Beraterspiele in Cannes

Bloß nicht programmieren

16.06.2000
Von 
Alexandra Mesmer war bis Juli 2021 Redakteurin der Computerwoche, danach wechselte sie zu dem IT-Dienstleister MaibornWolff, wo sie derzeit als Head of Communications arbeitet.
Sulzbach oder Cannes? Die Wahl fällt Studenten nicht schwer. Andersen Consulting erhält für ihren Rekruting-Workshop an der Cote d’Azur sechs Mal mehr Bewerbungen, als Plätze zur Verfügung stehen.

Probleme hatte Jens Eckert schon zu Beginn des Studiums einkalkuliert. Mitte der Neunziger war klar, dass ihm sein Studium später nicht die besten Chancen eröffnen würde. Mittlerweile kann sich der Wirtschaftsinformatiker vor Angeboten kaum mehr retten, Probleme hat er aber nach wie vor: "Können Unternehmen halten, was sie mir im Vorstellungsgespräch versprechen? Werde ich auch dort eingesetzt, wo es vereinbart war?" Der Mann aus Münster will ehrliche Antworten auf seine Fragen und hofft, sie in Cannes zu finden.

Dass Andersen Consulting gerade an der Cote d’Azur seinen Beraternachwuchs aussucht, kommt auch Eckert entgegen: "Wäre die Veranstaltung in Sulzbach, hätte ich es mir schon überlegt, ob ich teilnehme." Was im ersten Moment arrogant klingt, wird auf den zweiten Blick nachvollziehbar. Angehende Informatiker werden von den Firmen zunehmend umworben. Je näher das Examen rückt, umso mehr Einladungen zu Rekrutierungsveranstaltungen flattern ins Haus.

Als Andersen Deutschland vor drei Jahren zum ersten Mal nach Cannes einlud, gehörte die Unternehmensberatung mit Hauptsitz in Sulzbach noch zu den Pionieren. Inzwischen fallen große Unternehmen schon aus der Reihe, wenn sie keinen Event mit einem mehr oder minder exklusiven Anstrich anbieten: Die Palette reicht von der Werksbesichtigung im Silicon Valley (Agilent) bis zur Absolventenbörse in Shanghai (Bertelsmann). Allein der Personaldienstleister Access, der auch die Andersen-Veranstaltung organisiert, richtet in diesem Jahr 45 weitere Events aus. Access-Chef Claus-Peter Sommer versteht sich aber keineswegs als bessere Reiseagentur: "Wir hatten schon Anfragen von Unternehmen nach Wüstenrallyes oder Abenteuertrips durch Finnland. Das lehnen wir aus Prinzip ab."

Keine Flucht vor der Schwiegermutter

Fürs Flanieren an der Strandpromenade blieb den 90 Studenten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auch erst einmal gar keine Zeit. Vom Charterflugzeug in den Bus, vom Bus ins Hotel, den Koffer in der Lobby parken, ein paar Scampi als kleine Stärkung zwischendurch und wieder in den Bus, um das Forschungszentrum von Andersen in Sophia Antipolis, dem französischen Silicon Valley, zu besichtigen. Die dort vorgestellten Visionen von der total vernetzten Zukunft, in der dank WAP (Wireless Application Protocol) auch das Auto nichts mehr nützt, um der Präsenz der Schwiegermutter und ihren Einkaufsaufträgen zu entfliehen, riefen bei den Studenten kaum Begeisterung hervor. Die technisch Versierten unter ihnen empfanden die totale Vernetzung schon als Realität. Den anderen hingegen war der Fokus zu technisch, zumal eine Vision auch immer eine philosophische Betrachtung der Zukunft beinhalten sollte.

Mit dem Bild einer Unternehmensberatung verbinden viele Studenten immer noch in erster Linie die große Strategie - ein Image, das sich die Consultants in der Öffentlichkeit auch allzugern geben. Dass die Implementierung einer technischen Lösung in der Realität einen Großteil der Projektarbeit einnimmt, nahm so mancher mit Verwunderung auf. Nur wenige hatten sich darum für das Team "Web Technology" gemeldet, das in den nächsten zwei Tagen auf Basis von XML Versatzstücke für ein elektronisches Bestellverfahren programmieren sollte. Dass man ohne Technikverständnis als Berater nicht auskommt, mussten aber auch die anderen Teams während der Fallstudie über eine Business-to-Business-Plattform erkennen. "Unserer Gruppe fehlte der IT-Spezialist. Wir wissen gar nicht, ob unsere Lösungen überhaupt technisch umsetzbar sind", schränkte das Team "E-Procurement" gleich zu Anfang seiner Präsentation ein. Es hatte sich mit den neuen Prozessen

und Softwareanwendungen, die ein elektronisches Beschaffungswesen nach sich zieht, beschäftigt.

Andersen-Mann Frank Mang, selbst diplomierter Informatiker, weiß um das Problem, dass gerade Informatiker nach ihrem Berufseinstieg nicht nur programmieren wollen: "Diese Angst, dass sie nur vor der Kiste sitzen müssen, ist unbegründet. Einsteiger mit fundiertem technischen Know-how kommen viel schneller von der Implementierung weg als Betriebswirtschaftler, die sich erst in das Thema einarbeiten müssen." Zudem sei es bei Andersen erwünscht, dass man sich ständig weiter entwickelt und nach einigen Jahren als Berater auch Management-Funktionen übernimmt. Darum erwartet die Unternehmensberatung auch von Bewerbern mit profundem technischen Know-how ausgeprägte Soft Skills.

Diese wurden beim Workshop während des sechsstündigen Arbeitens an einem elektronischen Beschaffungssystem getestet. Oft galt es, acht unterschiedliche Meinungen auf einen Nenner zu bringen. Schon beim einheitlichen Vorgehen schieden sich die Geister: Während sich die einen auf den Papierstapel voller Anleitungen und Hintergrundinfos stürzten, hatten die anderen schon einen festen Zeitplan im Kopf und wollten erste Besprechungstermine mit dem Kunden vereinbaren. Nach vier Stunden waren die Flipcharts mit Organigrammen übersät, die Gesichter der Studenten blasser geworden, das Kuchenbuffet geplündert, aber der Jargon der Berater schon in Fleisch und Blut übergegangen. "Wie matchen wir Request und Sourcing?", fragte einer aus dem Procurement-Team und erntete dafür keineswegs verständnisloses Stirnrunzeln.

Jens Eckert ist zufrieden. Der Rundum-Service im Vier-Sterne-Hotel, das Huhn im Kräutermantel im Landgasthof oder die abendliche Tour mit dem Partyboot auf dem Mittelmeer sind aber nicht der Grund dafür. Er hat in den vergangenen drei Tagen eine Vielzahl von Andersen-Mitarbeitern befragt, die ihm auch ehrliche Antworten gaben. "Dass Berater viel unterwegs sind und in der Regel mehr als 35 Stunden arbeiten, sind keine Vorurteile, sondern Fakten", gab etwa Mang. "In einer gewissen Lebensphase kann das spannend, in einer anderen auch problematisch sein. Darum muss man sich alle drei Jahre immer wieder neu fragen, ob man diesen Preis zahlen will." Für Eckert kommen solche Worte überraschend: "Spricht man andere Beratungen auf das Thema Arbeitszeit und Reisen an, heißt es immer, das ist bei uns gar nicht so."

Die offene Atmosphäre in Cannes überzeugte den Wirtschaftsinformatiker aber auch in anderer Hinsicht: "Man konnte sich selbst lockerer geben als im Vorstellungsgespräch. Im Gegensatz zu Assessment-Centern, in denen durch den großen Druck keine Teamarbeit zu Stande kommt, haben wir gut zusammengearbeitet und einander ergänzt."