Berliner Industrie versucht im Brandenburgischen ihr Glueck

02.12.1994

Mit einer "Fabrik der Zukunft" will die Francotyp-Postalia GmbH ihre Wettbewerbsfaehigkeit verbessern. Fuer dieses Vorhaben packte der bisher in Berlin und Offenbach ansaessige Hersteller fuer Postbearbeitungssysteme seine Koffer, zog in den Landkreis Oberhavel und baute auf einem 40000 Quadratmeter grossen Acker nahe des Berliner Rings fuer rund 60 Millionen Mark eine moderne Fertigungsstaette.

Birkenwerder: Rund 6000 Seelen zaehlt die am noerdlichen Stadtrand Berlins liegende Gemeinde. Mit seiner Naehe zur Metropole galt der Ort bisher eher als Wohn- und Gartensiedlung der Hauptstaedter. Nun scheint frisches Industrieleben in die von Waeldern umgebene Region zu kommen: Anfang Oktober feierte die Francotyp-Postalia GmbH (FP), der in Deutschland groesste Anbieter von Postverarbeitungssystemen, mit rund 800 Gaesten den Einzug in ihre "Fabrik der Zukunft".

Die seit 1925 unter dem Namen Francotyp am Markt agierende und heutige Tochter der Deutschen Telephonwerke AG & Co. (DeTeWe) sieht den Standort Brandenburg als "unsere neue Heimat" an, zumal "im Gegensatz zur Bundeshauptstadt die Ansiedlung von Firmen noch gefoerdert wird", erklaert Harald Windel, technischer Geschaeftsfuehrer des Unternehmens.

Der Auszug von Mittelstaendlern aus der Hauptstadt ist fuer boese Zungen kein Wunder: Die Berliner Stadtvaeter, meinen sie, haetten mehr mit der Umbenennung von Strassen und Plaetzen im Ostteil der Stadt zu tun, als sich um die Sorgen der heimischen Firmen zu kuemmern.

Mit Sack und Pack sei man in ein "investorenfreundliches Klima" gezogen, so der Manager, um von hier aus dem "drastisch haerter gewordenen Wettbewerb" mit einer Konzentration standzuhalten. Nach dem Auftragsboom im letzten Jahr - die Umstellung der Postleitzahlen und neue Portogebuehren brachten der DeTeWe-Tochter einen Umsatz von etwa 182 Millionen Mark - bekam der Postmaschinenhersteller die wirtschaftliche Rezession zu spueren. Deshalb falle der diesjaehrige Umsatz auch "deutlich niedriger aus als geplant", verkuendet die Geschaeftsleitung, ohne jedoch Zahlen zu nennen.

Froh ueber die Ansiedlung der neuen Steuerzahler ist der Buergermeister der im Jahre 1355 gegruendeten Gemeinde. Auf dem "kleinen, aber feinen Gelaende" wollte Kurt Vetter keine Supermarktfahnen flattern, sondern Investoren sehen, die eine "vernuenftige Entwicklung" ankurbeln. In der FP sieht er eine "Lokomotive", die weitere Firmen in die Region locken koennte.

Mit der attraktiven Produktions- und Buerostaette inmitten von Gruenanlagen und Feuchtbiotop, in die rund 60 Millionen Mark investiert wurden - das Land Brandenburg beteiligte sich mit 23 Prozent -, verspricht sich FP-Chef Windel "neue Impulse und eine bessere Wettbewerbsfaehigkeit auf dem Weltmarkt".

Zum Konzept "unseres innovativen Betriebes" gehoeren laut dem technischen Geschaeftsfuehrer neben Just-in-time-Konzepten fuer Produktion und Logistik auch "Gruppenarbeit als wichtigster Baustein, um Kosten und Durchlaufzeiten zu senken". Ohne eine zentrale Datenverarbeitung, die per Netz alle Informationen auffaengt und verarbeitet, sei das Ganze jedoch nicht machbar. So war es fuer den kaufmaennischen Chef der Firma, Werner Hesshaus, auch keine Frage, wo das bislang im Berliner Bezirk Reinickendorf stationierte Rechenzentrum kuenftig seinen Platz finden soll: "Fuer eine aktive Marktgestaltung werden alle unsere Kraefte in Birkenwerder konzentriert", entschied man.

Also wurden am 7. Oktober innerhalb weniger Stunden die DV-Anlagen in Berlin gekappt und das komplette RZ am neuen ostdeutschen Domizil installiert.

Derzeit sind an das zentrale Novell-Netz der Birkenwerder - einem Collapsed-Backbone mit 800 Mbit/s, 300 PCs, 100 Ter-

minals, 50 Druckern sowie 100 Laptops der vierzehn Niederlassungen unter anderem in Leipzig, Dresden, Muenchen und Hannover gekoppelt.

Als Host-Basis stehen vier HP3000 mit insgesamt 50 GB Speicherkapazitaet zur Verfuegung. Fuer die kuenftig im Unternehmen genutzte Software war der Umstieg von DOS- auf Windows- Applikationen notwendig, resuemiert DV-Leiter Ralph von Beauvais.

Auf weitere Updates habe man jedoch verzichtet. Neben MS-DOS 5.0 haetten sich Anwendungen unter Winword 2.0 und Excel 4.0. bewaehrt und wuerden nicht durch neue Versionen aufgestockt.

Damit spare man nicht nur Kosten, sondern verhindere zeit- aufwendige Tests fuer Neuinstallationen, argumentiert der studierte Informatiker. Ausgebaut werden sollen im Unternehmen jedoch die Moeglichkeiten fuer die Kommunikation. Im Gespraech sind Mail-Systeme und PC-Fax-Loesungen.

Zu einer Fabrik der Zukunft gehoert eine "abgespeckte Fertigung", wissen die beiden Geschaeftsfuehrer. Die Produktion von Qualitaet ist fuer sie "nur mit flexiblen Systemen und dem Engagement der Mitarbeiter" moeglich.

Drei DV-Projekte, die bereits 1992 gestartet und jetzt erweitert wurden, sollen zur sicheren Existenz der Wahlbrandenburger beitragen.

Unter dem Motto "Kiss" (Keep it simple, simple...) werden laut von Beauvais vor allem die zwei Lean-production-Saeulen "Jit" und "Kanban" die Ablaeufe in der Fertigung optimieren: Mit dem Just-in- time-Projekt (Jit) wird kuenftig die Materialversorgung ueber das heterogene Netz gesteuert. Der Ausbau des Systems - genutzt wird das PPS-Paket "Format" der Gesellschaft fuer Informatik mbH (GfI) aus Fellbach - habe "erhebliche Veraenderungen" in der Organisation des Unternehmens und der bis dato genutzten Software gebracht, heisst es. Allerdings bedeute das nicht, dass man ueber Subsysteme oder sogenannte PPS-Anhaengsel versucht habe, veraltete Versionen kuenstlich aufzupeppen. Gemeinsam mit der GfI sei ein passendes Standardprodukt entwickelt und realisiert worden.

Unterstuetzung gibt dabei "Kanban" - zu deutsch: Schild oder Karte -, ein in Japan entwickeltes Verfahren, um Lagerbestaende zu minimieren. Mit dem "selbststeuernden System fuer die Fertigung" sollen einerseits die Bestaende und damit die Kapitalbindung gering gehalten und andererseits die Lieferbeziehungen in Produktion und Verkauf stabilisiert werden, erklaert DV-Projektleiter Siegfried Saabel. Eine wesentliche Rolle spiele das Hol-Prinzip: "Alles Material muss zu jeder Zeit zur Verfuegung stehen und auf optimalem Wege kurzfristig von den Bearbeitern beschafft werden koennen."

Neben der "vollen DV- Integration" aller Bereiche soll in Birkenwerder ein Teleportodatencenter fuer die ausreichende Bestueckung der Frankiermaschinen beim Kunden sorgen. Von Beauvais dazu: "Ueber Telefon oder das Geraetemodem des Systems kann der Kunde jeden gewuenschten Betrag nachtanken." Die Fernwertvorgabe soll das bislang uebliche Erwerben der Portostreifen bei der Post eruebrigen. Fuer den Service wurde im Unternehmen ein zusaetzliches LAN - zwei Unix-Server mit externen Plattenspeichern und einer Kapazitaet von 4 GB - installiert. Noch feilt man im neuen Werk an dem DV-Konzept, damit "alles rundum perfekt" wird.

Zum Standard soll dann auch das Computer Aided Selling (CAS) in den vierzehn Niederlassungen gehoeren. Neben den klassischen Funktionen wie der Auswahl und Verwaltung von Adressen sowie dem Ausschreiben von Angeboten etc. wird fuer den Aussendienst eine effektive Kundenbetreuung mittels Notebooks realisiert.

Unter anderem gehoeren dazu eine Vernetzung der tragbaren Geraete und der Zugriff auf die Datenbank des Hosts.

Als einen "Knueller" bezeichnen die Birkenwerder ihr Mailing- System: "Damit sind alle Vertriebsmitarbeiter jederzeit und ueberall erreichbar", heisst es stolz. Derzeit sind in der neuen Fabrik rund 550 Personen beschaeftigt. Zwanzig Prozent davon seien aus Ostdeutschland, erklaert Windel. Ein Fakt, den der Brandenburger Minister fuer Wirtschaft, Mittelstand und Technologie, Walter Hirche, nicht genug loben kann.

Wenn auch fuer die Reinickendorfer und Offenbacher der Weg ins Havelland "sicher nicht einfach gewesen" sei, die Landesregierung "begruesst diesen Schritt". Schliesslich schaffe man so nicht nur Arbeitsplaetze, sondern sorge auch fuer eine moderne Industrie im Lande.