Studie: ERP-Systeme für die Prozeßindustrie

Baan und SAP sind nur Mittelmaß

07.05.1999
MÜNCHEN (CW) - Worauf Anwender aus der Prozeßindustrie achten sollten, wenn sie eine ERP-Lösung suchen, zeigt eine neue Studie. Vergleichen lohnt sich: Die Produkte der Big Player sind technisch und funktional bei weitem nicht die besten, dafür aber teuer.

Speziell für Unternehmen aus der chemischen, Pharma- und Lebensmittelbranche liegt ein Leitfaden "ERP-Systeme für die Prozeßindustrie"* vor. Die Autoren Matthias Uhrig, Bernd Kox und Thorsten Gensmer, allesamt bei der Unternehmensberatung Dr. Böhmer, Uhrig und Partner in Dreieich tätig, haben die Produkte von Baan, Marcam, QAD, Ross, SAP und SSA unter die Lupe genommen.

Soviel vorweg: Einen eindeutigen Sieger gibt es nicht. Doch hat sich während der Audits und aus der langjährigen Projekterfahrung der Consultants gezeigt, daß die speziellen Belange der Prozeßfertiger von weniger bekannten Anbietern wie Marcam, Ross und SSA besser erfüllt werden als von den ERP-Giganten SAP oder Baan.

Abgefragt und getestet wurde, wie leistungsfähig die Softwareprodukte für die Bereiche Einkauf, Vertrieb, Logistik/ Materialwirtschaft und Produktion sind und ob die dazugehörigen Geschäftsprozesse entsprechend abgedeckt werden. Auf die Betrachtung von Funktionen wie Finanzen und Controlling wurde verzichtet.

Eindeutiger Spezialist für die Prozeßindustrie ist Marcam Solutions Inc. aus Newton, Massachusetts. Die Anforderungen der Chargenverwaltung oder die Abbildung von Rezepturen und Herstelleranweisungen sind im Softwaredesign der Pakete "Prism" (AS/400) und "Protean 2.2" (NT und Unix) berücksichtigt.

Doch sollten Anwender beachten, daß das objektorientierte Protean technisch und konzeptionell eine Neuentwicklung ist und folglich noch nicht den vollen Funktionsumfang eines ERP-Systems erreicht hat. Ihre Stärken hat die Lösung eindeutig in den fertigungsnahen Bereichen, an der Behebung der Schwächen im Finanz- und Controlling-Teil wird mit Nachdruck gearbeitet. Seit Mitte letzten Jahres stehen erste Module für das Finanz- und Rechnungswesen und seit Dezember ein Paket für die Anlagenbuchhaltung zur Verfügung.

Besonders auffällig sind laut Autoren die Implementierungskonzepte und -werkzeuge, die Benutzerfreundlichkeit sowie die Skalierbarkeit und Modularität von Protean. Der Anbieter verspricht eine "Anpassung der Software ohne Modifikation". Hier kommen die Stärken des objektorientierten, komponentenbasierten Konzepts zum Tragen. Bedingt durch die junge Historie von Protean gibt es bislang wenig zertifizierte Integrationsmöglichkeiten mit Drittsystemen. Eine noch nicht vollständige Schnittstelle zu SAP R/3, die von dem Systemhaus MCI entwickelt wird, soll Ende 1999 in vollem Umfang enthalten sein. Dieses Interface hat für Marcam eine große Bedeutung, da die eigenen Produkte häufig in Kombination mit SAPs Finanzpaketen eingesetzt werden. Als kritisch stuft das Autorenteam die Vertriebs-, Beratungs- und Supportkapazitäten von Marcam ein. Anwender müssen sich in jedem Fall vor Beginn Ressourcen schriftlich zusichern lassen.

Im krassen Gegensatz dazu stellt sich die SAP dar. Über Kapazitätsengpässe hinsichtlich Support und Beratung brauchen sich die Anwender nicht den Kopf zu zerbrechen. Dafür zeigt R/3 3.1 in der Prozeßindustrie funktionale Schwächen. Die Autoren sprechen damit eine oft hinter vorgehaltener Hand zu vernehmende Kritik an SAPs Prozeßlösung offen aus. Zwar habe sich das Produkt, speziell das für diesen Industriezweig entwickelte "PP-PI"-Modul, innerhalb der letzten Jahre stark verbessert, doch die Walldorfer haben es bis dato nicht geschafft, die aus der diskreten Fertigung stammenden Wurzeln ihrer Prozeßlösung zu kappen.

Diese sind auch in den aktuellen Releases 4.0 und 4.5 erhalten geblieben. Vor allem die durch die Stücklistenstruktur vorgegebene Vorgehensweise kann bei der Abbildung der Waren- und Werteströme zu Problemen führen. So stößt das Paket etwa bei der Behandlung von Kuppel- und Recyclingprodukten sowie bei der Chargenrückverfolgung an seine Grenzen.

Der vielzitierte Vorteil von R/3, die enge Integration, gereicht den Walldorfer zum Nachteil, so die Autoren: Zwar ist der Standardfunktionsumfang der Software einzigartig, aber die einzelnen Module sind wesentlich stärker voneinander abhängig als bei den Konkurrenzprodukten. Das wiederum hat einen höheren Einführungsaufwand zur Folge, der sich gerade bei kleineren und mittleren Unternehmen bemerkbar macht.

Positiv fallen dagegen die Integrationsmöglichkeiten mit Fremdprodukten auf. Die Softwerker verfolgen hier eine sehr offene Politik, indem sie viele Schnittstellen sogar für Konkurrenten offenlegen. Kunden, Entwicklungspartner und nicht zuletzt auch Mitbewerber können dadurch ihrerseits Interfaces ihrer Produkte bauen, um sie an R/3 anzuschließen.

BPCS 6.0 von SSA

Gleichfalls stark in der Integration von Fremdprodukten und dem gebotenen Funktionsumfang zeigt sich SSA mit seiner Lösung "BPCS 6.0". Das Paket ist modularisiert und besteht aus 45 Applikationsbausteinen. SSA hat es verstanden, Objekttechniken konsequent umzusetzen, so daß ein Teil-Upgrade einzelner Module möglich ist. Die Company empfiehlt jedoch, zunächst eine komplette Aktualisierung auf die Version 6.0 vorzunehmen. Ab den Folgeversionen sei dann ein Upgrade von Einzelkomponenten sinnvoll.

Obwohl SSA nicht ausschließlich die Prozeßindustrie bedient, wird die Eignung für diese Klientel als gut eingestuft. Die Chargenverwaltung und -verfolgung gehört ebenso zum Lieferumfang wie das Management von Fertigungskampagnen und die Darstellung von Rezepturen. Problematisch ist dagegen die wirtschaftliche Situation des Unternehmens sowie der Nachweis, daß die neuen BPCS-Pakete (6.x und höher) stabil laufen. Ein neues Management, das seit April 1998 die Ruder übernommen hat, verspricht zwar Besserung, aber durchschlagende Erfolge sind bislang nicht in Sicht. Achtgeben sollten Anwender, daß SSA ähnlich wie Marcam ihnen konkret zusichert, mit wieviel Leuten der Hersteller wann für ein Projekt antreten will.

Renaissance aus den USA

Gut geeignet für die Belange der Prozeßindustrie, aber mit einer sehr dünnen Personaldecke im deutschsprachigen Raum ist Ross Systems aus Atlanta, Georgia. Dessen Anwendung "Renaissance CS 4.1" ist wie die Lösungen von Marcam speziell für Prozeßfertiger konzipiert und besticht durch ihre Software-Ergonomie und den Funktionsumfang. Es stehen eine Vielzahl an Softwarebausteinen zur Verfügung, die es erlauben, die Lösung komplett oder schrittweise zu implementieren. Die Abbildung von Konsignationslägern für Lieferanten und Kunden ist mit dem Standardpaket allerdings derzeit noch nicht abgedeckt. Ebenso sind dynamische Reservierungen geplanter Zugänge im Standard nicht möglich.

Im US-amerikanischen Markt ist Ross in den letzten Jahren zu einer festen Größe geworden. Damit scheint jedoch das Engagement des Managements im wesentlichen erschöpft zu sein. Dies zeigt sich auch daran, daß eine deutschsprachige projektbegleitende Dokumentation nur in begrenztem Umfang zur Verfügung steht oder mit deutlichem Zeitverzug erscheint. Bedingt durch die knappen Ressourcen hierzulande sind Service und Support am schwächsten unter allen hier verglichenen Anbietern.

MFG/Pro für den gehobenen Mittelstand

Durchweg im Mittelfeld positioniert ist QAD mit seiner Lösung "MFG/Pro 8.5". Obwohl die meisten Funktionen für spezielle Anforderungen der Prozeßindustrie abgedeckt sind, versteht sich QAD mit seinem Produkt eher als Breitenanbieter. Im Modul "Produktion" beziehungsweise "Rezepturen/Prozesse" werden die Fertigungsstrukturen abgebildet. Kuppel-, Neben- und Recyclingpodukte können definiert sowie Chargen verwaltet und verfolgt werden.

Die Behandlung von Konsignationslägern ist Bestandteil des Moduls Lieferketten-Management. Pluspunkte sammelt QAD durch die vergleichsweise kurzen Implementierungszeiten. So dauert die typische Einführung von MFG/Pro an einem Standort rund vier Monate. Schwach ausgeprägt sind dagegen die Workflow-Eigenschaften des Produkts.

QAD tritt als international operierender Anbieter im gehobenen Mittelstand auf. Dieser Klientel sollen vor allem die zahlreichen Supply-Chain-Management-(SCM-)Funktionen helfen, die Planung und Steuerung der Abläufe von komplexen Unternehmensstrukturen zu bewerkstelligen. Die Strukturen und Lieferbeziehungen zwischen Geschäftspartnern lassen sich dazu in Form von Netzmodellen abbilden, wodurch die Informations- und Materialströme zwischen Standorten geplant und terminiert werden können.

Von Baan IV zu Baan Series

Das niederländische Softwarehaus Baan kann die Herkunft seiner Lösung "Baan IVc" aus der diskreten Fertigung ebensowenig wie SAP mit R/3 verleugnen. Grundsätzlich deckt die branchenspezifische Version "Baan Process" die Ansprüche der Prozeßfertiger zwar ab. Doch können die Niederländer mit den hier verglichenen Paketen der Spezialanbieter nicht mithalten und sind in puncto Eignung für diese Branche deshalb nur unteres Mittelmaß.

Eine Chargenverwaltung und -verfolgung ist implementiert, allerdings sind die Abfragemöglichkeiten für Bestände und Reservierungen begrenzt. So sind speziell für die Pharma- und Lebensmittelhersteller wichtige Features wie Verlängerung der Mindesthaltbarkeit oder Abwicklung von Kundenbestellungen mit einer geforderten Mindesthaltbarkeit nicht möglich. Das Nachfolgeprodukt "Baan Series" soll diese Funktionen allerdings enthalten. Da die Software ähnlich wie R/3 monolithisch aufgebaut ist, besteht bisher keine Möglichkeit, Bausteine separat voneinander zu aktualisieren.

Neben den Schwächen im Produkt ist es bei Baan grundsätzlich fraglich, ob der Bereich "Process" in Zukunft überhaupt noch unterstützt wird, geben die Autoren zu Protokoll. Laut Gerüchten, die seit geraumer Zeit kursieren, soll sich Baan aus dem Prozeßgeschäft zurückziehen - zumindest wird es stiefmütterlich behandelt, wie Anwender der CW immer wieder bestätigen. Weiterer Schwachpunkt sind die Kenntnisse und Verfügbarkeit von Baan-Spezialisten. Diese liegen weit unter dem Durchschnitt der hier getesteten Anbieter.