Berlin im Zeichen der Kunst CAD-Simulation unterstuetzt die Verhuellung des Reichstages

21.07.1995

BERLIN (CW) - Zwei Wochen hatten Kunstinteressierte und Schaulustige Gelegenheit, den verhuellten Reichstag in Berlin zu bestaunen. Die Vision zu diesem Ereignis hatte Christo bereits 1971, doch die heisse Realisierungsphase des Projekts begann erst nach der Zustimmung des Deutschen Bundestags am 25. Februar 1994. Ueber ein Jahr lang bereiteten sich die beauftragten Firmen mit Hilfe von Statik-, Konstruktions- und Simulationsanwendungen auf die kuenstlerische Aktion vor.

Die eigens fuer dieses Projekt ins Leben gerufene "Verhuellter Reichstag GmbH" beauftragte auf Christos Wunsch hauptsaechlich deutsche Unternehmen mit der Realisierung des ohne oeffentliche Gelder und nur aus Eigenmitteln finanzierten Projekts. Verantwortlich fuer den technischen Part zeichnet die IPL Ingenieurplanung Leichtbau aus dem baden-wuerttembergischen Radolfzell. Das Architektur- und Ingenieurbuero arbeitet seit Jahren im Bereich "leichter Flaechentragwerke" mit Stoffzuschnitten und statischen Berechnungen. Ein Beispiel: Eine Nachbildung der amerikanischen Freiheitsstatue als pneumatisches Modell im Massstab eins zu zwei wurde bei den Schwaben konstruiert.

Die Arbeiten in Radolfzell begannen zunaechst mit der Suche nach alten Plaenen und Architekturvorlagen von Bau (Einweihung des Reichstages 1894, Architekt Paul Wallot) und Wiederaufbau des Reichstages nach dem Krieg. Zusaetzlich fanden Fotos der von Christo autorisierten Projektfotografen Wolfgang und Sylvia Volz Verwendung.

Mit Hilfe dieses Materials erstellten die IPL-Mitarbeiter auf CAD- Basis ein erstes Anschauungs- und Datenmodell. Die Hardware- Ausstattung in Radolfzell umfasst fuenf Pentium-Rechner, 15 Desktops mit 486-CPUs und drei 486er Laptops, die ueber Novell 3.11 mit zwei Servern (je 2 GB) verbunden sind. Ausgabemedien sind zwei HP- Plotter fuer DIN A0 und drei Laserdrucker fuer A3- und A4-Formate. Als Betriebssystem setzt die IPL MS-DOS 6.2 ein, das Basisprogramm fuer die CAD-Applikationen ist Version 12 von Autocad.

Neben Autocad fuer die Zeichnungen und Konstruktionen verwendet IPL als raeumliches Stabwerkprogramm "Rstab" zur Statikberechnung und als bautechnisches Programm "Platte", beide von der Dlubal GmbH aus Tiefenbach. Hauseigene Software fuer die Berechnung der Membrane (Bautextilien) und die Ermittlung der Zuschnitte vervollstaendigen die Liste der Spezialprogramme.

Saemtliche Arbeiten von der Berechnung bis zur Konstruktionszeichnung laufen nur noch ueber Computer, so IPL-Chef Wolfgang Renner. Jegliches Zeichenbrett ist aus den Bueros verbannt. Nach der Erstellung eines 3D-Modells fuer Anschauungszwecke entstand im Laufe des Planungsjahres ein Koordinatenmodell mit Aufmassen nach fotogrammetrischen und trigonometrischen Verfahren der Vermessungskunde. Diese Arbeiten wurden unter anderem auch im Hinblick auf den nun beginnenden Umbau des Reichstages unter Leitung von Sir Norman Forster durchgefuehrt.

Bis zur Fertigstellung des Anschauungsmodells vergingen gut zwei Monate, darauf folgten die Vorbereitungen fuer einen Montagetest. Mit den nach und nach gelieferten Aufmassen wurde das Modell sukzessive verfeinert. Die Werte des Koordinatenmodells sind im Verhaeltnis zu den Realmassen auf plus-minus zwei Zentimeter genau; errechnet wurden daraus eine Reihe von Horizontal- und Vertikalschnitten sowie verschiedene Ansichten des gesamten Bauwerks.

Aus diesen Komponenten extrahierten und interpolierten die Radolfzeller Ingenieure dann die Werte fuer die Stahlkonstruktionen und die Zuschnitte der Gewebebahnen. Besondere Probleme entstanden durch die am Gebaeude vorhandenen Statuen, Urnen und Vasen. Nach Christos Vorstellung wurden sie mit Stahlkaefigen ummantelt, um ihre Beschaedigung oder ein Verheddern des Gewebes zu verhindern. Der Kuenstler entsprach damit der Forderung des Denkmalschutzes und konnte zugleich die erwuenschten Verfremdungseffekte erzielen.

Intensive Ueberlegungen erforderte auch die Befestigung der Stahlkonstruktion. Lediglich das Dach des im zweiten Weltkrieg ausgebrannten Reichstages steht nicht unter Denkmalschutz, so dass dort das Geruest befestigt werden konnte.

Die statische Berechnung der Kaefige und der Lasteinleitung in das Gebaeude erfolgten in Rstab, die ermittelten Werte wurden zur Konstruktion in Autocad uebernommen.

Das Kunstwerk selbst ist vom Bezirksamt Tiergarten/Berlin als "Bauvorhaben mit Bauantrag und Baugenehmigung" eingestuft worden. Daraus resultieren die bei der Projektrealisierung einzuhaltenden Vorschriften wie Materialpruefung, Ingenieurgutachten und bautechnische sowie feuerpolizeiliche Sicherheitsanforderungen.

Nach der Planung der Stahlkonstruktion ging es an die Zuschnitte des Gewebes. Aus 1,55 Meter breiten Stoffbahnen wurden 70 Paneele mit einer Durchschnittsgroesse von 37 mal 40 Metern gefertigt. Aufgrund des Faltenwurfs, der zusaetzlich zur mikrofeinen Aluminium-Beschichtung des Stoffs die speziellen Lichteffekte hervorrufen sollte, deckte eine Paneele am Gebaeude nur 15 Meter Breite ab. Jeder dieser Streifen musste auf die individuelle Lage am Gebaeude zugeschnitten werden.

Da die Paneele auf Wunsch der Kuenstler Christo und Jeanne-Claude vom Dach aus abgerollt werden sollten, war es notwendig, zwischen den Gauben insgesamt 32 keilfoermige Luftkissen zu installieren, damit die Rollen bei der Montage nicht knickten. Auch hier bewaehrte sich der Einsatz von CAD, da in den PVC-Kissen Schotten angebracht werden mussten, um die jeweilige Form nach dem Aufblasen zu gewaehrleisten und das Kissen selbst zu stabilisieren. In einem Test an einem Konstanzer Hochhaus mit nachgebauten Gauben prueften die Radolfzeller zusammen mit den Kuenstlern Montage und Faltenwurf des Gewebes.

Jedes Paneel wurde mit seinen Nachbarteilen ueber einen Stoss verbunden und verfuegt ueber exakt berechnete eingearbeitete Knopfloecher, durch die die blauen horizontalen Halteseile in die geoeffneten Fenster des Reichstages rueckverankert wurden. Die Seile verhindern ein zu starkes Aufbauschen der Paneele bei Wind und tragen zudem zum aesthetischen Eindruck der Verhuellung bei.

Die Berechnung der Huelle fand mit eigenentwickelter Software statt, wobei auch der Wind simuliert werden musste. Das Softwareproblem war hierbei durchaus anspruchsvoll, erinnert sich IPL-Chef Renner. Auch die Bestaendigkeit des Materials gegenueber der UV-Strahlung war zu beruecksichtigen. Details der Lasteinleitung etwa fuer die Naehte wurden unter Witterungseinfluessen geprueft. Als Grundlage fuer die Berechnungen fand am Modell ein realer Windkanalversuch statt, da die Simulationssoftware noch nicht ideal ausgereift sei, erzaehlt Renner.

Die Planung dauerte im technischen Ingenieurbereich rund ein Jahr - 280 MB Daten- und 430 MB Plot-Files fielen an -, die Stahlmontage erstreckte sich ueber zwei Monate. Die Verhuellung selbst nahm nach dieser Vorbereitung nur noch eine Woche in Anspruch.

Als Besonderheit gegenueber anderen Projekten werten die Radolfzeller das Bauen am denkmalgeschuetzten Bestand mit dem Problem, dass der Reichstag bis Ende letzten Jahres zum Teil genutzt wurde und deshalb nicht in allen Raeumen zugaenglich war. Gerade deshalb war die CAD-Simulation besonders wichtig: Erst zu Beginn dieses Jahres konnten die Mitarbeiter der IPL die geometrischen und statischen Verhaeltnisse vor Ort noch einmal gruendlich in Augenschein nehmen.