Bildungsexperte Rissberger fordert mehr Computer im Unterricht Bedenkentraeger in den Behoerden bremsen Multimedia-Entwicklung

17.02.1995

Multimedia muss zur Chefsache werden, sonst verschlaeft Deutschland den Markt der Zukunft und bleibt Schlusslicht unter den entwickelten Nationen, meint Alfons Rissberger*. Er hofft, dass sich junge, innovative Enthusiasten gegen die Bremser in dieser Republik durchsetzen werden. Mit dem Bildungsexperten sprach CW- Redakteur Hans Koeniges.

CW: Sie werfen den Politikern vor, dass sie die Hauptschuld daran tragen, dass sich Multimedia in Deutschland so schwer durchsetzt.

Rissberger: Die meisten Entscheidungstraeger in der Politik haben von dem, was heute im Multimedia-Umfeld passiert, keine Ahnung. Deutsche Politiker lassen Computer benutzen, setzen sie aber selbst nicht ein. Das ist vergleichbar mit dem Verzicht auf Schreiben- und Lesenlernen, weil man ja Leute hat, die das koennen.

CW: Die Zukunft heisst fuer Sie also Multimedia.

Rissberger: Es gab niemals in der Weltgeschichte ausserhalb von Kriegen und Katastrophen eine Entwicklung, die so maechtig war wie Multimedia, die alle Menschen einer Nation betrifft und die nicht Zeit laesst, auf die naechste Generation zu warten.

CW: Was empfehlen Sie den Politikern?

Rissberger: Das Thema Multimedia muss in Deutschland zur Chefsache erklaert werden, genau wie es in den USA der Fall ist. Wir sind auf diesem Gebiet weltweit eines der Schlusslichter unter den entwickelten Nationen.

CW: Es liegt aber nicht nur an den Politikern.

Rissberger: Richtig, die Software muss besser und die Geraete billiger werden. Ich wette mit Ihnen, dass um das Jahr 2000 ein Multimedia-Notebook mit einem Kilogramm Gewicht, von der Groesse eines DIN-A4-Blattes mit Farbmonitor und integriertem optischen Speicherlaufwerk, fuer 1000 Mark im Kaufhaus an der Ecke zu erwerben sein wird. Des weiteren werden wir erleben, dass Software keine Handbuecher mehr braucht, sie wird selbsterklaerend sein.

CW: Woher dieser Optimismus?

Rissberger: Das, was ich beschreibe, existiert exemplarisch. Auf CD-ROM gibt es bereits maechtige, sich selbst erklaerende Produkte, die man durch spielerisches Herangehen lernen kann, ohne ein Handbuch zu lesen.

CW: Jeder wird also zum Autodidakten?

Rissberger: Je aelter die Lerner sind und je weniger die Erziehung eine Rolle spielt, desto mehr wird Multimedia Teile der konventionellen Bildung ersetzen.

CW: Verliert der traditionelle Unterricht damit an Bedeutung?

Rissberger: Seit Hunderten von Jahren hat sich beim Unterrichten nichts veraendert: Ein Gebildeter tritt vor eine Gruppe von Nichtgebildeten und vermittelt Bildungsinhalte. Ich prophezeie Ihnen, dass ein Lehrer in ein paar Jahren mit seinem heutigen Wissens- und Methodenstand die gleiche Funktion einnehmen wird wie der Heizer auf einer Elektrolokomotive.

CW: Wollen Sie auch soweit gehen wie der US-Bildungskritiker Perelman, der die Abschaffung der Schule verlangt und fuer Multimedia-Unterricht zu Hause plaediert?

Rissberger: Das ist eine voellig ueberzogene Vorstellung. Was Schule an Interaktion zwischen Kindern und Lehrern leistet, ist so wichtig, dass sich Schule insgesamt durch Multimedia nicht ersetzen laesst.

CW: Kritik am alten Bildungsmodell, Kritik am radikalen US-Modell? Wie haetten Sie es denn gern?

Rissberger: Eines steht fest: Schule wird sich mit Blick auf bisher praktizierte Methoden und Werkzeuge radikal aendern. Kuenftig wird man fuer die Wissensvermittlung viel weniger Lehrer benoetigen. Sie werden als Berater und Moderator von Bildungsprozessen agieren. Durch den Einsatz von Multimedia haben Lehrer somit endlich die ihnen bis heute fehlende Zeit, Komponenten sozialen Lernens zu vermitteln und Bildungsprozesse zu steuern.

CW: Kritiker meinen aber, dass der Computer nicht unbedingt die Kommunikation foerdere.

Rissberger: Die Paedagogen, die das behaupten, zeigen, dass sie von den tatsaechlichen Gegebenheiten keine Ahnung haben.

Alle Pilotprojekte und Modellversuche haben belegt, dass bei vernuenftigem Multimedia-Einsatz, der von kundigen Paedagogen begleitet wird, die Kommunikation der Lerner intensiver ist als bei jedem konventionellen Unterricht.

Es kommen aber noch neue Kommunikationsmoeglichkeiten dazu. Ein Kind, nennen wir es Lisa, kann in der siebten Klasse mit dem gleichen Multimedia-PC, mit dem sie vorher Englisch gelernt hat, ueber ISDN mit ihrer englischen Partnerschule und ihrer Partnerfreundin kommunizieren und ihre neuen Kenntnisse anwenden.

CW: Und in Zukunft?

Rissberger: Lisa kann sich morgen, das heisst nicht in zehn, sondern in drei Jahren, in Sprache, mit Bild und mit Schrift mit der englischen Freundin austauschen.

CW: Wer schreibt die Programme? Bisher sind gute Anwendungen die Ausnahme.

Rissberger: Um gute Bildungssoftware zu erstellen, ist der Einsatz der besten Lehrer erforderlich. Sie muessen nicht nur qualifizierte Fachwissenschaftler sein, sondern die gesamte Methodenfuelle im Griff haben. Diese erfahrenen Paedagogen sind allerdings die Edelsteine einer jeden Schule, beliebt bei Kindern und Eltern. Es muesste zu einer Kooperation dieser bewaehrten und hochqualifizierten Lehrer mit Software-Unternehmen kommen.

CW: Von den Kultusministern hoert man wenig zu diesem Thema.

Rissberger: Der typische deutsche Kultusminister antwortet auf die Frage nach dem Multimedia-Einsatz: "Wichtiges Thema, wir sind auf einem guten Weg." Das ist zuwenig. Wie soll man denn mitreden koennen, wie soll man zu einer Sache eine Einstellung bekommen, die man im Fernsehen aus fuenf Metern Entfernung drei Minuten lang gesehen hat?

CW: Der von Ihnen geschilderte Kultusminister wird sicherlich auch fragen: Wer soll das bezahlen?

Rissberger: Das ist ein Totschlagargument. Es geht um eine fuer unsere Zukunft zwingend erforderliche Weichenstellung, es geht um unser Humankapital. Wer mit solchen Fragen kommt, liegt falsch. Bildung kann man nicht allein nach ihren Kosten bewerten, die Zukunft von Deutschland haengt vom Humankapital ab.

CW: Diese letzte Aussage koennte auch von einem Politiker stammen.

Rissberger: Die Investitionen fuer Multimedia sind mit Blick auf die Gesamtausgaben im Bildungswesen derart gering, dass die Finanzierungsfrage eine reine Umverteilungsfrage ist. Die Investition in Multimedia entspricht allerhoechstens dem Preis, den eine Lehrkraft in einigen Jahren kostet.

Wenn man die Aufwendungen fuer das Schulgebaeude, die Verwaltung, die Lehrergehaelter oder den Schuelertransport beruecksichtigt, ist die Frage nach den Multimedia-Ausgaben die laecherlichste.

CW: Sind deutsche Buerokraten zu traege?

Rissberger: Wir sind insgesamt Innovationen und technischem Fortschritt wenig aufgeschlossen. Auf jedem Gebiet ueberwiegt Technikkritik. Natuerlich gilt es immer, Chancen und Risiken abzuwaegen. Es ist aber unvertretbar, jungen Menschen die Vorzuege von Multimedia vorzuenthalten. In den Behoerden sitzen zu viele Bedenkentraeger. Wir brauchen aber innovative Leute, die den Mut haben, Neuland zu betreten.

CW: Welche Voraussetzungen muessen geschaffen werden?

Rissberger: Die Projekte, die ich in meiner Zeit im Mainzer Ministerium initiiert und begleitet habe, zum Beispiel das erste Computerprojekt an einer deutschen Grundschule, waren nur moeglich, weil ein Minister diesen Ideen positiv gegenueberstand und mein damaliger Abteilungsleiter ein sehr innovativer Mann war. Haette ich diese Projekte im Haus den entscheidenden Stellen zur Genehmigung vorlegen muessen, waeren sie bis heute nicht gelaufen.

CW: Mit dem Berliner Memorandum (siehe Kasten auf Seite 69) wollen Sie nun dieser Entwicklung, also Einsatz von Computern in der Schule, einen neuen Schub geben?

Rissberger: Mit dem Memorandum wollen wir erreichen, dass sich die Multimedia-Einfuehrung im Bildungsbereich beschleunigt. Jede Schule, auch jede Grundschule, benoetigt hierfuer allerdings ab jetzt mindestens ein Multimedia-System. Dafuer suchen wir Sponsoren, in erster Linie Firmen aus der Computerbranche, die bereit sind, mindestens einer Schule so ein System zur Verfuegung zu stellen. Von IBM, Intel, SNI und Sony kamen bereits positive Signale.

*Alfons Rissberger ist Geschaeftsfuehrer des Datenverarbeitungszentrums Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin. Zuvor leitete er das Referat "Neue Informations- und Kommunikationstechniken" im Kultusministerium von Rheinland-Pfalz.