Lösung für einen blinden Systemanalytiker in Edwards Air Base

Benutzeroberflächen: Für Blinde ist nur wenig geboten

11.10.1991

Die gewohnten Computer-Ein- und Ausgabemedien, Tastatur und Monitor, setzen spezifische Fähigkeiten des Menschen bezüglich des Dialogs mit der Maschine voraus. Die Person muß in ausreichendem Maße die Tastatur bedienen und visuelle Informationen aufnehmen können. Behinderten Menschen stehen diese fundamentalen Interaktionstechniken oft nicht zur Verfügung. Um ihnen Zugang zum Computer zu verschaffen, muß die Benutzerschnittstelle ihrer Behinderung entgegenkommen. Daß und wie das funktionieren kann, beschreiben Lee Gardner, Bradley King und Darcy Paintner*.

Die Gestaltung einer Benutzeroberfläche für den blinden Systemanalytiker Bradley King war Voraussetzung für seine Anstellung beim Luftwaffenstützpunkt Edwards. Es leuchtet ein, daß er als Grundlage seiner Tätigkeit mit Computersystemen würde arbeiten müssen. Diese Interaktion würde außerdem in hohem Maße effizient sein müssen, weil ein großer Teil von Kings Job in der computergestützten Erstellung von Analysen, in der Gestaltung sowie im Einsatz. von Programmierwerkzeugen und Dokumenten bestehen würde.

Team sollte Computersystem entwickeln

Nachdem einmal entschieden war, King einzustellen wurde ein Team zusammengestellt, das ein seine Behinderung berücksichtigendes Computersystem entwickeln sollte. King selbst und sein Vorgesetzter waren die wichtigsten Mitglieder, wegen ihrer Kenntnisse über den Anwender, seine Aufgabenstellung und darüber, was das System würde leisten müssen.

Das California State Department of Rehabilitation stellte einen Berater der Sensory Aids Foundation (Stiftung, die sich mit der Unterstützung sinnlicher Wahrnehmung beschäftigt, Red.) ab. Der Mathematiker Lee Gardner und Darcy Paintner, eine Spezialistin für Personalfragen im Programm für behinderte Angestellte des Stützpunktes Edwards, berieten das Team in Fragen der Arbeitsplatz- und Aufgabenanalyse sowie bei der Auswahl und Beschaffung von Ausrüstungsgegenständen.

Zuerst hatte die Design-Gruppe die Aufgaben eines Systemanalytikers zu unterstützen. Das und die Entwicklung einer Strategie, welche die individuellen Fähigkeiten eines Menschen unterstützt und andererseits seine Handicaps berücksichtigt, sind unverzichtbar für den Erfolg und bilden die Basis für eine geeignete Hilfestellung. - Systemanalytiker sind typischerweise für die verschiedenen Phasen eines Software-Life-cycle verantwortlich. Dieser Zyklus erstreckt sich von der Erstellung eines Pflichtenheftes in Zusammenarbeit mit dem Anwender des geplanten Systems bis zur Ausbildung des Users an der fertigen Installation und zur Systemwartung.

Die vom Systemanalytiker geforderten physischen Leistungen drehen sich um den zentralen Begriff der Kommunikation: Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben. Zum Lesen und Schreiben gehört das Notieren von Dingen, das Erstellen und Überarbeiten von Pflichtenheften, der Entwurf von Dokumenten und Richtlinien für Anwender und Programmierer, die Erstellung und Korrektur von Quellcode sowie die Anfertigung verschiedenster Schaubilder zur Systemanalyse, beispielsweise Datenfluß-Diagramme und Prozeß-Ablaufpläne.

In ihrer Sehfähigkeit eingeschränkte Menschen benötigen Lese- und Schreibhilfen: Ein typischer Systemanalytiker im Stützpunkt Edwards hat eine Vielzahl von Handbüchern, Entwürfen, Richtlinien zur Software-Benutzung und Programmierung, Katalogen, Wirtschaftspublikationen, Memos, Briefen, Verlautbarungen und Vorschriften zu lesen. Abhängig von seiner Erfahrung kann das bis zu 50 Prozent der Arbeitszeit beanspruchen. Systemanalytiker schreiben auch eine Menge: Datenfluß-Diagramme, Programm-Ablaufpläne, Entwürfe, Quellcode und Dokumente für Anwender sowie Programmierer. Auf all das müssen Anwender, Programmierer und Analytiker zugreifen können. Es mußte also eine Alternative gefunden werden zur visuellen Wahrnehmung von geschriebenem Material, ob Text oder Grafik, die einem sehbehinderten Analytiker entgegenkommt.

Eine Alternative zur optischen Wahrnehmung

Um für King nützlich zu sein, wurde der Computer an seine Sehbehinderung angepaßt. Zur Digitalisierung gedruckter Texte wird ein Scanner verwendet. Der elektronisch gespeicherte Text wird an ein Editierprogramm übergeben, mit dessen Hilfe eine Bildschirm-Lesesoftware und ein Sprachsynthesizer ihn in Sprache umwandeln. Mit der Software und dem Synthesizer erhält das System die Fähigkeit, akustisch zu reagieren und damit Kings Blindheit zu kompensieren. Kings Gehör anstelle seiner nicht vorhandenen Sehkraft befähigt ihn mit Hilfe des Systems zur erfolgreichen Interaktion: Er erhält unmittelbares akustisches Feedback auf seine Tastatureingaben; der Mensch-Maschine-Dialog findet in Form akustischer anstelle der traditionellen optischen Wahrnehmung über den Monitor statt.

In seinem Job muß King an verschiedenen Orten mit Computern arbeiten. Deshalb müssen der Sprachsynthesizer und das Bildschirm-Lesesystem tragbar sein. King muß in der Lage sein, mit dem System und mit dem Kunden zu arbeiten, wo immer Probleme und Fragen auftreten.

Zur intensiveren Beschäftigung mit Texten oder Quellcode steht King über die akustische Hilfe hinaus ein Blindenschrift-Drucker an seiner Workstation zur Verfügung. Mit diesem Gerät kann er Dokumente auf hohem technischen Niveau ebenso peinlich genau untersuchen wie große Programmlistings und Fehler darin korrigieren. Routine-Informationen wie tägliche Mitteilungen oder Korrespondenz können von der Textvorlage per Scanner digitalisiert, anschließend in Blindenschrift ausgedruckt und damit auch außerhalb des Computersystems für King verfügbar gemacht werden.

Der Analytiker verwendet zwei Diktiergeräte: für Sprachnotizen und für die Aufzeichnung von Kundengesprächen zur späteren Verwendung. Die wichtigsten so fixierten Inhalte können dann in einer Datei niedergelegt und anschließend wiederum in Blindenschrift ausgedruckt oder hörbar gemacht werden; Konferenznotizen oder wichtige Vereinbarungen stehen - ebenfalls in Papierform - dem Kunden zur Verfügung.

Datenfluß-Diagramme und Programm-Ablaufpläne werden auf herkömmliche Weise erstellt, also mit Hilfe eines Tableaus von Symbolen sowie mit Stift und Papier. Um die Stiftabdrücke deutlicher fühlbar zu machen, verwendet King dickeres Papier speziell für Blindenschrift.

Einfache Grafiken fühlbar gemacht

Mit diesem Verfahren können Kunden und Vorgesetzte die Informationen visuell aufnehmen, die King gleichzeitig mit seinen Fingern erfühlt.

Auch der Blindenschrift-Drucker ist in der Lage, eine begrenzte Anzahl elektronisch gespeicherter Grafiken fühlbar darzustellen. Diese Fähigkeit ist gleichwohl sehr beschränkt, weil das Originalbild in elektronischer Form vorliegen muß und nur aus einfachen Geraden oder Kurven bestehen darf. Die Raffinesse des Textscanners reicht für die Übersetzung von Grafiken nicht aus.

Um auch Grafiken und Texte zu bewältigen, die mit den beschriebenen Verfahren nicht in den Griff zu bekommen sind, bedient sich King der Hilfe von Mitarbeitern und freiwilliger Leser. Freiwillige sind es auch, die das Lesen von so großen Textmengen übernehmen, daß das Einscannen nicht praktikabel wäre. Mitarbeiter überprüfen routinemäßig die visuellen Aspekte der von King entworfenen Computersysteme. Sie beurteilen etwa Bildschirmformate oder die Farbauswahl von Menüs nach ästhetischen Kriterien.

Mitarbeiter des Jahres 1990

Was King also insgesamt benötigt, ist die Fähigkeit, akustischen oder taktilen Input mangels optischer Informationen zu nutzen: Der Scanner digitalisiert sichtbaren Text; der Computer mit der Bildschirm-Lesesoftware sind dem Sprachsynthesizer setzt wiederum digitale Informationen in gesprochene Sprache um. Der Blindenschrift-Drucker ermöglicht die Konvertierung von Texten und - eingeschränkt - Grafiken aus der digitalen in eine erfühlbare Form; der Gebrauch dickeren Papiers für Handzeichnungen macht Grafiken gleichzeitig sichtbar und fühlbar.

King gebraucht seinen geschneiderten Rechner täglich: Er schreibt auf dem Computer mit einer Textverarbeitung Dokumente und Software. Die Bildschirm-Lesesoftware macht bei Text keine Probleme, und Kings Arbeitsbereich ist ruhig genug, daß Stör- und Hintergrundgeräusche nicht mit dem Output des Sprachsynthesizers durcheinander geraten. Der Blindenschrift-Drucker kommt seltener zum Einsatz: nur für lange Listings oder um, etwas zum Lesen mitzunehmen.

King hat inzwischen bei Edwards verschiedene kleine, spezialisierte Systeme für eine Reihe von Anwendern erfolgreich fertiggestellt. Zur Zeit arbeitet er an einem großen System, das die Millionen von Seiten technischer Daten verwalten soll, die in der Wartungsabteilung des Stützpunktes Edwards anfallen. Das Edwards-Management hat Kings Erfolg anerkennend wahrgenommen und ihn als hervorragenden Mitarbeiter des Jahres 1990 ausgewählt.

Es gibt zu wenige Standardprodukte

Mit der Original-Schnittstelle kann King seine Arbeit angemessen erledigen. Grafiken bergen jedoch Schwierigkeiten; jüngste DV-Trends stellen diese in den Vordergrund. Es existiert jedoch keine Technik, die es sehbehinderten Menschen gestattet, moderne Grafiksoftware zu nutzen. Im gleichen Maße, wie Benutzerschnittstellen und Betriebssysteme grafische Elemente verwenden, müssen auch Programme zum Bildschirm-Lesen weiterentwickelt werden. Beispielsweise kann MS-Windows-Text selbst von den leistungsstärksten Bildschirmlesern meist nicht entziffert werden. Dazu bedürfte es einer Standard-Schnittstelle, mit der für die Windows-Ausgabe an den Bildschirm geschickte Textinhalte auch von Bildschirm-Leseprogrammen als Text interpretiert werden können. In dem Maße, wie sich King in seinen Verantwortungsbereich bei Edwards eingearbeitet hat, stellte sich die Abhängigkeit von, freiwilligen Lesern als unbefriedigend zum Ausgleich seiner Behinderung heraus. Edwards plant jetzt die Anschaffung einer Lesemaschine, um dieses Problem zu lösen.

Sehr unfreundlich: Userfriendly Systems

Damit der aktuelle Trend zu grafischen Benutzeroberflächen wirklich fruchtbar sein kann, müssen die Schnittstellen mit Rücksicht auf behinderte Anwender gestaltet werden. Für textorientierte Umgebungen wie MS-DOS existieren entsprechende Techniken in Form von Bildschirmlesern und Sprachsynthesizern. Bei indirekt gesteuerten Systemen wie dem Apple Macintosh dagegen ist die Oberfläche ausgesprochen intolerant gegenüber Menschen mit Sehbehinderungen oder motorischen Schwächen. Sie erfordert stark ausgeprägte Fähigkeiten zur Hand-Auge-Koordination und motorischen Kontrolle und schließt dadurch eine Vielzahl verschiedenartig Behinderter aus.

Zukunftssorientierte Systeme wie der Next bieten zwar eingebaute Sprachfähigkeiten; dennoch können Behinderte sie kaum oder gar nicht benutzen. Die nächste zu entwickelnde Rechnergeneration muß etwa Zeigehilfen für motorisch Schwache enthalten. Künftige Oberflächengestaltungen erfordern mehr Flexibilität und Rücksichtnahme gegenüber behinderten Anwendern. Software- und Hardware-Anbietern ist ein breiterer Querschnitt der Anwenderschaft in ihren Benutzermodellen zu empfehlen, wenn sie die Mensch-Maschine-Schnittstellen der Zukunft entwerfen.

Die gemachten Erfahrungen beweisen, daß gemeinsame Anstrengungen und ein schrittweiser Ansatz der menschenfreundlichen Gestaltung von Computerschnittstellen den beruflichen Erfolg eines blinden Systemanalytikers gewährleisten können. Mit der Kenntnis des Anwenders und seiner Arbeitsaufgaben, im Zusammenhang mit einer Strategie, die gleichermaßen von seinen Fähigkeiten profitiert wie seine Handicaps berücksichtigt, haben wir ein funktionierendes Hilfsmodell entwickelt. Wir hoffen, daß dieses Modell sich als nützlich für andere Menschen mit Behinderungen, wo auch immer, erweisen wird.

*Lee Gardner, Bradley King und Darcey Paintner arbeiten im Air Force Flight Test Center Edwards AFB in Kalifornien. Der Systemanalytiker Bradley King ist blind; für ihn wurde das im Artikel beschriebene System entwickelt. Die englische Originalversion des Textes stammt aus dem Proceedings-Band zur Konferenz "Computers for handicapped persons" , Verlag Oldenbourg, Wien und München 1990; Schriftenreihe der Österreichischen Computer-Gesellschaft, Band 55. Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung.