Moderne Elektronik wird immer häufiger eingesetzt:

Auf Verbrecherjagd mit dem Computer

11.11.1988

Die Aufklärung von Straftaten längst nicht mehr Sache eines einzelnen, brillant kombinierenden Super-Cops, der schweigsam kombiniert und dann plötzlich im entscheidenden Moment zuschlägt, sondern die Arbeit eines Teams von Spezialisten, die mit Elektronenmikroskopen und Computern ebensogut umgehen können wie ihre historischen Vorgänger mit dem Vergrößerungsglas.

Blackburn, Mai 1948. In der nordwestenglischen Großstadt entführt ein Unbekannter die vierjährige June Anne Devaney aus dem Kinderspital, vergeht sich am Mädchen und bringt es schließlich um. Es ist der dritte Kindermord innerhalb kurzer Zeit. Die Bevölkerung ist tief beunruhigt und ruft nach drastischen Maßnahmen.

Die Polizei fackelt nicht lange. Detektive sichern im Krankenzimmer, wo die Kleine gelegen hatte, Hunderte von Fingerabdrücken. Die meisten stammen vom Personal, von Patienten oder von Besuchern. Doch einige lassen sich nicht identifizieren.

Der mit dem Fall beauftragte Kommissar leitet die größte Fahndungsaktion der britischen Kriminalgeschichte ein: Zehntausende von Fingerabdrücken werden in akribischer Kleinarbeit ausgewertet. Zehn Wochen dauert es, bis die Fahnder endlich am Ziel sind und den Mörder aufgrund seiner Fingerabdrücke dingfest machen können.

Ermittlungen in diesem Ausmaß waren vor 40 Jahren nur in seltenen Fällen möglich; heute gehören sie längst zum Polizeialltag. Der Grund: Ohne moderne Hilfsmittel wie chemische Analysegeräte, Elektronenmikroskope und Computer läuft heute bei der Spurenauswertung und Fahndung fast gar nichts mehr.

Die Anschaffung der aufwendigen und entsprechend teuren "Fahndungsmaschinen" lohnt sich aber auch: Ein moderner (amerikanischer) Fingerabdruck-Computer, wie ihn die schweizerische Bundesanwaltschaft einsetzt, hat die Erfolgsquote mehr als verzehnfacht - nicht etwa, weil er präziser arbeitet als ein Spezialist, sondern weil er sehr viel schneller ist: "Im vorelektronischen Zeitalter", erklärte Pressesprecher Josef Hermann auf Anfrage, "konnten die Schweizer Detektive pro Jahr lediglich 30 Tatortspuren mit Fingerabdrücken identifizieren und zuordnen; heute schaffen sie mit Computerhilfe im gleichen Zeitraum 400 oder mehr."

Das deutsche System arbeitet halbautomatisch

Da eine erfolgreiche Identifizierung häufig zur Abklärung von mehreren Straftaten führt, ergibt sich ein Multiplikator-Effekt, wie die Statistik deutlich zeigt: So konnten zum Beispiel im letzten Jahr in der Schweiz mit dem Fingerabdruck-Computer - darin sind rund 260 000 Einträge gespeichert - mehr als 1500 Straftaten aufgeklärt werden.

Ähnliche Erfahrungen hat man beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden gesammelt, wo gegenwärtig über drei Millionen Fingerabdrücke im Computer gespeichert sind. Im Gegensatz zum Schweizer System arbeitet das bundesdeutsche allerdings erst halbautomatisch: Die Fingerabdrücke müssen noch von Auge ausgewertet und in lange Formelreihen codiert werden, bevor man sie dem Computer vorlegen kann. Doch dann geht alles schnell - wie bei der Berner Fahndungshilfe.

"Der entscheidende Fortschritt des Verfahrens", heißt es in einer Informationsbroschüre des BKA, "ist die Möglichkeit, die Fingerabdrücke eines noch unbekannten Täters mit Millionen Fingerabdrücken bereits bekannter Rechtsbrecher zu vergleichen. Noch vor wenigen Jahren hielten dies die meisten Kriminalisten für eine Utopie."

Computer können selbstverständlich mehr, als nur Fingerabdrücke vergleichen. Beim Bundeskriminalamt setzt man sie auch ein, um Handschriften und Stimmen zu analysieren. Beides sind relativ neue Anwendungsgebiete, die noch in der Erprobung sind. In der Schweiz wartet man diesbezüglich noch ab.

Rund 70 000 Schriftproben haben die Spezialisten vom Bundeskriminalamt bisher gesammelt und in einer großen Computerdatenbank abgelegt. Sie stammen von Erpresserbriefen, Urkunden, aber auch von Hotelmeldezetteln. Zu diesem Zweck nimmt eine Kamera das Schriftstück auf; der Apparat - eine VAX 11/780 von Digital Equipment - zeigt das digitalisierte Bild auf dem Monitor. Mit Tastatur und Grafiktablett gibt der Operateur dem Computer die nötigen Anweisungen, um die typischen Schriftdaten zu errechnen und abzuspeichern. Maßgebend sind Kriterien wie Zeilenabstand, Unter- und Oberlängen, Neigungsgrad, Buchstabenbreite, Schleifengröße usw. Meist genügt es, den Cursor in die Nähe eines Buchstabens zu führen - den Rest besorgt dann die Maschine selbst.

Ziel des ehrgeizigen Programms ist es, neue Schriftstücke zu analysieren und mit bereits gespeicherten zu vergleichen - eine mühsame Fleißarbeit, die sonst teure Graphologen erledigen müßten. Jetzt kommen sie erst zum Einsatz, wenn der Computer eine Vorauswahl ähnlicher Schrifttypen getroffen hat und es um Detailanalysen geht, bei denen die Maschine überfordert ist. Arbeitslos werden die Graphologen deswegen noch lange nicht: In der BRD werden jährlich rund 80 000 Schecks gefälscht.

Noch schwieriger als die automatisierte Handschriftenuntersuchung ist die elektronische Analyse menschlicher Stimmen. Das Prinzip besteht darin, die einzelnen Wörter mit dem Computer auf ihre Tonhöhen und Sprechgeschwindigkeit zu analysieren und sie in farbige Spektren umzusetzen. Statt auf Töne zu hören, die in Sekundenbruchteilen am Ohr verbeihuschen, analysieren die Spezialisten grafische Farbmuster auf dem Bildschirm und versuchen, darin charakteristische Eigenschaften zu erkennen.

Vom Fernziel, mit Computerhilfe nicht nur den Dialekt und Akzent einer Stimme, sondern auch das Alter und andere individuellen Eigenheiten des Sprechers herauszufiltern, ist man heute allerdings noch weit entfernt. Nach Aussage eines Schweizer Polizeisprechers müssen die bereits recht fortgeschrittenen amerikanischen Geräte und Programme für europäische Sprachen erst noch besser abgestimmt werden.

Solche Schwierigkeiten schrecken die Phonetiker vom Bundeskriminalamt aber nicht ab. Sie sind davon überzeugt, daß sie mit ihrem ausgeklügelten System eines Tages ein weiteres wirksames Hilfsmittel zur Verfügung stellen werden.

Was der Computer allerdings nie können wird, ist die automatische Zuordnung, bei der die Maschine kurz hinhört, dann in der elektronischen Stimmensammlung sucht und, falls sie fündig wird, den Namen des Sprechers ausspuckt. Denn bei der menschlichen Stimme gibt es zum Leidwesen der Fahnder keine Merkmale, die ein Leben lang konstant bleiben.

Wie nützlich die Methode allen Widrigkeiten zum Trotz sein kann, zeigt der Entführungsfall Cornelia Becker, der vor ein paar Jahren großes Aufsehen erregte. Ein vom BKA-Computer erstelltes Spektrogramm der Telefonstimme zeigte kurz vor dem Wort "Rommel" eine rotschwarze Einfärbung, die auf einen außergewöhnlich starken Klicklaut im Rachen des Entführers hinwies. Vergleiche mit der Stimme eines der Tat Verdächtigten zeigten das gleiche Muster. Da nützten alle Unschuldsbeteuerungen nichts mehr - die Beweislast war zu groß geworden.

80 Prozent mehr Verhaftungen als früher

Auch bei der Fahndung spielt der Computer eine wichtige Rolle. Er ersetzt zusehends die kiloschweren Listen, die oft schon veraltet sind, wenn sie aus der Druckerei kommen.

"Mit Hilfe des Computers können rund 80 Prozent mehr ausgeschriebene Personen verhaftet werden als früher mit dem schwerfälligen Nachschlagen im Fahndungsbuch." Diese positive Bilanz meldete das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement in Bern bereits nach einem einjährigen Vollbetrieb mit dem automatisierten Fahndungssystem RIPOL. Daran angeschlossen sind 60 Grenzstellen und die deutschsprachigen Polizeikommandos. In Kürze sollen auch die Polizeistellen in den anderen Kantonen angeschlossen werden. Um die Fahndungslücken noch kleiner zu machen, plant die Schweizer Polizei auch den Einsatz tragbarer Terminals. Sie sollen in erster Linie an kleineren Grenzstellen und in Reisezügen zum Einsatz kommen.

Mit Hilfe des RIPOL-Computers sucht die Schweizer Polizei im Moment 75 000 Personen, bei denen entweder Verhaftungsbefehle, Fragen nach ihrem Aufenthaltsort, Einreisesperren oder Ausweiseverfügungen vorliegen. Im letzten Jahr gab es 31 000 Mutationen: 17 000 Personen kamen neu in den Fahndungscomputer, 14 000 Einträge wurden gelöscht. Seit Anfang 1987 ist dank RIPOL auch die gesamte Schweizer Fahrzeugfahndung automatisiert. In dieser RIPOL-Datenbank findet man im Moment rund 320 000 Einträge - ein Vielfaches der Ausschreibungen, die früher im Fahndungsbuch publiziert wurden.

Was RIPOL für die Schweiz, ist INPOL für die Bundesrepublik. Allerdings ist dieses System etwas weiter entwickelt, denn es besteht bereits seit 1972 (siehe Kasten "Fahnder sind immer auf Draht").

Was bei der Polizei so alles an Daten anfällt, ist immens: Neben den Personen- und Sachfahndungsdaten gibt es noch eine ganze Reihe anderer Informationen, die gesammelt, laufend aktualisiert und aufgrund gesetzlicher Bestimmungen nach einer bestimmten Zeit wieder gelöscht werden müssen: Zum Beispiel die sogenannten Kriminalakten. Damit kann die Polizei im Idealfall den gesamten kriminellen Werdegang eines Straftäters verfolgen. In der BRD sind fast 1,2 Millionen solche Personalien erfaßt.

Mit dem Sammeln fängt die Arbeit erst an

Groß ist auch die Sammlung der Fingerabdruckblätter, die sämtliche Fingerabdrücke der rechten und linken Hand zeigen. Im BKA werden gegenwärtig 3,25 Millionen Blätter von 1,65 Millionen Personen archiviert. Durchschnittlich kommen jeden Monat 20 000 neue dazu, während andere gemäß den Datenschutzbestimmungen ausgesondert werden.

Schließlich unterhält die Polizei auch ein großes Fotoarchiv. Die zentrale Lichtbildsammlung des BKA zum Beispiel enthält für Fahndungszwecke Aufnahmen von über zwei Millionen Personen.

Mit dem Sammeln von Daten fängt die eigentliche Arbeit aber erst an: Ohne ein permanentes Ordnen, Sortieren, Aktualisieren - dazu gehört auch das Löschen alter oder überholter Datensätze - nützt die ganze Informationsflut so gut wie gar nichts. Wer sie bewältigen will, hat heute gar keine andere Wahl, als leistungsfähige Computer einzusetzen.

INPOL garantiert schnelle Information

Freitag, 18.06 Uhr: Im Kriminalpolizeiamt Saarbrücken wird die Fahndung nach Erwin P. ausgelöst, der dringend verdächtigt wird, als Inhaber einer dubiosen Firma Ersparnisse veruntreut zu haben.

18.07 Uhr: Auf dem Flughafen Düsseldorf, 300 Kilometer von Saarbrücken entfernt, zeigt ein Reisender dem Paßbeamten seine Dokumente vor. Kurz darauf wird der Möchtegern-Fluggast festgenommen: Es ist der gesuchte Erwin P.

Dieser schnelle Fahndungserfolg

- Erwin P. ahnte noch nicht einmal, daß ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden war

- war nur möglich durch INPOL, ein elektronisches Informationssystem, das die Polizeistellen von Bund und Ländern gemeinsam betreiben.

Zentralstelle von INPOL ist das Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Ein Datenpool erlaubt die Eingabe, Änderung und Abfrage polizeilicher Informationen auf Tastendruck. Geschwindigkeit ist zum Beispiel dann gefragt, wenn eine Streifenwagenbesatzung nach einem Einbruch Verdächtige antrifft und deren Personalpapiere überprüft. Eine Sprechfunkanfrage bei der Leitzentrale, die einen Draht zum Fahndungscomputer hat, bringt in wenigen Sekunden Auskunft darüber, ob die Festgehaltenen bereits "polizeibekannt" sind oder nicht.

Noch schneller sind die mobilen Kleinterminals, die in der BRD seit kurzem eingesetzt werden. Sie sind - ebenfalls über Funk - direkt mit dem INPOL-Rechner verbunden. Sie beschleunigen nicht nur die Fahndung, sondern machen sie auch sicherer: Während man den Polizei-Sprechfunk - verbotenerweise - mit umgebauten Radioempfängern abhören kann, ist dies bei der Funkdatenübertragung praktisch unmöglich. Selbst die Verwendung gestohlener Mobil-Terminals würde "Interessenten" nicht viel nützen, da die Polizei solche Geräte sperren kann.

Personenfahndung über INPOL gibt es seit 1972. Eingabe und Abfrage erfolgten damals allerdings noch durch Übersendung von Formularen oder Fernschreiben. Der Online-Betrieb wurde erst zwei Jahre später eingeführt. Seit 1974 also stehen nach einer Fahndungseingabe - egal, wo diese gemacht wird - solche Informationen bundesweit praktisch jedem Polizeibeamten zur Verfügung; er braucht sie bloß auf dem Computer abzurufen.

INPOL ermittelt auf Tastendruck, ob eine Person zur Festnahme oder Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben ist oder ob eine Ausweisungsverfügung besteht. Anfang 1987 waren in INPOL 166 000 Verhaftungsbefehle, 58 000 Ausschreibungen zur Aufenthaltsermittlung und rund 100 000 Ausweisungsverfügungen gegen rechtskräftig verurteilte Ausländer gespeichert.

Mit INPOL kann man nicht nur Personen, sondern auch Sachen suchen - solange sie numeriert sind. In der entsprechenden Datei sind gegenwärtig rund 2,65 Millionen Gegenstände erfaßt: unter anderem 114 000 Personenwagen, 10 000 Lastwagen, 175 000 Mopeds und Motorräder, 215 000 Fahrräder, 1,2 Millionen Ausweise und fast 60 000 Schußwaffen.

Die Liste der INPOL-Hardware ist recht eindrücklich: In Wiesbaden arbeiten fünf Zentraleinheiten mit einer Hauptspeicherkapazität von 40 Megabytes. Datenleitungen von mehreren zehntausend Kilometern Länge verbinden die Zentrale mit den Rechnern der Länderpolizeien und den rund 4000 Terminals, die am INPOL-Netz hängen. Die bestens geschützte und praktisch ausfallsichere Anlage ist so ausgelegt, daß pro Sekunde bis zu drei Anfragen erledigt werden können.