Juristisches Informationssystem beginnt zu laufen

Aus dem Richter, soll kein Sozialingenieur werden

05.12.1975

KASSEL - Von zwei Siemens-Datenstationen aus können die Richter des Bundessozialgerichtes in Kassel jetzt auf 16 000 Entscheidungen des Bundessozialgerichts, der Landessozialgerichte und der Sozialgerichte zurückgreifen die in den letzten 20 Jahren ergangen sind.

BSG-Präsident Professor Georg Wannagat: "Aus dem Richter wird dadurch kein Sozial-Ingenieur. Der Computer ist eine Arbeitshilfe bei der Urteilsvorbereitung aber er nimmt dem Richter nicht die Prüfung jedes einzelnen Falles und auch nicht die Verantwortung für das Urteil ab."

Leitsätze gespeichert

Gespeichert sind nicht vollständige Urteile, sondern lediglich die sogenannten "Leitsätze", außerdem Gerichtsbezeichnung und Aktenzeichen. Ein solcher Leitsatz kann beispielsweise (OLG Hamburg vom 28. August) lauten: "Eine unerlaubte Arbeitsvermittlung ist nicht gegeben, wenn der Täter zwar Entgelt erhält, es aber an Teststellungen fehlt, daß seine Tätigkeit auf wiederholte Zusammenführung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur Begründung von Arbeitsverhältnissen gerichtet ist."

Ein solcher Leitsatz wird entweder - wenn er einer Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift entnommen wurde - im Bundessozialgericht mit einem Nixdorf-Gerät auf Kassette erfaßt oder (ausgehend von der bisherigen Dokumentation auf Karteikarten) auf einen Lochbeleg übertragen und an einen Servicebetrieb zum Ablochen gegeben. Kassetten und Lochkarten gehen dann nach Köln, wo bisher noch bis zur Fertigstellung der RZ-Räume bei der Siemens-Niederlassung die 4004/151 (1MB) des Bundesjustizministeriums steht. Der Zugriff von der Kasseler Datenstation zum Rechner in Köln erfolgt über Standleitung. Die Datenträger werden in Köln eingelesen, mit "Passat" selektiert der Rechner automatisch alle Suchbegriffe (Stichworte) aus den Texten, danach werden die Leitsätze und Stichworte gespeichert. Verwendet wird das Datenbanksystem Golem, ebenso wie Passat von Siemens.

2,8 Milliarden Bytes

Die Sozialrechtsdatenbank, die in den nächsten Jahren außer Urteilen auch Gesetzestexte und Fachliteratur aufnehmen soll, ist Teil des geplanten Informationssystems Juristen des Bundesjustizministeriums. Zum sechs Jahre dauernden Großtest (zwei davon sind vergangen) starten die Juristen einerseits mit einer Steuerrechtsdatenbank (privatwirtschäftlicher Konkurrent: die Steuerberaterorganisation Datev), andererseits mit der Sozialrechtsdatenbank. Das Sozialrecht wurde gewählt, weil in Kassel beim Bundessozialgericht schon eine Dokumentation mit 500 000 Karteikarten bestand, die manuell nicht mehr bewältigt werden konnte und weil das Sozialrecht sehr viel schnelleren Wandlungen unterliegt als etwa das bürgerliche Recht.

Das juristische Informationssystem soll 1976 kräftig ausgebaut werden die Plattenspeicherkapazität wird von jetzt 240 MB auf 2,8 Milliarden Bytes aufgestockt. Die Zahl der angeschlossenen Bildschirmstationen soll in wenigen Jahren auf 300 bis 500 anwachsen. Derzeit sind an die Sozialrechtsdatenbank neben dem Bundessozialgericht die sechs Landessozialgerichte Berlin, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg sowie die kassenärztliche und die kassenzahnärztliche Bundesvereinigung angeschlossen, Später soll das System auch Anwälten zugänglich sein. -py