999
Die rezepturgesteuerte Fertigung benötigt Software mit eigenem Zuschnitt. Bei der Remmers Bauchemie GmbH im niedersächsischen Löningen werden Baumaterialien nach Stammrezepturen mit teilweise Hunderten von Varianten produziert und meist schon 48 Stunden nach Auftragseingang an die Kunden ausgeliefert. Anke Geipel-Kern* beschreibt, wie das Unternehmen seine Prozesse in den Griff bekommen hat.

Remmers Bauchemie entschied sich für eine Branchensoftware, die Produktionsplanung und Rezepturverwaltung ebenso unterstützt wie Materialwirtschaft und Qualitäts-Management. Mit dem Zusatzmodul für Gefahrstoff-Management begibt sich das Unternehmen auch bei Änderungen von Grenzwerten und Vorschriften auf die sichere Seite.

Zwar ist der Traum vom Neuanstrich der chinesischen Mauer bisher nicht in Erfüllung gegangen, die Sanierer von Remmers haben es aber schon weit gebracht: Auf der Liste der belieferten Baustellen findet sich auch die Tempelanlage Angkor Wat im Herzen Kambodschas. Außer einigen prominenten Namen auf der Kundenliste hat das Unternehmen aber auch ein vielfältiges Produktportfolio zu bieten. Von Silikondichtstoffen über bituminöse Bauwerksabdichtungen bis hin zu Beschichtungen von Industrieböden reicht die Palette, ergänzt durch eine Vielzahl kundenspezifischer Rezepturen.

Eine Eigenart und Anforderung des Zielmarkts ist die starke Abhängigkeit der Ausgangstonnage von der Jahreszeit. In der Hauptsaison für Bauarbeiten von März bis Oktober kommen bis zu 300 Tonnen täglich zusammen, alles Aufträge, die im 48-Stunden-Rhythmus produziert, kommissioniert, abtransportiert, ausgeliefert und fakturiert werden. Daß die täglich anfallende Datenflut nur mit einem entsprechend ausgestatteten DV-System bewältigt werden kann, liegt auf der Hand.

Bei Remmers setzte man bis vor kurzem noch auf das System "Comet" von Nixdorf und dessen Branchenerweiterung "Blending" aus dem Hause Datarat. Fehlende Funktionalitäten ergänzte man mit einer Reihe selbstgeschriebener Anwendungsprogramme. Eine Lösung, so Klaus Hölzen, Leiter der DV-Organisation, die das Unternehmen bislang auch zufriedenstellte. Problem dabei: Comet war nicht für die Umstellung auf das Jahr 2000 gerüstet. Ein Update wäre zwar machbar gewesen, aber nur durch aufwendige und damit teure Anpassungen. Daher entschied man sich 1998, das DV-System komplett neu zu strukturieren und zwar mit der Standardsoftware "SQL-Blending", dem Nachfolgeprodukt der Softmatic AG, die sich Anfang 1998 mit Datarat zusammengeschlossen hatte. "Wir wollten weg von den Insellösungen, hin zu einem Gesamtpaket, mit dem wir unsere Anforderungen durchgängig umsetzen können", erläutert Hölzen.

Produktionsplanung, Einkauf, Lagerverwaltung und Versand sowie Auftragserfassung und Rezepturverwaltung sind künftig aus einem Guß, und die speziellen Anforderungen der rezepturorientierten Fertigung werden von der Branchensoftware unterstützt. Dabei läuft die Hauptkomponente des Systems auf einem RM-600-Rechner von Siemens unter Sinix, die Datenhaltung erfolgt mit Adabas D. Um Spitzenlasten abdecken zu können, ist der Hauptspeicher mit 640 MB großzügig dimensioniert, und durch ein Fast Ethernet auf Basis von Glasfaserleitungen ist das Netz auch in Spitzenzeiten nie voll ausgelastet. Über ein lokales Netzwerk wird der PC-Server bedient, der rund 250 Clients in allen Unternehmensbereichen mit den entsprechenden Anwendungen versorgt. Dank der Windows-Oberfläche sind die Programme leicht zu erlernen und intuitiv zu bedienen.

Wichtiger Bestandteil der Software ist ein Modul für das Management von Gefahrstoffen - Pflichtprogramm für das Unternehmen, dessen Vertriebstöchter in Europa und Asien angesiedelt sind. In einer umfangreichen Datenbank ist eine Stoffliste samt dazugehörigen Grenzwerten aus derzeit zwölf Ländern hinterlegt. Das Programm analysiert die Rezepturen, errechnet die Gefahrstoffanteile der Zubereitungen und stuft sie entsprechend der Gefahrstoffverordnung ein. Nach der Auswahl des Ziellandes werden die notwendigen Papiere, zum Beispiel das EU-Sicherheitsdatenblatt, Gefahrgutetiketten oder Unfallmerkblätter, ausgedruckt. Dabei ist man durch ständige Aktualisierungen der Grenzwerte und Vorschriften immer auf dem neuesten Stand. "Diese Möglichkeit war für uns bei der Auswahl der Software wesentlich", betont der DV-Leiter. Bei Baan, zeitweise ebenfalls im Gespräch und bereits in der Finanzbuchhaltung in einem externen Rechenzentrum im Einsatz, hätte diese Funktionalität von Drittanbietern zugekauft werden müssen. Auch für die Übernahme des achtstelligen Nummernschlüssels des Artikelsystems wäre Baan nicht gerüstet gewesen. Doch die Artikelnummer ist der Dreh- und Angelpunkt des Datensystems: An ihr hängen Fakturierung, Materialwirtschaft, Produktionsplanung, Rezepturen, Kommissionierung, die Anwendungsprogramme für die Ausschreibungstexte und letztendlich auch das ausgeklügelte Provisionssystem für die Vertriebsorganisation. "Eine Umstellung des Schlüssels wäre nur mit großem Aufwand möglich gewesen", stellt Hölzen klar.

Die Produktion selbst erfolgt rezepturbasiert, was die Auswahl der Software ebenfalls beeinflußte. Anders als bei der diskreten Fertigung, wo Einzelteile nach einer Stückliste Schritt für Schritt zusammengesetzt werden, steht bei der Produktion von Lacken, Farben, Putzen oder Beschichtungen die Rezeptur im Mittelpunkt. Um die Vielfalt der Varianten abzubilden - das können zehn bis zwölf, aber im Einzelfall auch bis zu 1000 sein -, wird zunächst eine Stammrezeptur hinterlegt, die dann durch entsprechende Arbeitsanweisungen abgewandelt wird. Gemäß der Rezeptur generiert das Programm einen Fertigungsauftrag, nach dessen Vorgaben entweder manuell oder automatisiert die Einwaage der Grundsubstanzen und Zusatzprodukte, die Einstellung von Mischungsverhältnissen, Temperaturen und Rührzeiten erfolgen. Bei der automatisierten Herstellung läuft die Kommunikation mit der Produktionsmaschine in der Regel über eine speicherprogrammierbare Steuerung (SPS), deren Ansteuerung ebenfalls von der Software gewährleistet sein muß. Ist die Charge fertiggestellt, druckt das Programm ein Protokoll aus, in dem die Herstellungsparameter festgehalten sind. Das dient der Qualitätssicherung und vereinfacht bei Fehlchargen die Eingrenzung der Fehlerquelle. "Die Chargenverfolgung war auch mit dem alten System möglich", so Matthias Moorkamp, Leiter der Materialwirtschaft bei Remmers, "mit der neuen Lösung können wir aber nun zusätzlich die Rohstoffdaten erfassen und in das Protokoll aufnehmen. Damit läßt sich später zurückverfolgen, welcher Rohstoff in welches Produkt eingegangen ist. Außerdem vereinfachen die zusätzlichen Funktionen eine weitere Automatisierung der Produktion erheblich."

Eine zusätzliche Herausforderung für die Produktionsplanung: Der Anteil der kundenspezifischen Aufträge nimmt überproportional zu und fordert die Flexibilität der Produktion noch stärker. Gleichzeitig muß eine effiziente Lagerhaltung gewährleistet sein, um den täglichen Spagat zwischen der Vorratshaltung an Standardprodukten und einem möglichst geringen Lagerbestand zu schaffen - Anforderungen, die mit der neu implementierten Software standardmäßig abgedeckt sind. Eine speziell an die Bedürfnisse von Remmers angepaßte Zusatzfunktion liegt in der Selbstverpflichtung des Unternehmens begründet, die Produktauslieferung möglichst 48 Stunden nach Auftragseingang zu garantieren.

Komponenten wurden maßgeschneidert

Auch die Komponenten für die auftragsbezogene Fertigung, zum Beispiel für Produkte in Sondertönen, wurden maßgeschneidert. Um die Auslieferung eingelagerter Ware nicht durch die Produktion der Sondertöne zu verzögern, sortiert das Programm die Artikelnummern für die Spezialanfertigungen aus den Aufträgen zunächst heraus, ersetzt sie durch Platzhalter und bearbeitet sie separat weiter. Erst nachdem das Sonderprodukt die Fertigung verlassen hat und von der Qualitätssicherung zur Auslieferung freigegeben ist, wird die Artikelnummer dem ursprünglichen Auftrag wieder zugeordnet.

Die Auftragserfassung der Außendienstmitarbeiter und die Lagerverwaltung der Außenlager erfolgt direkt vor Ort und stützt sich zur Zeit noch auf eine zugekaufte Software. So ist zwar der Vertrieb draußen immer über die Bestände im Bild, die Zentrale in Löningen erhält die Informationen jedoch zeitversetzt, da die Aufträge nicht unmittelbar übermittelt werden. Abhilfe verspricht sich Klaus Hölzen durch die flächendeckende Installation der Software, die ab April nächsten Jahres das alte System an allen Standorten ersetzen und dann durch einen direkten Zugriff auf die aktuellen Daten einen besseren Bestandsüberblick ermöglichen soll.

ANGEKLICKT

Die rezepturgesteuerte Fertigung verlangt speziell konzipierte Software, die auf dynamische und oft sehr komplexe Produktionsprozesse abgestimmt sein muß. Variable Faktoren wie Mischungsverhältnisse, Rohstoffqualitäten, Viskositäten oder Temperaturen spielen eine wesentliche Rolle. Zusätzlich muß in vielen Branchen eine lückenlose Chargenverfolgung und -protokollierung gewährleistet sein. Das Unternehmen Remmers Bauchemie setzt eine solche Software ein.

*Anke Geipel-Kern ist freie Fachjournalistin im hessischen Fischbachtal.