"Bei den IT-Prozessen sind radikale Eingriffe noetig" Management-Guru Michael Hammer ueber Business Re-Engineering

25.02.1994

Business Re-Engineering ist zum meistzitierten Schlagwort unter Oekonomen und Wirtschaftspraktikern avanciert. Es beschreibt den Paradigmenwechsel und die Methode, mit der Unternehmen von einer funktional-hierarchisch gegliederten Organisation zu einer prozessorientierten, flexiblen Struktur gelangen. Im Mittelpunkt aller Aktivitaeten soll der Kunde stehen; alle nicht wertschoepfenden Prozesse werden reduziert. Welchen Einfluss hat diese Methode auf Manager, Mitarbeiter und IT-Spezialisten? Mit Michael Hammer, dem Autor des Buches "Re-Engineering the Corporation" sprach Joseph Maglitta, Redakteur der CW- Schwesterpublikation "Computerworld".

CW: Dem Re-Engineering wird eine unglaubliche Aufmerksamkeit zuteil. Wonach suchen die Leute ?

Hammer: Viele Menschen, die ueber Re-Engineering reden, haben keine Ahnung, was es bedeutet. Der Begriff wird in so ungeheuer falscher und unangemessener Weise verwendet, dass man schon verzweifeln koennte. Er ist zum Modewort geworden, eine Art Synonym fuer "gut".

CW: Wie steht es mit Leuten, die wissen, was es bedeutet? Was fehlt denen?

Hammer: Den Dingen, die ueber den Prozess hinausgehen, wird zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine radikale Prozessaenderung schlaegt in der gesamten Organisation immmens hohe Wellen. Wenn Arbeitsinhalte veraendert werden, sind die Jobs nicht mehr dieselben. Sie werden anders beurteilt, belohnt und gemanagt. Ausserdem ergeben sich neue Karriereperspektiven, waehrend alte wegfallen.

CW: Inwieweit verstehen IT-Profis das Re-Engineering-Konzept und die Methode?

Hammer: Im grossen und ganzen recht gut. Ich denke, IT-Leute tendieren von Natur aus in diese Richtung. Allerdings verwechseln immer noch zu viele Business mit Software-Re-Engineering. Sie sind der Meinung, es gehe um neue Systeme fuer alte Prozesse. Aber es geht nicht um neue Systeme fuer alte Prozesse, sondern um neue Prozesse - und ich nehme an, dass wir dafuer auch neue Systeme benoetigen werden.

CW: Wo scheitern IT-Fachleute im Rahmen des Re-Engineerings?

Hammer: Sie tun sich schwer, die menschlichen Aspekte der Sache zu erkennen. In meinen Seminaren uebe ich mit den Teilnehmern Re- Engineering am Beispiel des Vertriebs. Ich frage sie, warum dort das Vorhaben abgelehnt wird. Die anwesenden IT-Manager antworten dann immer: Vertriebsleute wollen keine Computer. Das ist ruehrend naiv, weil die betroffenen Mitarbeiter dieses Argument nur vorschieben. Tatsaechlich wollen sie ihre Arbeit und ihre Jobs nicht veraendert sehen.

Der Computer eignet sich gut als Pruegelknabe. DV-Leute gehen einfach zu logisch und analytisch vor, sie widmen sich zuwenig dem schlammigen Morast der menschlichen Emotion.

CW: Es ist doch paradox: Die Idee des Re-Engineerings hat ungeheuren Erfolg, und doch scheitern einer Reihe von Beurteilungen zufolge - Sie kommen ebenfalls zu diesem Ergebnis - knapp drei Viertel aller dieser Projekte. Wie erklaeren Sie sich das?

Hammer: Wenn ich sage, dass Projekte keinen Erfolg haben, meine ich damit, dass sich in den Unternehmen nichts geaendert hat. Re- Engineering-Vorhaben gehen nicht mit einem lauten Knall unter, sondern sterben mit leisem Wimmern - wie eine grosse Armee, die gar nicht zum Kaempfen kommt, sondern auf dem Weg zum Schlachtfeld im Sumpf steckenbleibt. Auf diese Weise scheitern rund 70 Prozent der in Angriff genommenen Restrukturierungen.

CW: Warum?

Hammer: Im wesentlichen aus drei Gruenden: Viele Unternehmen praktizieren Re-Engineering ohne grosses Ergebnis und sagen nachher: Bei uns ist es gescheitert. Das stimmt jedoch deshalb nicht, weil sie es nie wirklich versucht haben.

Andere Firmen muessen aufgeben, weil das Topmanagement die Projekte nicht entschlossen genug vorangetrieben hat. Das ist aber unbedingte Voraussetzung fuer das Gelingen, weil Re-Engineering im Grunde genommen mit schwerer Artellerie auf die vorhandene Organisation schiesst. Der Vorstand einer Company sagte zum Beispiel: "Durch Re-Engineering haben wir unser Geschaeft gerettet und unsere Organisation zerstoert." Das trifft die Sache sehr genau.

CW: Und der dritte Grund?

Hammer: Es gibt Leute, bei denen der Wille vorhanden war und die eventuell auch die Definition kennen, die jedoch nicht wussten, wie sie vorgehen sollten. Sie haben versucht, aus dem Stegreif zu handeln, und das scheint mir eine ziemlich ineffiziente Vorgehensweise zu sein.

CW: Wie sehen Sie Ihre Rolle ?

Hammer: Bestimmte Menschen werden als "Vaeter" von Bewegungen betrachtet. Bei der Qualitaetsbewegung denkt man natuerlich an Edwards Deming. Ich moechte nicht anmassend sein, doch wenn dies die Rolle ist, die ich beim Re-Engineering spiele, ist das prima. Ich muss nicht auch noch den Part der Mutter, der Schwester und des Onkels uebernehmen. Meiner Meinung nach ist genuegend Raum fuer die Beitraege vieler.

CW: Seine Popularitaet hat Re-Engineering zu einem erstrebenswerten Ziel gemacht. Berater wie Paul Strassmann, Ray Manganelli und andere haben dies scharf kritisiert. Wie stehen Sie dazu?

Hammer: Wie kann ich mich auf hoefliche Weise dazu aeussern? Ich glaube, manche Leute sehen in dieser Kritik einen geeigneten Weg, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn man den Mund aufmacht und unflaetige Toene von sich gibt, erregt dies natuerlich ein gewisses Mass an Aufmerksamkeit, selbst wenn man gar nichts zu sagen hat. Ich denke, gewisse Berater sehen darin einen Weg, ihr Image aufzubessern.

CW: Zyniker behaupten, Re-Engineering sei in vielen Faellen lediglich ein verschleiernder Ausdruck fuer Stellenabbau.

Hammer: Der Begriff wird von einigen Organisationen verfaelscht. Deren Ziel ist es einfach, viele Leute auf die Strasse zu setzen, und so nennen sie das Ganze "Re-Engineering", weil dieser Begriff eben populaerer ist. Downsizing bedeutet den Abbau von Arbeitsplaetzen, Re-Engineering bedeutet den Abbau von Arbeit. In manchen Faellen wird nach dem Abbau von Arbeit vielleicht festgestellt, dass keine Moeglichkeit mehr besteht zu wachsen. Dann muessen Mitarbeiter entlassen werden. Aber andere Unternehmen betrachten die zur Verfuegung stehenden Mitarbeiter als Ressource, die sie in die Lage versetzt, neue, kundenorientierte Aufgaben zu bewaeltigen.

CW: Vor einigen Jahren hiess es, dass IS-Leute die Re-Engineering- Anstrengungen vorantreiben koennten. Sie scheinen dagegen beharrlich daran festzuhalten, dass die Fuehrung von oben kommen muss.

Hammer: IT-Leute koennen keine Fuehrungsrolle uebernehmen. Aber sie koennen manchmal einen sehr wichtigen, sehr aktiven Part spielen, den ich als Katalysator-Rolle bezeichne. Eine Unternehmensleitung, die selbst noch nicht an den Start gehen will oder kann, laesst sich oft durch einen leitenden IT-Mitarbeiter ueberzeugen und dazu bewegen, das Problem zu erkennen und den Weg tatsaechlich zu beschreiten.

Im Rahmen der eigentlichen Re-Engineering-Aktivitaeten faellt IT- Profis eine zentrale Aufgabe zu. Sie verstehen die Prozesse, sind an Veraenderungen gewoehnt und offen fuer neue Technologien. Ihre Art zu denken hilft nicht nur der Informationsverarbeitung in einem Unternehmen weiter, sondern unterstuetzt auch Re-Engineering- Projekte.

CW: Viele leitende Chief Information Officers verlieren ihre Arbeitsplaetze. Werden sie entlassen, weil sie Re-Engineering betreiben oder weil sie es nicht betreiben?

Hammer: Das ist von Fall zu Fall verschieden. Ich glaube nicht, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren, weil sie nicht umstrukturieren. Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie muessen diese Vorhaben unterstuetzen, doch das koennen sie erst, wenn sie ihren eigenen Bereich entsprechend angepasst haben

CW: Leisten IT-Manager alles in allem beim Re-Engineering in ihrem eigenen Bereich gute Arbeit, oder verfehlen sie ihr Ziel?

Hammer: Ich wuerde ihre Leistung irgendwo dazwischen einordnen. Es gibt zuwenig Leute, die aggressiv genug vorgehen. Zu viele glauben immer noch, dass CASE-Tools oder andere Mittelchen dieser Art Antworten liefern.

Wir muessen in Sachen Systementwicklung voellig umdenken und wieder ganz von vorn beginnen. Zuerst sollte das traditionelle Konzept der Systementwicklungszyklen abgeschafft werden. Bei den IT- Prozessen sind radikale Eingriffe notwendig.

CW: Wie hat sich Ihr Denken ueber Re-Engineering im Laufe der Jahre entwickelt?

Hammer: Ich bin zu der Auffassung gekommen, dass der Begriff "radikal" langfristig betrachtet das zweitwichtigste Wort in der Definition des Re-Engineerings ist. Der wichtigste Begriff ist ein anderes, sehr einfaches Wort: Prozess. Re-Engineering ist eng mit der Idee einer prozessorientierten und prozessgesteuerten Organisation verknuepft. Es ist in der Tat eine Reise, an deren Ziel nicht einfache Leistungsverbesserung, sondern die prozessgesteuerte Organisation steht.

CW: Braucht ein Unternehmen dafuer immer Hilfe von aussen?

Hammer: Re-Engineering ist keine einmalige Erfahrung. Das Unternehmen muss diese Phase wiederholt durchlaufen. Meiner Meinung nach ist es langfristig gesehen sehr wichtig, dass sich Unternehmen von externen Beratern loesen und eigene interne Beratungskompetenz aufbauen.

CW: Sind bestimmte Laender oder Kulturen besser geeignet, das Re- Engineering in Angriff zu nehmen?

Hammer: Die Re-Engineering-Prinzipien funktionieren in bestimmten Laendern, wie den USA, sehr gut - in europaeischen Nationen ganz und gar nicht. Deutschland zum Beispiel hat die erste industrielle Revolution bis zur Perfektion getrieben. Doch solche Ideen wie Flexibilitaet, Dezentralisierung, Verantwortlichkeit oder die Entwicklung der Entscheidungsfindung kennen die Deutschen nicht. Ich denke, dass sie eine schlimme Zeit der Anpassung durchmachen werden, und dass diese bereits begonnen hat. Andererseits glaube ich, dass sich einige Laender und Regionen ueberraschend gut schlagen werden. Lateinamerika ging beispielsweise erst spaet in die erste industrielle Revolution. Dort gibt es deswegen auch weniger zu entwirren.

CW: Was kommt Ihrer Meinung nach noch auf uns zu?

Hammer: Die Art, in der wir arbeiten, bestimmt auch einen grossen Teil unseres uebrigen Lebens und unserer Gesellschaft. Wir haben es also mit einem Thema zu tun, das nicht allein wirtschaftlicher Natur ist. Das Re-Engineering wird unsere Gesellschaft umformen.

Welche Arbeitsplaetze der naechsten Generation zur Verfuegung stehen, haengt zum Teil von den heutigen Anstrengungen ab. Das gleiche gilt fuer die kuenftige internationale Wettbewerbsfaehigkeit von Unternehmen und Volkswirtschaften.