IT in Versicherungen/Organisationsübergreifende Geschäftsprozesse sind eine Herausforderung

Auf den Vertriebswege-Mix kommt es an

16.02.2001
Viele Versicherungen erweisen sich als rückständig in Sachen E-Business - ein Hinweis, dass sich die Branche insgesamt in einer Orientierungsphase befindet. Deutlich wurde indes bereits eines: Die großen Rationalisierungseffekte liegen im Business-to-Business- und nicht im Business-to-Consumer-Bereich. Von Michael Müßig*

Betrachtet man die aktuellen Veröffentlichungen und Angebote zum Thema "Internet und Versicherungen", so drängt sich der Eindruck auf, es gäbe nur Privatkunden als mögliche E-Business-Partner der Gesellschaften. Da gerade in diesem Bereich die Old-Economy-Unternehmen wegen ihrer historisch gewachsenen Bindung zu Außendienstlern, Ausschließlichkeitsvertretern und Maklern aber behutsam mit neuen Angeboten vorgehen müssen - schließlich hängt das aktuelle Neugeschäft an diesen Partnern - scheint das Web-Potenzial bei Versicherungen gering. Nur eine klare Differenzierung der Marktpartnerstrukturen, der Bindungsphase und der Interaktionstiefe erschließt die vollständigen Betätigungsfelder und kristallisiert die relevanten Internet-Geschäftsprozesse heraus.

Fünf BindungsphasenHier lassen sich die Phasen

- Information/Produktpräsentation,

- Beratung und Berechnung,

- Antrag und Abschluss,

- Bestandsbearbeitung sowie

- Schadenmeldung und -regulierung

unterscheiden. (siehe Abb. Seite 66 unten)

In der Phase Information/Produktpräsentation werden allgemeingültige, nichtindividualisierte und damit aufgrund der Vielfalt der Leistungserweiterungen und -einschränkungen auch nur wenig vergleichbare Daten für den Nutzer bereitgestellt. Demgegenüber ist in der Phase der Beratung und Berechnung schon eine intensivere Interaktion zwischen Nutzer und Versicherungsunternehmen notwendig. Ein Beispiel aus dem Segment Kraftfahrzeugversicherungen ist die Online-Tarifierung, die aufgrund ihrer Vielzahl von harten (Fahrzeugtyp, Ausstattung, Alter des Versicherungsnehmers) und weichen Faktoren (Garage, Immobilienbesitzer, Familie) nur auf Basis detaillierter Nutzerangaben durchgeführt werden kann. Doch auch in dieser Phase ist es möglich, anonymen Kontakt mit dem Anbieter aufzunehmen.

Erst in der Phase des Versicherungsantrags muss sich der Abschlusswillige mit persönlichen Daten identifizieren. Da es sich bei allen Versicherungen um zweiseitige Rechtsgeschäfte mit Antrag und Annahme handelt, wird - und dies ist bei fast allen aktuellen Web-Angeboten die Regel - ausschließlich der Antragsteil des Nutzers beziehungsweise Interessenten Web-basierend abgewickelt. Die Prüfung des Antrags oder dessen Annahme durch Ausstellen der Versicherungspolice etc. erfolgen immer noch "Web-frei". Dies hat zwei Ursachen: Der technisch/juristische Grund ist die immer noch problematische Authentifizierung und Identifikation des Antragstellers. Solange die elektronische Signatur nicht breit gesetzlich für viele Vertragstypen anerkannt wird - und dafür reicht nicht die Verabschiedung des Gesetzes zur elektronischen Signatur, sondern es erfordert die Anpassung einer Reihe weiterer, spezifischer Gesetze -, wird hier aufgrund von Formvorschriften immer ein rechtsproblematischer Raum bestehen. Selbst nach Aufhebung dieser Einschränkung werden die quantitative Verbreitung und die Akzeptanz der elektronischen Signatur im Privatbereich erst in längeren Zeithorizonten wirken. Der eher vertriebs- und strategieorientierte Grund liegt in der Einbindung des aktuell agierenden Kundenkontakters - ob nun als Außendienstmitarbeiter, Ausschließlichkeitsvertreter oder Makler.

Während bei Geschäftsabwicklungen über Makler die direkte Kontaktaufnahme zwischen Versicherer und Kunde sogar untersagt ist, wird bei den beiden anderen Ausprägungen jede Möglichkeit genutzt, um im persönlichen Gespräch die weiteren Versicherungsbedarfe zu ermitteln und weiteres Neugeschäft zu akquirieren. Ähnliche Argumente gelten dann im Rahmen der Bestandsführung. Man benötigt keine fundierten ablauforganisatorischen und kostenrechnerischen Kenntnisse, um zu ermitteln, dass einfache Änderungen (Bankverbindung, Adresse etc.) in der direkten Interaktion "Kunde übers Web in die Bestandsführung" deutliche Effizienzeffekte generieren. Voraussetzung ist auch hier: Man will es - siehe die Kontaktargumentation bei Antrag und Abschluss -, und man kann es: Die technologischen Herausforderungen eines direkten Einspielens von Bestandsinformationen aus dem Web in die Bestandssysteme beziehungsweise vorher das Bereitstellen von Vertragsakten (Auskunftsteil) in das Web sind aufgrund der gewachsenen Systeme enorm. Das bedeutet, die offenkundige Geschäftsprozessoptimierung wird aus Vertriebsüberlegungen häufig nicht gewünscht, aus IT-Sicht auch nicht gefördert. Analog ist das Thema der Schadensmeldung und - regulierung zu werten. Eine interaktive Bearbeitung und eine Auskunftsmeldung über den Bearbeitungsstatus weisen aus prozessorganisatorischer Sicht deutliche Vorteile auf. Die Gegenargumente für eine rasche Web-Unterstützung sind identisch.

Hier ist eine Unterscheidung zwischen

- Pflichtversicherungen und

- eher emotional bedingten Versicherungen

zu treffen. Während eine Web-basierende Anbahnung und der Abschluss bei Pflichtversicherungen (Brandschutzversicherung, Kfz-Haftpflichtversicherung) noch nachvollziehbar ist, wird bei emotional geprägten Versicherungen (Lebensversicherung, Unfallversicherung) der Aspekt der Verkaufspsychologie stark betont. Auch hier sind die aktuellen Strukturen und Denkweisen in Versicherungsunternehmen nur bedingt geeignet, innovative Web-Lösungen zu entwickeln.

Ist somit das Internet im Versicherungsbereich wirklich nur eine weitere Marketing-Plattform, die ihren Stellenwert im Vertriebswege-Mix erst noch sucht? Im Bereich Privatkunden sicherlich. Aber dies ist ja nur einer der relevanten Marktpartner. Die wirklich spannenden Geschäftsprozesse liegen künftig auf anderen Gebieten.

Differenzierung der MarktpartnerBusiness-to-Business (B-to-B): Das Firmen- und Unternehmensgeschäft ist auf der Umsatz - wie auch Ertragsseite für eine Reihe von Anbietern sehr relevant. Hier ergibt sich eine Vielzahl potenzieller Web-Lösungen.

Einzelne Versicherungssparten erfordern - nach Abschluss eines Basis- beziehungsweise Rahmenvertrages - die regelmäßige Meldung einzelner Werte, aus denen sich dann die Prämien- und Schutzwerte ermitteln. Beispielsweise muss in der Transportversicherung wertabhängig der Versicherer über die Anmeldung eines Transportes informiert werden. Anderes Beispiel: Es wird eine Aktualisierung von Kfz-Beständen bei Unternehmensflotten, die nach dem Stückpreismodell tarifiert werden, notwendig. In beiden Bereichen ist ein elektronischer Datenaustausch für beide - das Unternehmen als Versicherungsnehmer und die Versicherung - mit deutlichen Rationalisierungsmöglichkeiten verbunden. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Kunde gezwungen wird, Daten aus seinem System in ein Web-Formular der Versicherung einzugeben und/oder die Versicherung diese Daten dann manuell in ihre jeweiligen Bestandssysteme einpflegen muss. Ausschließlich durch eine durchgängige Geschäftsprozessintegration - Datenentstehung beim Kunden, Datenübermittlung zur Versicherung, Pflege der Vertragsdaten beim Versicherer und Aktualisierung der jeweiligen Vertragsakte - sind echte Effekte bezogen auf Zeit und Kosten realisierbar.

Aber nicht nur der Geschäftskunde selbst ist im B-to-B-Segment der Versicherungsgesellschaften relevant. Betrachtet man beispielsweise die Abläufe im Rahmen der Sicherungsübereignung der Kaskoversicherung an einen Kredit- oder Leasinggeber im Rahmen der Kfz-Versicherung, so zeigt sich hier ein mehrstufiges, organisationsübergreifendes Geschäftsprozessmodell. Der Kunde - unabhängig ob Privat oder Unternehmen - finanziert ein Fahrzeug und muss dieses aus Kreditsicherungsgründen Vollkasko versichern. Dazu wird bei der Versicherung ein Sicherungsschein hinterlegt, aus dem hervorgeht, dass Leistungen aus dem Vertrag nicht an den Versicherungsnehmer, sondern an den Kredit- beziehungsweise Leasinggeber ausbezahlt werden. In der Dreiecksbeziehung Kunde-Versicherung-Bank ist aktuell ein sehr medienbruchbehafteter Ablauf realisiert, der allen beteiligten Marktpartnern Zeit und Kosten verursacht. Gerade bei solchen mehrstufigen Prozessen ist durch aktuelle Entwicklungen in naher Zukunft ein enormes Rationalisierungspotenzial zu realisieren.

Business-to-Mediator (B-to-M): Gerade in Hinblick auf das Internet werden Mediatoren, also Makler und Versicherungsvermittler, für die Versicherer weiterhin wichtig sein. Aus den eingangs genannten Vertriebsstrukturgründen bietet genau dieser Typ Marktpartner eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten.

Effizienzvorteile sind realisierbarÄhnlich wie im Bereich der Kreditvermittlung, wo man durch B-to-M-Lösungen Antrag und Abschluss von Konsumentenkreditverträgen an den Point-of-Sales des zu finanzierenden Produktes verlagert hat (siehe Müßig, M.: "Wie Banken mit Extranets das Geschäft erweitern können" in: CW 51/98, Seite 54), ist eine solche vollständige, fallabschließende Bearbeitung auch im Versicherungsbereich denkbar und notwendig.

Die für das Privatgeschäft angeführten Ablehnungsgründe der Identifikation und des fehlenden direkten Kundenkontakts fallen weg, die Effizienzvorteile sind vollständig realisierbar. Die gesamte Prozedur von der Beratung über Berechnung und Beantragung bis zur Vertragsannahme kann durch Extranet-basierende Lösungen abgewickelt werden, wobei der Makler für den Kunden agiert, dieser aber durch eine - immer noch notwendige - Unterschrift juristisch als Vertragspartner fungiert. Dies ist zwar bei allen Versicherungssparten möglich und sinnvoll unabhängig davon, ob ein Versicherungsagent im Unternehmens- oder im Privatkundengeschäft tätig ist. Aber ausschließlich durch Nutzung der Web-Technologie gelingt es, die bei bisherigen Notebook- beziehungsweise Offline-Lösungen auftretenden Probleme wie Datenaktualisierung, tagesaktuelle Tarifierungsrechnungen, Datenübermittlung in die Antragsprüfungssysteme des Versicherers und Vertragsannahme beziehungsweise Policierung zu beheben.

Business-to-Employee (B-to-E): Was bisher als Intranet bezeichnet wurde, wird jetzt als Business-to-Employee in das "B-to-X-Schema" eingeordnet. In vielen Einzelbereichen decken sich die notwendigen Applikationen mit den Anforderungen der Mediatoren. Aus Geschäftsprozesssicht sind lediglich die derivaten Bestandteile "Provisionsberechnung" und "Gutschrift" zu differenzieren. Der eigentliche Versicherungsvertrag sowie die zur Vorbereitung notwendigen Teilaktivitäten unterscheiden sich nicht.

Business-to-Administration (B-to-A): Bei einigen Versicherungsarten ist der Versicherungsschutz mit behördlichen Vorgängen verknüpft. Prägnantes Beispiel ist der Kfz-Zulassungsprozess. Hier ist es aufgrund des Pflichtversicherungsgesetzes notwendig, eine Kfz-Haftpflichtversicherung nachzuweisen, um das Auto zulassen zu können. Dies erfordert folgende Schritte:

- Kunde/Halter fordert eine Deckungskarte bei der Versicherung an,

- Kunde füllt einen Versicherungsantrag aus,

- Kunde geht mit Kfz-Brief und Deckungskarte zur Zulassungsstelle,

- Kunde erhält ein Schreiben der Zulassungsstelle, mit dem das Kfz-Kennzeichen beauftragt wird,

- Kunde geht damit zum Schilderdienst, dort Produktion des Kennzeichens,

- Kunde geht wieder zur Zulassungsstelle, Schilder werden gestempelt (TÜV/Zulassungsstempel),

- Kunde bekommt Kfz-Schein und Schilder ausgehändigt,

- Zulassungsstelle schickt Versicherungsbestätigung zur Versicherung,

- Versicherung führt Deckungskarte und Versicherungsantrag zusammen,

- Versicherung schickt Versicherungspolice an Kunde

Übernimmt die Zulassung ein Kfz-Händler, so sind bis zu sechs Marktpartner an diesem Prozess beteiligt:

- Kunde

- Versicherungsvertreter

- Versicherung

- Zulassungsstelle

- Schilderdienst

- Eventuell Kfz-Händler

Dies bedeutet, dass die zulassungsrelevanten Daten wie beispielsweise Halteradresse und Fahrgestellnummer mehrfach erfasst werden müssen, da die Systeme der Beteiligten nicht integriert sind. Eine explizite Wirtschaftlichkeitsberechnung verbietet sich hier, da allein die Vorteile der Datenqualität (beim Datenaufbau der Fahrgestellnummer extrem gefährdet) alleine Integrationsgrund genug sind.

Fazit: Aufgrund ihrer Medienwirksamkeit werden hauptsächlich B-to-C-Lösungen (Business-to-Consumer) als Web-Ansatz der Versicherungsunternehmen herausgestellt. Hier versuchen sich viele New-Economy-Firmen als klassische Makler, indem sie etwa Musterrechnungen konzipieren oder Versicherungsvergleiche durchführen. Die wesentlich größeren Rationalisierungs- und Integrationseffekte liegen aber auch hier im B-to-B-Bereich, im Bereich der Geschäftsprozesse, bei denen der Versicherer direkten Kontakt zum Kunden hat: über Außendienstler, Ausschließlichkeitsvertreter und Makler. Denn der Weg zu einer massiven Veränderung des Vertriebswege-Mix ist noch weit.

* Professor Dr. Michael Müßig (36) ist Leiter des Steinbeis Transferzentrums Future-Business in Würzburg (www.muessig.org).

Abb.1: Business-to-X

Der Privatkunde ist nur einer der relevanten Marktpartner. Die wirklich spannenden Geschäftsprozesse liegen künftig auf anderen Gebieten: Business-Kunden und -Partner, Behörden und Makler sind gefragt. Quelle: Müßig

Abb.2: Geschäftsprozesse im Versicherungsgeschäft

Der Grad der Interaktion zwischen Nutzer- und Versicherungsunternehmen nimmt bis zum Antrag auf Abschluss zu und dann im besten Fall wieder ab. Quelle: Müßig