Thema der Woche

"Bewahrermentalität bremst Jahr-2000- und Euro-Projekt.

08.08.1997

CW: In der Diskussion um die Einführung des Euro und die Bewältigung des Datum-2000-Problems entsteht der Eindruck, daß Anbieter diese Themen ganz bewußt benutzen, um Unternehmen die Chance zu suggerieren, alles zu ändern. Anwender sollen Organisation, Prozesse sowie Hard- und Softwarelandschaft umkrempeln. Sie wollen aber eigentlich nur die beiden genannten Hauptaufgaben meistern und dabei von ihren IT-Lieferanten kompetent unterstützt werden.

Helmuth Gümbel, Managing Director bei Strategy Partners: Diesen Eindruck kann ich nur bestätigen. Zunächst aber schiebe ich der IT-Industrie insgesamt, und da nehme ich die Analysten nicht aus, den Schwarzen Peter zu. Wir haben zuwenig getan, um Anwender auf die Probleme bei der Datumskonvertierung und Einführung des Euro hinzuweisen. Und nun schwärmen die Anbieter mit ihrem Stab von Beratern aus und versuchen, die Not der Anwender zu nutzen, um ihnen ihre Rundumglücklich-Pakete zu verkaufen.

Dabei steuern wir auf eine Katastrophe zu. Wir müssen davon ausgehen, daß eine Vielzahl von Unternehmen den Umstieg auf das Jahr 2000 nicht schafft, vom Euro ganz zu schweigen. Was brauche ich den noch, wenn ich sowieso schon aus dem Geschäft bin? Und selbst wenn alle Anwender sich jetzt schnell entscheiden würden, könnte die heutige Applikationsindustrie mit ihrem Troß an Softwarehäusern und Beratern höchstens 50 Prozent der Fälle bearbeiten.

Burghard Kleffmann, Geschäftsführer Vertrieb bei Baan Deutschland GmbH: Soweit sie Projekte im althergebrachten Stil machen, gebe ich Ihnen voll und ganz recht...

Gümbel: Selbst wenn Baan seine ganzen Ressourcen auf dieses Problem konzentrieren würde, reichten die Kapazitäten bei weitem nicht aus.

CW: Noch mal zum Schwarzen Peter: Die Anbieter haben auf die kommenden Aktionen mit Mailings, auf Veranstaltungen und mit anderen PR-Aktivitäten hingewiesen. Viele Anwender haben aber den Verdacht, daß Hersteller und Berater das Problem 2000 benutzen, um zusätzliches Geschäft zu machen.

Dieter Roskoni, Leiter Marketing Zentraleuropa bei J.D. Edwards: Es ist doch legitim, ein Geschäft zu machen.

CW: Aber darf man dazu die Angst vor dem Jahr 2000 schüren?

Frank Schabel, PR-Manager bei SAP: Es fragt sich in der Tat, ob die Informationen zu den Themen Jahr 2000 und Euro bei allen, die es angeht, nahtlos ankommen. Aber ich glaube, dies ist nicht nur ein Problem der Anbieter. Trotz Mailings, Veranstaltungen und Anzeigen reagieren etliche Mittelständler kaum. Vielleicht hoffen viele, daß es irgend jemand schon richten wird, und schieben dieses Thema erst einmal beiseite, da ihre aktuelle Marktsituation verständlicherweise im Vordergrund steht.

Josef Huber, Leiter ASW IHD Vertrieb und Marketing bei Siemens-Nixdorf Informationssysteme AG: Hinzu kommt in Deutschland die Mentalität "Ich tue erst etwas, wenn mir Strafe angedroht wird." Aus diesem Grund stellen wir bei SNI nun die Werbung, das Marketing und die Mailings auf mehr Druck um, indem wir dem Kunden sagen: Sie werden wesentlich mehr bezahlen müssen, wenn Sie sich erst 1998 oder 1999 um das Problem kümmern. Denn je knapper die Ressourcen und je höher die Nachfrage, desto höher ist der Preis. Mir fällt momentan nichts anderes ein, wie ich den konservativen Mittelstand in Bewegung bringen könnte.

Uli Lindner, Direktor Zentraleuropa J.D. Edwards: Alle großen Anbieter offerieren Lösungen für die genannten Probleme. Und es gibt die glücklichen Anwender, die solche Produkte im Einsatz haben, daß sie die Datum-2000- und Euro-Problematik durch einen Release-Wechsel aus der Welt schaffen können. Leider gibt es aber auch die Unglücklichen, die auf Altanwendungen sitzen und heute Schwierigkeiten haben. Die Anbieter sind aber nicht verantwortlich dafür, daß es in den Unternehmen einen Entscheidungsrückstand gibt, alte Pakete gegen Datum-2000- und Euro-kompatible Produkte auszutauschen.

Roskoni: Es entsteht hier der Eindruck, als wäre der Mittelstand durchweg rückständig. Das ist nicht richtig. Man muß stärker differenzieren. Der innovative Mittelstand ist gut präpariert, interessiert an neuen Organisationsformen und Technologien. Er ist aufgeschlossen gegenüber der Globalisierung seiner Märkte und schmiedet Geschäftsbeziehungen weltweit. Allerdings sind viele dieser Unternehmen leider nicht so innovativ, sondern Bewahrer. Das ist eben auch deutsche Mittelstandsmentalität, und da helfen die Mailings der Anbieter wenig.

CW: Ich habe eher das Gefühl, daß die Großen der Software-Industrie nicht an die kleineren und mittleren Unternehmen herankommen. Und da Softwarekauf nicht die Befriedigung eines Grundbedürfnisses darstellt, kann sich doch die Industrie nicht zurücklehnen und sagen, das sei Mentalitätssache und Entscheidungsstau. Preisen die Anbieter nicht immer noch einseitig ihre Technologie an, während der strategische Nutzen der Information in den Hintergrund rückt?

Kleffmann: Wir heben beim Vertrieb unserer Produkte in erster Linie auf die strategische Bedeutung der Informationstechnologie ab. Es reicht nicht aus, DV nur als Automatisierung der Buchhaltung zu verstehen. Unternehmen sollten realisieren, daß der richtige Einsatz von IT die Wettbewerbsfähigkeit enorm verbessern kann.

Huber: Diese Einstellung findet sich im Mittelstand überhaupt noch nicht. Dort werden die aus vielen Quellen auflaufenden Daten nicht genutzt, um Unternehmen zu steuern.

Roskoni: Kleinere und mittlere Unternehmen wissen kaum, welche Geschäftsmöglichkeiten durch neue Technologien wie das Internet entstehen. Das Internet bedeutet für viele immer noch Schmuddelkino oder surfende Studenten.

CW: Aber ich kann mich doch als Anbieter nicht auf den Standpunkt zurückziehen, mein Kunde ist zu dumm, der versteht nicht, was wir Anbieter mit neuen Technologien wollen. Was tun Sie denn ganz konkret, um den Mittelstand mitzunehmen?

Gümbel: Die von der SAP speziell in Amerika praktizierte Domino-Strategie ist ganz eingängig. Domino heißt, man versucht, den Besten der Branche zu gewinnen, und hofft, daß dann auch die anderen umfallen.

CW: Diese Taktik ist anscheinend aber bei mittelständischen Unternehmen hierzulande wenig erfolgreich.

Wolfgang Martin, Vice-President Europe bei der Meta Group: Es ist für die großen Anbieter in vielen Fällen offenbar auch zu teuer, Vertrieb und Marketing für kleinere und mittlere Companies zu betreiben.

Kleffmann: Aber das ist doch eine Frage des Vertriebskanals. Bei Baan setzen wir für mittlere und kleinere Unternehmen auf erfahrene Vertriebspartner. Das sind Software- und Systemhäuser, die die Anforderungen mittelständischer Unternehmen genau kennen.

Hans-Jürgen Uhink, Vertriebsleiter Systemhäuser, SAP: Auch wir haben den Kanal über rund 30 System- und Softwarepartner gewählt, um die Probleme im Mittelstand besser lösen zu können. Uns ist klar, daß der DV-Leiter eines kleinen Unternehmens kein sechs bis zwölf Monate dauerndes Projekt aufsetzen kann, nur um eine Buchhaltung einzuführen. Da helfen auch die diversen Einführungs-unterstützungs-Tools nur indirekt. In der Zeit, bis man diesen Kunden erklärt, was diese Werkzeuge bewirken, sollte das Projekt bereits abgeschlossen sein. Aus dem Grund haben wir unser Partnerprogramm aufgesetzt. Der mittelständische Unternehmer braucht einen Partner, der die Generalunternehmerschaft übernimmt und die Software installiert und implementiert. Das muß nicht zwingend der Hersteller sein. Sondern dafür eignen sich Unternehmen, die sowohl lokal vor Ort sind als auch die Anforderungen und Branchenaspekte der Mittelstandskunden erfüllen.

CW: Neben den großen Anbietern haben wir in Deutschland auch viele kleine Softwarehäuser. Laut deren Aussagen verfügen alle über eine Lösung, die 2000-fähig ist. Und sie haben auch alle dieselbe Situation wie die großen Anbieter, die hier am Tisch sitzen. Sie gehen zu ihrem Kunden, tauschen das Paket aus, machen die Anpassung der DV und müssen das Problem zumindest theoretisch genauso in den Griff bekommen wie die großen.

Lindner: Die unmittelbar anstehenden Probleme lassen sich zwar damit in den Griff bekommen, denn die Produkte dieser Anbieter sind zum Teil recht gut und decken auch die Anforderungen der Anwender größtenteils ab. Doch fehlt diesen kleinen Software-Unternehmen die Finanzkraft, um innovativ zu sein und ihren Kunden Produkte zu liefern, die nicht nur die Umstellung auf das Jahr 2000 und den Euro verarbeiten können, sondern auch eine Möglichkeit bieten, sich strategisch zu positionieren.

Die Produkte müssen sowohl die technischen Herausforderungen wie Internet, Intranet und Objektorientierung abdecken als auch organistorische Aspekte der Globalisierung und Neuausrichtung von Logistikketten unterstützen. Und das können die meisten dieser Tools nicht.

Gümbel: Softwarehäuser müssen natürlich eine Lösung haben, mit der Datum 2000 und Euro zu bewältigen sind. Damit ist es aber nicht getan. Sie muß auch einen strategischen Nutzen bringen, damit sie nicht mehr nur als elektronische Schreibmaschine verstanden wird.

Dazu kommt, daß Software, auch die der kleinen Anbieter, erst wirkungsvoll wird, wenn sie beim Kunden installiert und eingeführt ist...

Martin: ... und das ist dann ein Release-Wechsel mit allen Problemen, die sich bei einer sehr stark individuell angepaßten Software daraus ergeben. Gerade die Pakete kleinerer Software-Anbieter sind von der Architektur her sehr schwer anpaßbar - das ist Knochenarbeit.

CW: Bewahrermentalität, Entscheidungsstau und veraltete Technik also; die bisherigen Partner des Mittelstands, seine lokalen Softwarelieferanten, können dem Unternehmer anscheinend nicht helfen, die Probleme 2000 und Euro zu lösen und gleichzeitig eine Plattform für künftiges Geschäft zur Verfügung stellen. Wie ist denn die Rolle der Berater zu bewerten? Werden nicht bei der Beratung des Kunden, ob durch freie Consulter oder durch Unternehmen, die entscheidenden, auch technologischen, Weichen gestellt? Könnten diese Experten nicht helfen, den Entscheidungsstau aufzulösen?

Gümbel: Im Prinzip schon, aber die Berater haben noch nicht begriffen, was beispielsweise die Bauindustrie schon längst weiß. Jeder normale Bauunternehmer versucht, möglichst viele Baustellen zu betreiben, und überlegt dann, wie lange halte ich mich da präsent. Während die meisten Berater einen Kunden wie Pizzateig auswalzen - möglichst dünn und lang.

CW: Wie kommt das?

Gümbel: Durch lange unternehmensinterne Entscheidungsphasen, bei denen die Berater eben mitspielen. Ein Kunde, der beispielsweise ein Finanzpaket auswählt, definiert erst einmal viele tausend Anforderungen und erfaßt sie dann in einer Excel-Tabelle. Das kostet etwa eine Million Mark und dauert rund eineinhalb Jahre. Danach braucht er noch ein Feinpflichtenheft. Das kostet nochmal eine halbe Million Mark bei einer Arbeitszeit von sechs Monaten. Für das Entscheidungsprojekt braucht er also insgesamt zwei Jahre, um letztlich herauszufinden, was er eigentlich schon am Anfang wußte.

Martin: Die Frage der Auswahl und auch der Implementierung ist doch das Geschäft der Berater. Sie tun natürlich nichts lieber, als den Pizzateig auszuwalzen, weil sie auf diese Art und Weise die Entscheidungszyklen verlängern und sich im Geschäft halten können.

CW: Zeigt das nicht auch die Angst der Entscheidungsträger in den Unternehmen? Wenn ich mich als Anwender so aussaugen lasse, muß das doch einen Grund haben.

Huber: Solche Entscheidungswege suggerieren Sicherheit. Nach dem Motto: Wenn ich 1000 Leute gefragt habe, laufe ich kaum Gefahr, eine Fehlentscheidung zu treffen.

CW: Machen die Anbieter es den Kunden mit ihren komplexen Produkten zu schwer?

Gümbel: Die Software-Auswahl in der Industrie ist heute zu 80 Prozent nicht rational - das ist eine Bauchentscheidung. Der Unterschied zwischen dem Mittelstand und der Großindustrie ist, die Großindustrie nimmt sich viel Zeit und Geld, um das zu verschleiern. Und die Dienstleister für diese Verschleierung sind Berater.

CW: Was kann man mittelständischen Unternehmen angesichts der Zeit, die bis zur Datumsumstellung und dem Euro noch bleibt, heute raten?

Martin: Entscheidungen zu treffen. Die Zeiten, in denen man die Auswahl einer Softwarelösung auf die lange Bank schieben konnte, sind vorbei.

Huber: Wir starten zum Thema Euro und Datum 2000 gerade ein Programm, das unter dem Schlagwort läuft "Ihre Bedenkzeit ist vorbei". Wir hoffen, damit mehr Bewegung in den Mittelstand zu bekommen. Außerdem haben wir eine Task-force eingerichtet, die Kunden speziell bei diesen Themen unterstützen soll.

Kleffmann: Wir weisen unsere Kunden darauf hin, daß wir von der Anbieterseite her Produkte mit umfassenden Funktionen bereitstellen, aber die Software auch zeitgerecht einzuführen ist. Das kann in der verbleibenden Zeit problematisch werden, wenn der Kunde sich nicht rasch entscheidet. Darüber hinaus sollte Kunden deutlich werden, daß Informationstechnologie und entsprechende Produkte am Markt die Individualität und Flexibilität und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken können. Das setzt ein Umdenken in den Betrieben und entsprechende Werkzeuge voraus, die es erlauben, die Software individualisiert auf die Prozeßanforderungen der Unternehmen auszurichten. Und das darf einfach keine zwei Jahre mehr dauern.

CW: Sollten die Anwender ihren Herstellern schnellstmöglich auf den Zahn fühlen?

Huber: Eigentlich müßte jeder Anwender zu seinem Lieferanten gehen und sagen: "Unterschreiben Sie mir eine Unbedenklichkeitserklärung." Bei SNI lassen wir uns von jedem Lieferanten per Vertrag bescheinigen, daß er voll in der Haftung steht, wenn in Zusammenhang mit dem Jahr 2000 oder dem Euro irgendein Problem in seiner Software auftritt.

Martin: Die richtigen Adressen sind die Verbände der entsprechenden Branchen, etwa der Deutsche Städtetag, der den Industrie- und Handelskammern vorsteht, und das Management in den Unternehmen. Dort muß das Bewußtsein für die bevorstehenden Probleme durch die Datumsumstellung und die Einführung gefördert werden. Die Betroffenen müssen begreifen, daß aus heutiger Sicht die vorhandenen Ressourcen im deutschen Markt nicht ausreichen, um das Jahr-2000-Problem zu lösen und den Euro einzuführen.

Das Doppel-Null-Problem

Spätestens ab dem 1. Januar 2000, Punkt 0.00 Uhr, droht DV-Anwendern eine Katastrophe. Programme könnten ausfallen oder unsinnige Ergebnisse liefern.

Das Problem ist die Jahreszahl, die in vielen Programmen und Datenbeständen nur mit den letzten beiden Stellen angegeben wird. Programme mit zweistelligen Jahreszahlen werden die ab dem 1. Januar 2000 im Datumsfeld erscheinenden zwei Nullen nicht als Kurzform für "2000", sondern für "1900" interpretieren. Die Zeit geht aus Sicht der Programme nicht voran, sondern macht einen Schritt zurück, was fatale Konsequenzen hat. Das Problem 2000 beginnt außerdem nicht erst am 1. Januar jenes Jahres. Viele zukunftsgerichteten Berechnungen kommen vorher bei dem kritischen Datum an.

Mittelstand

SAP verkauft eigenen Angaben zufolge R/3 mittlerweile auch in Unternehmen mit nur acht bis zehn Anwendern. Die Walldorfer verstehen unter Mittelstand Unternehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 15 und 250 Millionen Mark.

Baan hat in der Vergangenheit den Mittelstand in der Spanne zwischen 50 Millionen und 400 Millionen Mark Umsatz angesiedelt. Durch die Verfügbarkeit der Standardsoftware-Version "Baan IV Back Office" wurde die untere Grenze aufgehoben.

J.D. Edwards definiert Mittelstand als Unternehmen mit einem Umsatz zwischen 100 und 750 Millionen Mark.