Autoindustrie: Was Informatiker erwartet

13.09.2005
Von Helga Ballauf
Die Autoindustrie will nicht länger mit Meldungen zur Absatzkrise oder zu Rückrufaktionen Schlagzeilen machen. Firmen, die ihre Verkaufszahlen steigern möchten, benötigen Informatik- und Elektronikingenieure.

Kostenstress Rohstoffpreise - Globalisierung: Die Wertschöpfungskette auf dem Prüfstand." Oder: "Umbruch als Chance. Strategiecheck für Hersteller und Zulieferer." Wenn sich die Verantwortlichen der Automobilbranche treffen, steht die Krise der erfolgsverwöhnten deutschen Leitindustrie im Mittelpunkt. Kein Wunder also, dass der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Bernd Gottschalk, aufatmete, als die Zahl der Pkw-Zulassungen im Frühjahr 2005 größer war als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs: "Auch wenn das Automobilgeschäft schwierig bleibt, ist dieses Ergebnis ein Hoffnungsschimmer."

Hier lesen Sie …

• welche Aufgaben und Jobs Autobauer an die Zulieferer verlagern,

• warum die Fahrzeugelektronik 600000 Jobs schaffen soll,

• warum auch Ingenieure immer mehr an den Kunden denken müssen.

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Es gilt, die Rolle als "Schlüsselbranche, Innovationsführer und Jobmotor" zu verteidigen, heißt es im Jahresbericht 2004 des VDA. So lag der deutsche Automobilsektor wieder an der Spitze der weltweiten Patentstatistik - mit über 3000 Anmeldungen.

Tatsächlich wird es immer schwieriger, von "der" deutschen Autoindustrie zu sprechen: MAN und BMW geht es vergleichsweise gut, Opel und Daimler haben heftige Konflikte um Personalabbau und Standortschließungen hinter sich, Zulieferer wie Lear und ZF Friedrichshafen boomen.

Das ist kein deutsches Phänomen: Die Autoindustrie steckt weltweit in einem tief greifenden Wandel. Einer Fraunhofer-Studie zufolge steht nach der Einführung der Massenfertigung in den 20er-Jahren und der Rationalisierungswelle, die in den 80er-Jahren zu "schlanken" Produktionsstätten führte, nun der dritte Umbruch an: Die Zulieferindustrie wird bis 2015 große Teile der Entwicklung und Produktion von den Autoherstellern übernehmen.

Die Fraunhofer-Prognose unter dem Titel "Future Automotive Industry Structure 2015" baut auf einem anhaltenden Trend auf: Bereits 2002 stammten zwei von drei Autobestandteilen von Zulieferern. Die Eigenleistung der bekannten Fahrzeugbauer sinke in den kommenden zehn Jahren weiter - bis auf 20 Prozent, rechnet Frank Gehr vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) vor. BMW, Mercedes, Audi, Volkswagen, Porsche oder Ford werden sich künftig auf markenprägende Elemente wie Design, Vertrieb und Service konzentrieren.

In den Bereich Elektrik/Elektronik, sagt Gehr voraus, werden Autokonzerne als auch Zulieferer investieren: "Insgesamt wird sich die Wertschöpfung in der Fahrzeugelektrik und -elektronik bis 2015 fast verdreifachen." Hochgerechnet auf Europa gehen die Forscher von 600000 neuen Jobs allein in der Fahrzeugelektronik aus.

Allerdings müssen sich alle Beschäftigten auf strukturelle Unsicherheiten einstellen - lebenslange Jobs "beim Daimler" oder "beim Bosch" sind Auslaufmodelle. So geht die Studie, an der auch Mercer Management Consulting beteiligt war, zwar davon aus, dass in der europäischen Zulieferindustrie bis 2015 rund 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Gleichzeitig werde sich aber die Zahl der eigenständigen Unternehmen fast halbieren.

Neue Formen der Kooperation

Die OEM (Orginal Equipment Manufactorer) werden sich künftig noch stärker als bisher jenen Aufgaben widmen, die der eigentlichen Fahrzeugproduktion nachgelagert sind: Vertrieb, Services und Kundenbetreuung.

Eine andere Entwicklung hält Manfred Broy, Professor für Software und Systems Engineering an der Technischen Universität, für möglich: "Immer mehr OEM erkennen, dass sie eigene Kompetenz im Bereich ,Software im Fahrzeug’ aufbauen müssen, weil es um grundsätzliche Fragen der Architektur und Integrationsfähigkeit geht." Das würde für die Unternehmen bedeuten, sich bei der Entwicklung nicht nur auf die Zulieferer zu verlassen, sondern eigene Kompetenzen zusammenzustellen und zu bündeln, empfiehlt Broy, wie es etwa BMW mit Car-IT vormache.

Entscheidend für den weiteren Erfolg in der Branche ist - da sind sich alle Experten einig-, wie Geschäftsmodelle und die Arbeitsbeziehungen zwischen Konzernen und Teileherstellern gestaltet werden: "Die Zusammenarbeit muss sich grundlegend ändern, beispielsweise durch neue, weltweit gültige Standards im Produktionsentwicklungsprozess und in der Auftragsabwicklung", betont etwa Fraunhofer-Forscher Gehr. Schon heute präsentieren sich die Markenunternehmen gern als Dienstleister: Die Gewinne bei der Vorfinanzierung von Neuwagen sind beträchtlich; den Autokauf zelebrieren inzwischen alle als "Event" - am besten gleich mit Familienprogramm. Neu ist der Trend zum Rundum-Sorglos-Paket: "Jetzt können Sie auch bei Regen strahlen. BMW-Leasing inclusive Schönwettergarantie!", verspricht die Münchner Nobelmarke ihren Cabrio-Kunden. Und Ford bietet einen Schutzbrief an, der den Käufer vor unerwarteten Reparaturkosten bewahren soll: "Besser ankommen. Ankommen mit Garantie."

Hersteller werden Dienstleister

Der VDA sieht sogar schon das intelligente Gefährt, das den Fahrer - dank elektronischer Assistenzsysteme - vor Unfällen bewahrt: "Das Auto der Zukunft wird ,sehen’." Tatsächlich fördert das Bundesforschungsministerium das "Netzwerk auf Rädern", in dem Siemens, NEC, Audi, BMW, Daimler-Chrysler und VW einen herstellerübergreifenden Datenaustausch von Auto zu Auto entwickeln. Das Ziel des Ministeriums heißt: "Fahrzeuge sollen künftig derart miteinander kommunizieren, dass sie sich bei Verkehrshindernissen selbst vorwarnen können."

Ferdinand Dudenhöffer, Professor für Automobilwirtschaft an der Fachhochschule Gelsenkirchen, beschreibt die Zukunft so: "Weitere Innovationen im Auto sind ohne Software nicht mehr denkbar." Das beziehe sich auf die Entwicklung von neuen Komponenten, vor allem aber auf die Schnittstellen zwischen bestehenden Teilsystemen. Dudenhöffer: "Bisher wurde beim Auto immer ein neues Teil drangebaut. Nun muss das Augenmerk stärker auf die Wechselwirkung der Systeme gelegt werden." Dudenhöffer sieht, dass die Schnittstelle zwischen Autobauer und Zulieferer sorgfältig gepflegt werden muss, "um Stabilität im elektronischen Bereich zu gewährleisten und Qualitätsprobleme verringern zu können". Jede Rückrufaktion sei ein Desaster für alle Beteiligten.

Stärkere Kundenorientierung

Doch für einen jungen Ingenieur reiche es nicht, viel von Mechatronik, Software-Engineering oder Systemarchitektur zu verstehen, sagt der Betriebswirtschaftler: "Die Entwicklung von Innovationen ist nur dann erfolgreich, wenn der Kunde kauft. Deshalb brauchen wir in der Grundlagenforschung zwar weiter ein paar ,Daniel Düsentriebs’. Alle anderen Ingenieure müssen Kundenprozesse verstehen und Käuferdaten bei ihrer Arbeit berücksichtigen können."

Systemzusammenhänge vermitteln - darauf kommt es der FH Wiesbaden im "Kooperativen Ingenieurstudium Systems Engineering" an. Nach zehn Semestern haben die Absolventen den Facharbeiterbrief plus Ingenieurabschluss in der Tasche. Am Studienort Rüsselsheim stehen Grundlagen- und Querschnittswissen aus Maschinenbau, Informationstechnologie und Elektrotechnik auf dem Lehrplan. In der vorlesungsfreien Zeit läuft die Berufsausbildung in den kooperierenden Unternehmen - von Opel über Continental bis MAN Nutzfahrzeuge. Das ist zugleich Chance und Crux des Modells: Das zu erwerbende Wissen ist groß - allerdings auch die Bindung an ein Unternehmen, das während der fünfjährigen Qualifizierung möglicherweise von der Branchenkrise erfasst wird.

Kontakte knüpfen

Manfred Broy empfiehlt seinen Studenten an der TU München einen Dreierschritt, um für ein erfolgreiches Berufsleben gerüstet zu sein: zunächst tief in die grundsätzlichen Fragen der Informatik einsteigen, ohne sich von Moden ablenken zu lassen; erst am Ende des Studiums Schwerpunkte setzen und einschlägige Kontakte zur Industrie knüpfen. Zukunftsträchtig sind laut Broy alle Themen, die sich mit IT-Sicherheit im Fahrzeug, mit der Mensch-Maschine-Schnittstelle oder mit der Qualitätssicherung befassen. (am)