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Thema des Tages

Bertelsmann rief - und alle, alle kamen...

13.09.1999
Thema des Tages

CW-Bericht, Wolfgang Terhörst

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Wer beim Thema Web-Inhalte etwas zu sagen hat, folgte am vergangenen Wochenende der Einladung von Bertelsmann nach München. Auf dem "Internet Content Summit 1999" diskutierten über 200 Experten aus 25 Nationen kontrovers über eine mögliche inhaltliche Regulierung des Internet.

Die Bertelsmann-Stiftung hat in dieser Diskussion die Initiative ergriffen und versucht, gemeinsam mit einem internationalen Expertennetzwerk zu allgemeinen Richtlinien für die Bewertung und Filterung von Netzinhalten zu kommen. Sie sieht sich dabei als Mittler zwischen Politik, Wirtschaft und Verbrauchern. Auf dem Internet Content Summit präsentierte die Stiftung in Zusammenarbeit mit der Internet Content Rating Association (Icra) und der EU-Initiative Internet Content Rating for Europe (Incore) erstmals der Öffentlichkeit zwölf Thesen zur Zensur im Web (siehe Anhang).

Das Memorandum fußt auf den informellen Gesprächen im Expertennetzwerk sowie auf Gutachten von Wissenschaftlern der Universitäten Yale (USA), Oxford (Großbritannien), St. Gallen (Schweiz) und Würzburg. Die Verfasser legen sehr viel Wert auf Konsens und setzen in hohem Maße auf Selbstregulierungsinitiativen. Wenn aber ein solch komplexes Thema in zwölf knappen Thesen zusammengefaßt wird, steckt der Teufel im Detail. Obwohl alle Teilnehmer die Initiative begrüßten und eine gemeinsame Linie bemüht waren, gärte es doch unter der Oberfläche. Die Spannbreite der Meinungen reichte von "tastet das Netz nicht an" bis zu "der Staat muß es richten".

Ira Magaziner, bis Anfang dieses Jahres Berater des US-Präsidenten in Sachen Internet gab die Marschroute in seiner Eröffnungsrede vor: Alle Versuche, das Web zu zensieren oder ihm zentralisierte Regeln zu verordnen, seien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Magaziner forderte Selbstregulierung, wo immer es möglich sei. "Die Entwicklung verläuft zu schnell, als daß Regierungen das Heft in die Hand nehmen könnten. Ihre Entscheidungsstrukturen sind zu langsam und unflexibel. Sie sollten im Hintergrund bleiben, beobachten, lernen und Selbstregulierungsorganisationen unterstützen", so der Berater. Eingreifen sollten Regierungen nur dort, wo es unerläßlich sei, beispielsweise im Vertragsrecht. Staatliche Stellen sollten daher einheitliche Grundlagen schaffen, damit der Markt sich frei entwickeln kann. Magaziner lehnt eine internationale "Über-Organisation" ab und setzt auf viele spezialisierte Gruppen.

Bundesinnenminister Otto Schily konzedierte in seiner Replik, daß der Staat sich in der Tat nicht für alles verantwortlich fühlen dürfe. Er betonte gleichwohl, daß das Internet kein rechtsfreier Raum sein dürfe in dem Sinne, das die Beurteilung und Verfolgung von Gut und Böse ganz in private Hände gelegt würde. "Filtersysteme dürfen nicht zu einem Alibi für Diensteanbieter werden, die Verantwortung für Inhalte auf die Nutzer abzuwälzen", so der Minister. Die Regierungen seien verpflichtet, die Rechte ihrer Bürger zu wahren - allein schon der Glaubwürdigkeit wegen.

Mark Wössner, Ex-Chef des deutschen Mediengiganten und jetzt Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, versuchte als Gastgeber die Wogen zu glätten. Er legte er die Schwierigkeiten dar, ein flexibles, globales Selbstregulierungsnetzwerk zu etablieren, das unterschiedlichen kulturellen Empfindungen gerecht wird. Denn was beispielsweise in den USA als pornografisch empfunden wird, muß in Deutschland noch lange kein Problem sein. Umgekehrt reagieren die Deutschen wesentlich empfindlicher auf Extremismus aller Art als die Amerikaner.

Gareth Grainger von der australischen Telekommunikationsbehörde ABA (Australian Broadcasting Authority) führte das Stichwort von der Co-Regulierung in Diskussion ein - so verstanden, daß der Staat am Ende Lösungen für die Öffentlichkeit finden müsse. Australien beispielsweise verpflichte sämtliche Provider, sich an einem bestimmten Verhaltenskodex zu orientieren. In einer Umfrage habe er hohe Zustimmung für dieses Verfahren erhalten, so Grainger.

Das ließ sich Esther Dyson, "First Lady des Internet" und derzeitige Interimsvorsitzende der Domain-Organisation Icann (Internet Company for Assigned Names and Numbers) nicht zweimal sagen. Ganz subtil fragte sie Grainger, warum denn in der Erhebung die Frage gestrichen wurde, wer denn besser geeignet sei, Inhalte für Kinder auszuwählen - die Eltern oder die Regierung? Um gleich hinzuzufügen, daß es nicht Aufgabe von Regierungen sein kann und darf zu entscheiden, was die Menschen sehen dürften. Grainger erntete mit seiner Antwort, man habe eben aus Geldmangel bestimmte Fragen streichen müssen, Gelächter im Saal. Dyson spielte ihre Rolle als Anwalt des freien Informationsflusses im Internet mit Bravour. Sie fragte mit Recht, wo denn die Grenzen zu ziehen seien. An das Publikum gewandt: "Halten Sie Lolita von Vladimir Nabokov für gute Literatur? Ok, würden Sie das Buch Ihrem 11jährigen Kind geben? Ihrem 18-jährigen Kind?" Dyson setzt auf die

Entwicklung von Filter-Tools und die Entscheidungsfreiheit der Anwender. Allerdings sollte es niemals eine zentrale Instanz geben, die ein Bewertungs- oder Filtervokabular entwickelt und vorschreibt - weder national noch global. Damit sprach sie Organisationen wie der "Global Internet Liberty Campaign" aus der Seele, die befürchten, daß derartige Kataloge zur Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Kontrolle der Web-Anwender führen könnten.

Jean-Francois Abramatic, Chairman des World Wide Web Consortium (W3C) nahm den Befürwortern von Filtersystemen mit einer knappen Bemerkung jede Illusion: es sei ohnehin vollkommen unmöglich, Millionen von Netzinhalten sozusagen proaktiv zu sichten, zu bewerten und schließlich zu filtern. Außerdem stehe man erst am Anfang des Problems, da heute erst zwei Prozent der Weltbevölkerung Zugang zum Internet hätten. Andere Redner wiesen zusätzlich auf den enormen Kostenaufwand für Provider hin, falls diese verpflichtet würden, Inhalte zu filtern.

AOLs Senior Vice-President George Vradenburg brachte mit einem sehr pragmatischen Drei-Punkte-Ansatz schließlich wieder Ordnung in die Debatte: erstens müßten Anwender durch Filtertools selbst in die Lage versetzt werden, zu entscheiden, zweitens müßten Eltern, Kinder und Verantwortliche besser geschult werden und drittens müßte das Bewußtsein für die spezifischen Probleme des Internet bei den staatlichen Stellen geschärft werden. Wie das letztlich geschehen soll, ließ auch Vradenburg offen.

Anhang: Die "Zwölf Thesen" der Bertelsmann-Stiftung:

Es müssen Mechanismen für den Umgang mit illegalen Inhalten gefunden werden, ohne die Meinungs- und Informationsfreiheit zu schwächen.

Die Selbstregulierung soll mit einem integrierten, systematischen und dynamischen Ansatz auf internationaler Ebene verwirklicht werden.

Für die Industrie müssen entsprechende Verhaltenskodizes geschaffen werden.

Die Verabschiedung und Durchsetzung von Verhaltenskodizes muß in den Händen der Selbstregulierungsinstitutionen liegen.

Staatliche Stellen sollten die Verhaltenskodizes ratifizieren und durch Strafverfolgung oder andere Maßnahmen flankieren.

Klassifizierung und Filterung von Internet-Inhalten sollen zentrale Instrumente zur Emanzipation der Nutzer werden.

Filtersysteme müssen gleichzeitig Nutzerautonomie, Meinungsfreiheit, ideologische Vielfalt, Transparenz, Datenschutz, Interaktivität und Kompatibilität gewährleisten.

Hotlines müssen sicherstellen, daß Benutzer auf Internet-Inhalte reagieren können, die sie für problematisch halten.

Inhalte sollten dort verfolgt werden, wo sie herkommen.

Provider, die als Mitglieder einer anerkannten Selbstregulierungseinrichtung deren Regeln befolgen, sollten ebenso wie reine Zugangsanbieter von Strafverfolgung frei bleiben.

Zuständige Strafverfolgungsstellen müssen eingerichtet und ständig weiterentwickelt werden.

Die Allgemeinheit muß für Mechanismen der Selbstregulierung sensiblisiert werden.