Berliner Schulen erproben den Information-Highway Vom klassischen Unterricht zur virtuellen Kommunikation

24.03.1995

Mit dem Berliner Projekt Comenius, in dem fuenf Schulen an die Datenautobahn angebunden werden, sind grosse Hoffnungen an die Bildung von morgen geknuepft. Winfried Gertz* sagt, worum es in diesem Projekt geht, das seine Initiatoren als Weltpremiere bezeichnen.

An der Spree beginnt eine neue Zeitrechnung. Nach intensiven Recherchen und akribischer Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse ueber den Einfluss des schulischen Lernens auf die Entwicklungsmoeglichkeiten von Kindern startet zu Beginn des kommenden Schuljahrs das Comenius-Projekt in Berlin. Fuer insgesamt fuenf Schulen aus West und Ost der Hauptstadt - Grundschulen, Gesamtschulen, Gymnasien und eine Jugendkunstschule - bricht dann das multimediale Zeitalter fuer diese Schulen an: Sie werden ueber Glasfasertechnologie, Videokonferenz- und Virtual-Reality-Systeme miteinander verbunden.

Interesse des weltweit einzigartigen Forschungs- und Entwicklungsprojekts ist es, herauszufinden, welche Kreativitaetspotentiale in Kindern stecken, die durch das Lernen mit multimedialen Elementen hervorgerufen werden.

Auftraggeber des vom Berliner Senat unterstuetzten Projekts ist die Telekom-Tochter DeTeBerkom, die auch das ATM-Netz zur Verfuegung stellt. Weitere Partner sind die Berliner Unternehmensberatung Condat, die Softwarefirma Ponton, Hannover, sowie das Institut fuer Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht

(FWU), Muenchen, dessen Direktor Dieter Kamm die Gesamtverantwortung fuer Comenius traegt.

Was ist nun das einzigartige an diesem nach dem Pionier der modernen Medienpaedagogik, Johann Amos Comenius, benannten Projekt? Wie Recherchen zeigen, spielen neue Technologien insbesondere im Bereich der betrieblichen Aus- und Weiterbildung eine grosse Rolle. Das Stichwort lautet: Computer-based Training (CBT).

Fuer Projektleiter Kamm ist dieser Ansatz jedoch zu maschinenorientiert, nicht lernpsychologisch fundiert und ueberdies ohne jegliches kommunikative Lernmodell aufgebaut. Comenius unterscheide sich davon grundsaetzlich, so Kamm, indem auf der Basis von ATM und Breitbandtechnologie Schulen miteinander vernetzt werden. Ueber Videokonferenz werde jeder mit jedem kommunizieren koennen und ueber die Multimedia-Technik der grafischen Benutzeroberflaechen in virtuelle Kommunikationsraeume eintreten.

Schueler werden Lernverfahren entwickeln, die sich von denen des traditionellen Unterrichts deutlich unterscheiden. Dies ist auch lernpsychologisch ein ganz neuer Ansatz, der Ausgang des Projekts bleibt dabei voellig offen. Im Interesse der Schueler, Eltern und Lehrer, auch im Interesse des gesamten Bildungsbereichs geht man mit aeusserster Vorsicht an das Thema heran: Ingenieure und Techniker, lautet die Devise, sollten diesmal nicht die treibende Kraft sein.

Das Lernen per Telekommunikation oder Videokonferenz ist nichts Neues. Insbesondere in der beruflichen Weiterbildung - Stichwort Tele-Learning - gibt es zahlreiche Erfahrungen und Praxismodelle. Lernen auf Distanz sowie internationale Vernetzung der Weiterbildung sind Aspekte, die zum Beispiel im Rahmen des Delta- Programms der EG (Developing of European Learning through Technological Advance) im Mittelpunkt standen. Offenes und flexibles Lernen ueber Satellitenkommunikation und ISDN spielen bei Lernszenarien wie dem interaktiven Fernunterricht und der individuellen Fernbetreuung durch Tutoren eine besondere Rolle. Um den auch europaweit an Bedeutung gewinnenden Weiterbildungsbereich zu unterstuetzen, wird derzeit das Eurpopean Training Network (ETN) aufgebaut.

International sollen Ressourcen geteilt und Kostenvorteile erzielt werden. Fuer Friedrich von Stachelsky, Experte auf dem Gebiet des Tele-Learning und ebenfalls verantwortlich im Comenius-Projekt taetig, foerdert das offene und flexible Lernen ueber Telekommunikation auch das ganzheitliche Denken im Organisationsverbund von Unternehmen. Nicht die geografische Lage, sondern Interessen und Kompetenzen sind die Merkmale der Lernorte am Arbeitsplatz.

Bei Comenius hingegen handelt es sich um den Versuch, traditionelle Lernbedingungen zu beeinflussen. Wie findet eigentlich Schule statt, wie sieht der "normale" Unterricht aus? Lehrer und Schueler betreten einen Raum, die Klassentuer wird geschlossen, ein Stoff durchgenommen. Schueler bringen ihre Lehrbuecher mit, Lehrer entwickeln etwas an der Tafel, und in diesem Kommunikationsmodell "Lehrer/ Schueler" oder "Schueler/Schueler" muessen sie sich einen Stoff erarbeiten, der dann in Form einer Klassenarbeit abgefragt wird.

Das geschlossene Kommunikationsmodell des Klassenraums wird in Comenius vollkommen aufgeloest. Schueler unterschiedlicher Schulen und Altersgruppen treten in einen direkten Kommunikationsverbund miteinander und lernen, indem sie sich die Lernkomponenten nach ihrem Gusto heranholen. Gymnasiasten koennen beispielsweise Grundschuelern bei der Bewaeltigung einer Aufgabe behilflich sein.

Kreativitaetspotential bisher nicht gefoerdert

Umgekehrt ist es aber vorstellbar, dass Siebenjaehrige durch fruehe Erfahrungen im Umgang mit Computertechniken spielerische und kreative Lerntechniken einbringen werden, die wiederum aelteren Schuelern oder Lehrern weiterhelfen koennen.

Das Kreativitaetspotential, das in jedem einzelnen Kind steckt, wie Projektleiter Kamm betont, werde im ueblichen Schul- und Lernsystem in der Regel nicht gefoerdert. Strukturierte Dinge seien vorgegeben, der Schueler oder der Lernende in der Weiterbildung muss das abarbeiten, was ihm vorgegeben wird. Das traditionelle Lernen kennzeichnet laut Kamm auch die Delta-Projekte, in denen man sich durchaus Texte oder Grafiken zusenden lassen und diese bearbeiten kann, aber auch den vorgegebenen Stoff abarbeiten muss.

Dass man in einem neuen Kommunikationsverbund etwas gemeinsam kreativ entwickle, sei bei Delta kaum gegeben. Mit Comenius jedoch werde Schule in Frage gestellt; hier wird die klassische Form des Schulunterrichts aufgehoben, und hier steht auch betriebliches Lernen zur Disposition.

Der Lehrer von heute ist vor allem unzufrieden. Die Umsetzung individueller paedagogischer Konzepte wird im Unterricht durch die wachsende Stoffuelle zusehends einschraenkt. Zum Teil wurde dies in den letzten Jahren durch den Uebergang vom fach- zum projektorientierten Unterricht ausgeglichen. Oekologie zum Beispiel ist im fachorientierten Unterricht fehl am Platz.

Soziokulturelle und ethisch-moralische Aspekte sowie technische, chemische und biologische Fragen wollen miteinander verknuepft werden. Comenius bietet den Berliner Lehrern ein neues Modell an, mit dessen Hilfe sie das projektorientierte Lehren erproben koennen. Und dass dabei hochmoderne Technik zur Verfuegung gestellt wird, hat sowohl unter Lehrern, aber auch bei Eltern und Kindern Interesse geweckt.

Wie aus der Knowledge-Gap-Forschung bekannt ist, verstaerkt die Informationsflut die Wissenskluft unter den Menschen. Je hoeher das Bildungsniveau, desto mehr profitiert der einzelne; hat er wenig Bildung erfahren, vergroessert die Informationsflut sein Wissensdefizit. Comenius will Schueler mit Wissensdefiziten oder Lernstoerungen gezielt unterstuetzen.

Kamm holt etwas aus: "Vor der Einfuehrung der Buchdruckerkunst und der kulturellen Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens hatten die Menschen keine Chance, sich in den Codes der Schriftsprache auszutauschen. Zunaechst profitierten nur Kloester und Wissenschaftler von den neuen Moeglichkeiten, das gemeine Volk jedoch hatte keinen Zugang zu den Dingen." Die dadurch entstandene grosse Wissenskluft wurde zudem politisch und religioes ausgenutzt.

Bei der allgemeinen Bildungsmoeglichkeit von heute sind die Codes fuers Rechnen, Schreiben und Lesen nahezu selbstverstaendlich. "Aber in den Uebergangszeiten", so Kamm weiter,

"gab es gruendliche Verschiebungen: Dass heute ein Kind aus einer Bochumer Arbeiterfamilie Professor werden kann, das waere in der damaligen Zeit undenkbar gewesen."

Im Projektzusammenhang vermutet Kamm, dass es zu Verschiebungen von Intelligenzpotentialen kommen kann. Dass moeglicherweise eine andere Form von menschlicher Kreativitaet eine Rolle spielen wird und bislang sozial und kulturell benachteiligte Schueler bessere Chancen erhalten werden. Das neue Kommunikationsmodell bewirkt seiner Ansicht nach auch eine Demokratisierung der Bildung, denn es richtet sich an jeden. Jeder sollte Zugang zu den modernen Kommunikationsnetzen bekommen.

Wenn ein Schueler eine Lernschwaeche im Deutschen habe, skizziert Kamm ein Beispiel, koenne er sich in einer multimedialen Bildersprache vielleicht wesentlich leichter ausdruecken und bewegen. Ganz neue, interkulturelle Codes koennten so entstehen. Neue Kulturtechniken des Vernetzens, des Herleitens von Synergien sowie des Simulierens koennten weitere Kreativitaetspotentiale erschliessen. Das tuerkische Maedchen aus Kreuzberg oder der Junge aus Marzahn bringen individuelle Erfahrungen in die Kommunikation ein. Diesen Prozess versucht Comenius zu foerdern.

Das Kind erspielt, ertastet sich die Welt und geht in einer Spontaneitaet mit den Dingen um, die von seinen Gefuehlen, Emotionen und seinen Beduerfnissen bestimmt sind. In diesem Umfeld lernt das Kind. Die Schule der Industriegesellschaft war schlimm: Stillsitzen, Ordnung, Sauberkeit, Puenktlichkeit, Reproduzieren des Wissens - genauso wie es sich der Lehrer vorstellte und nicht anders, sonst hagelte es schlechte Zensuren.

In Berlin wird das alles auf den Kopf gestellt. Deshalb auch die Mischung der Berliner Schulen (vgl. Abbildung 1). In Marzahn und dem Bezirk Prenzlauer Berg etwa war der Computer im Unterricht noch vor einem Jahr etwas ganz Exotisches. Und in einem halben Jahr werden diese Schulen an das modernste System angeschlossen sein.

Waehrend derzeit die Ausschreibung fuer die Installation der Hardware laeuft, wird mit Hochdruck an der Vernetzung des Comenius- Verbunds gearbeitet, dessen lokale Netzwerke die Condat einrichtet und betreut. Laut Condat-Projektleiter Christof Peltason gehoeren dazu Multimedia-Arbeitsplaetze mit einfach zu bedienender Software und einer einheitlichen dreidimensionalen Benutzeroberflaeche, die von der Softwarefirma Ponton aus Hannover entwickelt wurde.

Fuer die Datenuebertragung stehen mehrere standardisierte Verfahren zur Auswahl (vgl. Abbildung 2). Schulintern sowie zwischen den Schulen und der als "Competence Center" fungierenden Landesbildstelle Berlin kommen schnelle Uebertragungsverfahren wie ATM und Dedicated Ethernet zum Einsatz. Verbindungen zu ausserschulischen Arbeitsplaetzen lassen sich ueber weniger schnelle, dafuer aber allgemein verfuegbare Netze (ISDN, POTS) bereitstellen. Lehrer, Schueler und Eltern koennen deshalb auch zu Hause mit Comenius kommunizieren. Sie erhalten Zugang zu verschiedenen Mailboxen sowie zum Internet.

Die gesamte Projektplanung verlaeuft dreistufig. Das Feldexperiment Comenius, in dem sich Schueler per Videokonferenz zum Beispiel in Projekten zur Stadtteilgeschichte oder Gewaesseroekologie tummeln, wird in Pilotprojekten der Telekom in Stuttgart, Berlin, Leipzig, Hamburg und Muenchen weiterentwickelt. Mit dem Kultusministerium in Stuttgart ist ein aehnliches Teilprojekt in Planung; in Leipzig werden ebenfalls schon entsprechende Vorbereitungen getroffen.

In einem Berliner Projekt fuers interaktive Fernsehen ist Comenius auch mit von der Partie.

Dazu Kamm: "Mit Comenius entwickeln wir ein Werkzeug, das

wir parallel in Projekten mit anderen Schwerpunkten adaptieren, in Bayern zum Beispiel in Zusammenarbeit mit BMW, Siemens und beruflichen Schulen. In Sachsen hat man offene lernpaedagogische Vorstellungen, was honoriert werden muss. In Stuttgart werden wir insbesondere in den privaten Bereich hineingehen."

Anwendungen sind multimedial vernetzt

Die Verantwortlichen wollen eine Matrix entwickeln, in der unterschiedliche Schulen, Schulformen und Anwendungsgebiete multimedial miteinander vernetzt sind: das Lernen von Sprachen, Nachhilfeunterricht fuer Mathematik und das Ueberpruefen von Lernschwaechen auf anderen Gebieten. In der dritten Stufe schliesslich geht man in die Flaeche, wie mit den Schultraegern Deutscher Staedtetag und Deutscher Landkreistag abgestimmt.

"Man muss auch in die Landkreise gehen, wo eine andere soziokulturelle Struktur vorherrscht als in den Grossstaedten", betont Kamm. "In Deutschland regiert das foederale System. Hamburg macht einen anderen Geschichtsunterricht als Dresden oder das Saarland. Es gibt hoechst unterschiedliche kulturelle Voraussetzungen in Ostfriesland und Oberbayern, dem widmet sich die FWU als Institution aller 16 Laender."

Diese unterschiedlichen Gegebenheiten will man miteinander verzahnen und damit auch einen Impuls geben fuer die Entwicklung der europaeischen Verstaendigung der Zukunft. Dazu wuerden auch Gespraeche mit der Bangemann-Gruppe, mit dem Zukunftsministerium und der Kultusministerkonferenz gefuehrt.

"Dies hat europaeische Perspektive", meint Kamm ueberzeugt.