Human Engineering eröffnet der elektronischen Post die Breitenanwendung:

Benutzer müssen Electronic Mail durchsetzen

15.07.1988

Die Frage nach dem Sinn von Bürokommunikation und Electronic Mail stellt sich nach dem gleichen Prinzip wie die vor hundert Jahren bei der Einführung des Telefons. Gibt es einen Kommunikationsbedarf, der größer ist als der, den wir uns heute vorstellen können? Für den Anwender von morgen ist dann vor allem wichtig, technische Systeme ebenso einfach bedienen zu können wie heute das Telefon.

Unser Kommunikationsradius 1988 wird dadurch bestimmt, wie viele Gespräche, Konferenzen und Telefonate wir im Laufe eines Tages führen, wie viele Briefe und Hausmitteilungen wir auf den Weg bringen oder wie viele Telex- oder Telefaxdokumente wir bewältigen. Und wer von uns will sich schon vorstellen, noch mehr kommunizieren zu müssen, als er es schon heute tut?

Die Frage nach dem Sinn von Bürokommunikation und Electronic Mail stellt sich nach dem gleichen Prinzip wie vor hundert Jahren bei der Einführung des Telefons. Gibt es einen Kommunikationsbedarf, der größer ist als der, den wir uns heute vorstellen können? Und ist es notwendig, schneller zu kommunizieren?

Mögliche Antworten auf diese Fragen münden in einer Prognose - einer Prognose, für die nicht nur der Organisationsexperte, der Softwareingenieur, der Marketingfachmann, der Informationsdesigner, der Anwender oder letztendlich der Chef allein zuständig sind. Erforderlich ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Kriterien, Konzepte und Kenntnisse, um den Umgang mit der künftigen Kommunikationstechnik gedanklich vorwegzunehmen.

Die Zukunft der Kommunikation wird entscheidend davon abhängen, ob wir die Regeln des Human Engineering beherrschen. Der Anwender von morgen wird nur bereit sein, seine Kommunikationsgewohnheiten neu zu gestalten, wenn ihm technische Systeme zur Verfügung stehen, die so einfach zu bedienen sind, daß auch nichtgeschulte Mitarbeiter eines Vier-Mann-Betriebes sie problemlos nutzen können.

Die Bereitschaft, Computertechnologie bei der täglichen Arbeit oder im Privatleben einzusetzen, steigt in dem Maße, in dem sich deren Bedienung beispielsweise der Einfachheit des Telefonierens nähert. Mitarbeiter und Privatpersonen sind gewillt, elektronisch miteinander zu kommunizieren und zu korrespondieren, wenn sich die Technik ihren Arbeits- und Lebensgewohnheiten unterordnet. So, wie sie bei Telefonapparaten verschiedener Hersteller eine einheitliche Bedienoberfläche vorfinden und nicht lernen müssen, welche Umsetzungen die Nachricht durchmacht und welche physikalischen Wege sie geht. Genauso wenig sind sie an den technischen Vorgängen interessiert, die unter der Computeroberfläche ablaufen.

Entscheidungsträger sehen sich heute großen Aufgaben gegenüber. Um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen zu sichern, müssen sie die kreativen Ressourcen ihrer Mitarbeiter intelligenter nutzen, die Reibungsverluste bei den Informations- und Kommunikationsprozessen minimieren und die Methoden zur "Qualitätsprüfung" von Informationen optimieren.

Nur mit Hilfe dieser dreistufigen Strategie lassen sich aus der sogenannten "Informationsflut" die Informationen erkennen und erarbeiten beziehungsweise herausfiltern, die dem Unternehmen tatsächlich Wettbewerbsvorteile bieten.

Aus der Vergangenheit wissen wir,

- daß unvollständig behandelte Marktanalysen bei Handelskonzernen zu existenzbedrohenden Konsequenzen führen,

- daß umständliche Etatplanungsprozesse zeit- und kostspielige Reibungsverluste im Mittleren Management mit sich bringen,

- daß intransparentes Projektmanagement schon viele hoffnungsvolle Projekte unverhofft abstürzen ließ.

Die Frage heißt also auch: Wie kann ich intelligent und effizient "Informationsqualität" erzeugen? Die Technik für die erforderlichen Gruppenprozesse im Unternehmen, in öffentlichen Verwaltungen und Institutionen steht zur Verfügung.

Der Nutzen von Anwendungen wie Electronic Mail oder Videotex VTX (Bildschirmtext Btx) ist dabei unbestritten. Electronic Mail ist ein Organisationsmittel, mit dem man den geordneten Dialog innerhalb festgelegter Verfahren effizienter gestalten kann. Es ermöglicht eine umfassende Kommunikation bis hin zur spontanen Konversation über Organisationsgrenzen hinweg. Nutzer der elektronischen Post können eine große Anzahl von Partnern ad hoc erreichen. Die Nachrichten kommen an, auch wenn die Partner abwesend sind. Vorgänge zur Entscheidungsfindung sind schneller beendet. Da Electronic Mail auch Menschen mit Programmen und Programme untereinander verbindet, lassen sich diese leicht in die Kommunikation einbeziehen.

Aufgrund dieser Vorteile würden Electronic Mail und Videotex eine rasche Verbreitung erfahren, müßten die kommerziellen und privaten Nutzer nicht mehr oder weniger lange Lernprozesse und komplizierte Abläufe während der Bedienung absolvieren. Ist es für Sachbearbeiter an DV-Arbeitsplätzen selbstverständlich, geschult zu werden, erwarten Nutzer in Klein- oder Mittelbetrieben oder im höheren Management eine intuitive Einsicht in die Bedienbarkeit eines Programms.

Bei einigen Herstellern gibt es bereits Vorstellungen, wie man bei ähnlichen Programmen eine einheitliche und damit einfachere Bedienung erreichen kann. Ein Beispiel ist Openlook.

Openlook ist ein Windowsystem für Unix-Rechner, das auf dem Urtyp der objektorientierten Bediensysteme, der bei Xerox entwickelt wurde, basiert. Einzelne Datenobjekte wie Dateien oder Systemressourcen wie Drucker oder Postkorb werden als Grafiksymbole (Icons) so dargestellt, daß der Benutzer anhand der Symbole sofort seine Schreibtischumgebung wiedererkennt. Auf dem Bildschirm können in mehreren Fenstern unterschiedliche Informationen abgebildet werden.

Der Benutzer kann solche Fenster beliebig öffnen und Texte und Daten aus vorhandenen Dokumenten ganz einfach in ein anderes Fenster und damit in ein anderes Dokument kopieren. Für fast alle Datenobjekte lassen sich dieselben Basisoperationen wie Öffnen, Kopieren oder Löschen auf die gleiche Weise durchführen. Die Grundregeln der objektorientierten Bedienung, wie sie bei Openlook realisiert wurden, finden allgemein Anerkennung und werden inzwischen von mehreren Herstellern angewandt.

Electronic Mail läßt sich in DV-Verfahren einbinden

Eine wichtige Voraussetzung, damit etablierte Anwendungen eine funktionale Erweiterung durch die elektronische Post erfahren können ist die Normung der Message-Handling-Systeme MHS. Im Rahmen der OSI-Normungsaktivitäten Open Systems Interconnection wurden die Übertragungswege und -methoden vereinheitlicht. Dadurch können Message-Handling-Systeme verschiedener Hersteller im direkten Kontakt und ohne Gateways miteinander kommunizieren.

Der Einsatz der elektronischen Post mit klaren und bekannten Nutzerprofilen ergibt sich für Arbeitsplätze, an denen vorwiegend Korrespondenz erstellt wird. Hat die Sekretärin ihre Briefe oder Mitteilungen mit einem Editor geschrieben, möchte sie durch Drücken weniger Tasten die Dokumente in die elektronischen Briefkästen der Adressaten befördern. Mit Electronic Mail ist das möglichlich. Die Empfänger nehmen die Post zur Kenntnis, sie können sie mit Anmerkungen versehen und weiterleiten oder zurückschicken oder ausdrucken.

Ein weiteres Beispiel sind zentrale Schreibbüros. Ohne Electronic Mail kommen die geschriebenen Unterlagen zum Sachbearbeiter zur Durchsicht. Er korrigiert sie, schickt sie mit der Hauspost erneut ins Schreibbüro, bekommt sie ein zweites Mal vorgelegt; wenn er Glück hat, noch am selben Tag. Soll die Post verschickt werden, folgen das Kuvertieren, Zukleben, Frankieren, Postausliefern. Dann vergeht mindestens ein Tag, im Auslandsverkehr mehrere Tage, bis der Brief dem Empfänger vorliegt.

Mit der elektronischen Post laufen derartige Vorgänge ohne manuell bedingte Verzögerungen ab. Der Sachbearbeiter kann nicht nur den Text sofort am Bildschirm korrigieren. Über ein Mailsystem nach dem CCITT-Standard X.400 kann er, weltweit und herstellerübergreifend, alle Teilnehmer erreichen, deren Systeme ebenfalls X.400- oder gar teletexfähig sind.

Electronic Mail läßt sich auch in DV-Verfahren oder in die Vorgangsbearbeitung einbinden. Das ist überall dort sinnvoll, wo mit räumlich entfernten Partnern kommuniziert wird, sei es zwischen Hauptverwaltung und Niederlassungen, zwischen Zentrale und Filialen, Vertrieb und Außendienst, Einkauf und Lieferanten. Erlasse von Bundesbehörden können innerhalb weniger Augenblicke in den elektronischen Briefkästen von Landesbehörden sein. Diese können die Schriftstücke kommentieren und interpretieren und ohne Verzögerung an Regional- oder Kommunalbehörden weiterleiten. In Verlagen kann die elektronische Post die Kommunikation zwischen Redaktion, Archiv und Produktion übernehmen. Mit einem Publishingsystem gestaltete Seiten und Bögen können auf elektronischem Wege den Systemen von Druckereien übergeben werden.

Groupware erleichtert die Kommunikation

Mit der elektronischen Post kann man aber nicht nur eine geordnete Kommunikation innerhalb festgelegter Verfahren durchführen. Sie eröffnet Anwendungsmöglichkeiten, die vorher nicht denkbar waren.

Aus den Erfahrungen, die Anwender in den USA in den vergangenen fünf Jahren mit Electronic Mail sammeln konnten, hat sich eine erweiterte Nutzung als Kommunikationsmittel für Gruppen herausgebildet. Produkte in diesem Bereich der Gruppenkommunikation werden als Groupware bezeichnet. Sie lassen sich in zwei Kategorien aufteilen.

Die erste Kategorie unterstützt im wesentlichen die Verbreitung und Kommentierung von Texten mit dem Ziel, ein gemeinsames Dokument zu erstellen. Verschiedene Mitglieder erarbeiten verschiedene Textteile, die sie kommentieren und zusammenfügen. Dies entspricht etwa dem Arbeitsstil einer Anwaltskanzlei beim Erstellen eines umfangreicheren Vertragswerkes.

Organisationsgrenzen werden überwunden

Groupware der Kategorie 2 unterstützt die Zusammenarbeit verschiedener Personen an einem gemeinsamen Ziel. Diese Produkte koordinieren über Electronic Mail einzelne Aktionen und Termine. Ein wesentliches Element dieser Art Groupware ist das sogenannte Konversationsmanagement. Es können sich Gruppen über Organisationsgrenzen hinweg bilden und über eine "human" gestaltete und leicht zu bedienende Oberfläche miteinander kommunizieren.

Üblicherweise müssen wir die einzelnen Kommunikationsarten wie Telefonate, Briefe, Aktennotizen durch eigene Gedankenleistung in einen Zusammenhang zueinander bringen. Im Büroleben können diese Einzelnachrichten in verschiedene Kategorien wie Anfrage, Angebot, Zusage und anderes mehr eingeteilt werden. Sinngemäß lassen sich die einzelnen Nachrichtenschritte zu einer gesamten Konversation zusammenfügen, die in der Regel zielgerichtet verläuft. Die Verwaltung dieser Konversation, die die Beteiligten manuell über Aktenordner, Vorgangsmappen und Terminkalender abwickeln, wird bei anspruchsvollen Groupwareprodukten durch das Konversationsmanagement wirkungsvoll unterstützt.

Elektronische Post verwaltet Messeaktionen

Viele Einzelschritte werden nicht mehr von mehreren Mitarbeitern parallel, sondern durch das Softwaresystem durchgeführt und verwaltet. Zeit, die bisher durch Telefonierversuche, das Transportieren von Mitteilungen, das Zusammentragen verschiedener Aktennotizen zu Vorgängen, das Führen von Terminmappen und Terminkalendern verloren ging, läßt sich jetzt anderweitig nutzen.

Bereitet ein Unternehmen, das mit einem Groupwaresystem arbeitet, beispielsweise eine Messebeteiligung vor, fordert der zuständige Sachbearbeiter über Electronic Mail verschiedene Mitarbeiter auf, ihre Exponatwünsche bekanntzugeben. Durch das Schreiben der Nachricht auf den Bildschirm eröffnet er automatisch den Vorgang "Messe". Abgabe- und Zwischentermine werden im Kalender festgehalten. Durch Auswahl der Empfängernamen oder über die Verteilerliste wird die Mitteilung direkt in die elektronischen Briefkästen aller Angeschriebenen befördert.

Das System weist jeden Beteiligten automatisch auf anstehende Termine hin. Jetzt muß nicht mehr jeder seinen eigenen Vorgang "Messe" anlegen und verwalten. Jeder Berechtigte kann sich den gespeicherten Vorgang auf seinen Bildschirm holen. Er kann darin vorwärts- und rückwärtsblättern, sich die Antworten der verschiedenen Absender anschauen, diese mit Kommentaren versehen und bestimmten oder allen Kollegen zur Kenntnisnahme zusenden. Der Umgang liegt so jederzeit zur Ansicht komplett bereit.

Informationstechnik verändert Organisation

Auch andere zeitkritische Abläufe wie Etatplanungen oder das Entwickeln von Marketingstrategien lassen sich durch Konversationsmanagement auf Basis der elektronischen Post zügig durchführen.

Die automatisch verwalteten Vorgänge bringen jedoch nicht nur Vorteile für den einzelnen Mitarbeiter - sondern auch für die gesamte Organisation eines Unternehmens: Der konsequente Einsatz neuer Informationstechnik führt konsequenterweise auch zur Veränderung von Unternehmenskulturen. Mitarbeiter, die künftig weniger über die Probleme der internen Kommunikation ("Warum bin ich schon wieder nicht informiert worden?") und weniger über in transparente Entscheidungen klagen, werden sich künftig intensiver an den eigentlichen Zielen eines Unternehmens, einer Organisation oder Verwaltung orientieren.

Aus den Vorteilen, die die technische Standardisierung mit sich bringt, ergeben sich freilich auch Konsequenzen für organisatorische und juristische "Standards".

Datenschutzprobleme stehen ins Haus

Heute ist die Gestaltung der Bedienoberflächen noch den Herstellern und Softwareentwicklern überlassen. Im Grunde genommen ist es jedoch eine Aufgabe für die Anwender und Nutzer. Sie sollten festlegen, wie sie sich die Bedienoberfläche vorstellen. Diese Aufgabe kann nur methodisch angegangen werden und setzt einen Dialog zwischen Anwendern und Herstellern voraus.

Die gemeinsam entwickelten Zielvorstellungen sind Input für die Softwareentwickler. Eine intensive Zusammenarbeit zwischen Anwender und Hersteller ist außerdem notwendig, um für verbesserte oder neue Funktionen die technischen Voraussetzungen zu schaffen. Bemerkenswerte Ansätze, um kommunikationsorientierte Arbeitsplätze durch ergonomische Bedienoberflächen humaner zu gestalten, bieten Groupwareprodukte wie Coordinator.

Bedarf verspricht eine aussichtsreiche Zukunft

Zu lösen sind weiterhin die rechtlichen Probleme. Risiken liegen im Datenschutz, in der Mitzeichnung zeichnungsberechtigter Mitarbeiter in der elektronischen Archivierung und in der möglichen Störung der menschlichen Kommunikation.

Der Bedarf für Electronic Mail ist zweifellos vorhanden. So, wie es das Telefon anfangs schwer hatte, sich durchzusetzen, muß sich auch das noch junge Medium der elektronischen Post seine Daseinsberechtigung erst erkämpfen. Die ersten Erfolge stimmen optimistisch. Mit jeder Verbesserung, die den Anbietern gelingt, ebnen sie der elektronischen Post den Weg in die Breitenanwendung.

*Nina Gerner ist Leiterin der Abteilung Bürokommunikation und Videotext im Bereich Kommunikations- und Datentechnik der Siemens AG, München.