Business Process Management

Balance zwischen Standard und Flexibilität

03.09.2013
Von 


Carsten Rust ist bei Pegasystems als Director Solution Consulting DACH tätig. Zu seinen Spezialthemen gehören dabei Business Process Management, Customer Relationship Management sowie Case Management zur Steuerung betrieblicher Prozesse.

Varianten im Schichtenmodell

Einen anderen Ansatz verfolgen BPM-Lösungen, die das Dilemma Standard versus Varianten durch ein Schichtenmodell beheben. Aufbauend auf unternehmensweit definierten Standards wird dabei bottom-up ein Schichtenmodell entwickelt, in dem die Spezialisierung, also die Ausprägung der jeweiligen Varianten, von unten nach oben zunimmt beziehungsweise sich überlagert. Wichtig ist dabei, dass in den übereinanderliegenden Schichten nur das jeweilige Delta, also die einen konkreten Anwendungsfall bestimmende Variante, abgelegt wird. Die in den darunterliegenden Schichten definierten Standards und Varianten werden "geerbt", wodurch eine Redundanz vermieden und die Wiederverwendung ermöglicht wird.

Standardisierter Prozess mit zwei Varianten: Ausgehend von einem Standardprozess lassen sich in einem schichtenorientierten BPM-System verschiedene Varianten definieren, zum Beispiel nach Region oder Produkt.
Standardisierter Prozess mit zwei Varianten: Ausgehend von einem Standardprozess lassen sich in einem schichtenorientierten BPM-System verschiedene Varianten definieren, zum Beispiel nach Region oder Produkt.
Foto: Pegasystems

Darüber hinaus lassen sich bei der Ausführung aber auch einzelne Schichten ausblenden. Die BPM-Engine überwacht, dass das Gesamtmodell dabei konsistent bleibt. Das Verfahren erinnert an Bildbearbeitungsprogramme wie Photoshop.

Auch in Photoshop lassen sich einzelne Bildelemente, Bearbeitungen oder spezielle Filter auf separaten Layern ablegen, die dann je nach Bedarf ein- oder ausgeblendet werden und so ein entsprechend den unterschiedlichen Anforderungen differenziertes Gesamtbild ergeben.

Definition von Varianten-Artefakten: Für jede Variante werden Artefakte definiert wie hier für eine Business Rule zur Preisberechnung. Vorteil: hohe Wiederverwendbarkeit und viele Kombinationsmöglichkeiten.
Definition von Varianten-Artefakten: Für jede Variante werden Artefakte definiert wie hier für eine Business Rule zur Preisberechnung. Vorteil: hohe Wiederverwendbarkeit und viele Kombinationsmöglichkeiten.
Foto: Pegasystems

Das BPM-System erkennt zur Laufzeit anhand von Kontextinformationen, welche Schichten für einen konkreten Prozess zu aktivieren sind, beispielsweise in welcher Region eine Bestellung aufgegeben wurde, zu welcher Kundengruppe der Besteller gehört oder um welches Produkt es sich handelt. Die Schichten können dabei unter-schiedliche Prozessschritte, aber auch verschiedene kontextabhängige Bearbeitungsmasken umfassen.

Dynamische Orchestrierung

Ein Beispiel: Soll ein Bestellvorgang in einem derartig standardisierten Prozess dargestellt werden, so könnten dabei - unter vielen anderen - als Varianten ein Sub-Prozess für eine bestimmte Region I spe-zifiziert werden sowie eine eigene Erfassungsmaske für ein bestimmtes Produkt A. Sub-Prozess I würde etwa ein individuelles Verfahren abbilden, beispielsweise regional unterschiedliche Ausfuhrbestimmungen und Transportkosten. Zum Zeitpunkt der Prozessdefinition müssten dann mindestens folgende Artefakte modelliert werden:

  • der standardisierte Prozess mit den für alle Varianten gültigen Grundfunktionen,

  • der spezialisierte Sub-Prozess für die Region I und

  • die spezialisierte Erfassungsmaske und eventuell bestimmte typische Prozessschritte für Produkt A.

Eine Kontextinformation zur Bestimmung von Varianten könnte etwa die Postleitzahl des Bestellers sein, in welcher Region die Bestellung aufgegeben wird, oder die Wahl eines bestimmten Produkts. Anhand dieser Informationen wird das Schichtenmodell mit einem bestimmten Algorithmus durchsucht. Werden spezialisierte Artefakte gefunden, die zum Kontext der Prozessausführung passen, so ersetzt das System damit die jeweiligen standardisierten Artefakte. In diesem Beispiel bei einer Bestellung von Produkt A in Region I würden also im standardisierten Prozess die Erfassungsmaske A und der Sub-Prozess I das Standardverfahren ersetzen.

Die Besonderheit dieses Ansatzes liegt in der dynamischen Orchestrierung des Variantenprozesses zur Laufzeit unter Verwendung von deklarativen Mechanismen und Vererbung. Als technisches Grundkonzept sind folgende Punkte zu beachten:

  • Der standardisierte Prozess und die für die Varianten relevanten Artefakte werden getrennt voneinander definiert.

  • Zur Laufzeit wird deklarativ über Regeln und Vererbung bestimmt, welche Varianten-Artefakte relevant sind.

  • Der auszuführende Prozess wird dynamisch zur Laufzeit mit den Varianten-Artefakten angereichert beziehungsweise es werden entsprechende Artefakte ersetzt. Das System überwacht, dass keine Inkonsistenten zwischen den Artefakten auftreten.

Artefakte beliebig zu kombinieren

Die Vorteile dieses Ansatzes sind vor allem ein sehr hoher Grad an Wiederverwendbarkeit sowie die Möglichkeit, einzelne Artefakte nahezu beliebig zu kombinieren. Varianten lassen sich auf einfache Weise abbilden, so dass bestehende Prozesse ohne großen Aufwand erweitert oder an neue Situationen angepasst werden können. Unternehmen erreichen auf diese Weise einen hohen Grad an Standardisierung - die Basisschicht muss bei Änderungen nicht angepasst werden - bei gleichzeitig hoher Flexibilität in der Variantenabbildung. Die Flexibilität ist in diesem Modell auch bei großer Variantenbreite und -komplexität erheblich leichter zu beherrschen als in vergleichbaren Systemen.

Allerdings benötigen Anwenderunternehmen bei dieser BPM-Lösung aufgrund der dynamischen Orchestrierung zusätzliche Werkzeuge, um das Laufzeitverhalten sowie die Abhängigkeit der Artefakte untereinander zu visualisieren. Die Leistungsfähigkeit eines solchen Systems ergibt sich letztlich weniger aus der Möglichkeit, Schichten und Artefakte zu definieren und dabei auch bei großer Variationsbreite die Übersicht zu behalten, als aus der intelligenten Zusammenführung zur Laufzeit.

Algorithmus verhindert Konflikte

Wie gut das Gesamtsystem funktioniert, hängt also maßgeblich vom Algorithmus ab, der aus den Kontextinformationen die richtigen Artefakte heraussuchen und dabei auch Konflikte verhindern muss, wenn beispielsweise Produkt A nur für Region II verfügbar ist. Ist das sichergestellt, so erhalten Unternehmen ein System, mit dem sie auch hochdifferenzierte Prozesse zuverlässig und effizient beherrschen können.

Angesichts kürzer werdender ReleaseZyklen, wachsenden Marktdrucks und höherer Compliance-Anforderungen können sich Unternehmen mit einer derartigen schichtenorientierten BPM-Lösung wieder ein Stück Handlungsfreiheit zurückholen.(ba)