Auch Computernetze sind an der Zerstoerung des Planeten beteiligt Medienoekologie: Ein blinder Fleck der Sozialwissenschaften Von Ingo Braun*

06.01.1995

Die Versoehnung von Oekonomie und Oekologie ist eine der vielen Aufgaben, die die weltweit gespannten Computernetze, wie beispielsweise das Internet, unterstuetzen koennten. Durchgehend positiv akzentuiert ist auch die Wertung der Moeglichkeiten von dezentralen Produktions- und Organisationsstrukturen. Aber haben die Netze einen Umweltbonus und oekologischen Persilschein wirklich verdient?

Der sozialwissenschaftliche Technikdiskurs in den spaeten 80er Jahren - vor allem die Diskussionen um die "Risikogesellschaft" /1/ und die "Gesellschaft als Labor" /2/ - wurde von der oekologischen Kritik an der Atomenergie, dem Strassenverkehr und der chemischen Industrie inspiriert. Er baute auf der festen Ueberzeugung auf, dass es mit dem naiven Fortschrittsglauben zumindest in den Industrielaendern ein fuer allemal vorbei sei und er flexiblen, reflexiven oder gar autopoetischen, in jedem Fall aber eher nuechternen Formen des Umgangs mit Technik und Wissenschaften Platz mache. Kaum ein Jahrzehnt spaeter entlarvt die computergenerierte "Virtualitaet" den Glauben an das Ende des Fortschrittsglaubens als nicht von dieser Realitaet.

Das Internet und die Datenautobahnen haben Anfang der 90er Jahre in den USA eine kollektive Technikeuphorie und einen High- Tech- Enthusiasmus entfacht, der alle Vorlaeufer in der Technikgeschichte weit in den Schatten stellt, die sozialwissenschaftliche Technikdebatte der 80er Jahre naiv, den von ihr kritisierten Technikglauben der 70er hingegen regelrecht kritisch erscheinen laesst. Seine vermeintlich koerperlosen, von allen materiellen Beschraenkungen befreiten Kommunikationsmoeglichkeiten und seine globale Erstreckung (ein Widerspruch, an dem sich niemand so recht zu stoeren scheint) haben das Internet zum Oeko-Hoffnungstraeger Nummer eins werden lassen.

Viele Umweltschuetzer sehen im Internet nicht nur ein geeignetes Mittel, um den Widerstand gegen die Pluenderung unseres Planeten weltweit organisieren und so endlich die gleichen logistischen Waffen einsetzen zu koennen, die die international operierenden Konzerne eben fuer diese Pluenderung nutzen koennen. Mit dem Netz wuerden auch zentrale gesellschaftspolitische Leitideen der Oekologiebewegung (Versoehnung von Oekonomie und Oekologie, dezentrale Produktions- und Organisationsstrukturen) erstmals eine realistische Chance erhalten.

Schnell wachsende Internet-Forschung

Diese optimistische Sicht wird von vielen meiner amerikanischen Kollegen geteilt, die an sozialwissenschaftlichen Projekten aus der ebenso schnell wie das Netz wachsenden Internet-Forschung arbeiten. /3/ Haben also die Computernetzwerke einen Umweltbonus und oekologischen Persilschein wirklich verdient? Wenn dies nicht der Fall sein sollte, warum warnen die Sozialwissenschaften nicht wie in den 80er Jahren vor einem ungerechtfertigten, vielleicht sogar gefaehrlichen Technikoptimismus?

Ich moechte zunaechst einige Hinweise und Argumente dafuer liefern, dass die Virtualitaet der Computernetze viel schneller zu einer viel haerteren Realitaet werden duerfte, als es ihre Protagonisten in der Telekommunikations- und Medienindustrie, den Informatikfachbereichen und Kunsthochschulen sich je haben traeumen lassen.

Das Internet wird der Oeffentlichkeit unter anderem mit dem Argument verkauft, dass es durch Substitution konventioneller Briefe, Kataloge und Zeitungen den Papierverbrauch verringere und durch elektronische Einkaufsmoeglichkeiten, Online-Kundenbetreuung und Konferenzsysteme das Verkehrsaufkommen reduziere.

Aber haben wir solche Versprechungen nicht schon einmal gehoert? Hat nicht bereits Gutenberg das von ihm entwickelte Multimedium als Durchbruch zum papierlosen Buero verkauft? Muss man erst in einer Online-Datenbank unter den Stichworten Papier & Computer nachschauen, um daran erinnert zu werden, dass die Computerinvasion der Buerowelt in den 80er Jahren statt der prognostizierten Senkung eine enorme Steigerung des Papierverbrauchs, einen der groessten Energieverbraucher in der Buerowelt (Computer bei der Arbeit) und einen riesigen Berg Sondermuell (nach zwei Jahren ausrangierte Computer) nach sich gezogen hat?

Wenn die Computer auch in dieser Beziehung eine Art Vorstufe der Computernetze darstellen, sollte man beim logarithmisch wachsenden Internet auf einen explosionsartigen Anstieg des Ressourcenverbrauchs und des internationalen Verkehrsaufkommens gefasst sein. Und man sollte sich heute schon auf die Suche nach dem globalen Aequivalent des mit Schwermetallen und chlorierten Kohlenwasserstoffen verseuchten Untergrunds vom Siliziumtal machen.

Man nimmt keinen Laptop mit ins Bett

Den Text, den Sie gerade lesen, wuerden Sie wahrscheinlich nicht mehr lesen, waere er auf einem Bildschirm angezeigt. Meiner Erfahrung nach druckt man Texte, die laenger als drei Seiten sind, einfach aus - auch wenn man sich einen vorzueglichen Bildschirm leisten kann. Artikel, die einen wirklich interessieren, moechte man in der Hand haben - um ein Essay genuesslich lesen zu koennen, nimmt man keinen Laptop mit ins Bett. Es waere daher ehrlicher von auch-elektronischen Magazinen beziehungsweise Post zu reden, statt von den Reinheit suggerierenden "E-zines" und "E-mails", wie es so schoen im weltweiten Netzjargon heisst.

Es ist daher auch zu erwarten, dass wir mit dem elektronischen Publikationswesen zusaetzlich zu den vielleicht ein Dutzend Grossdruckereien in Deutschland einige Millionen chemischer Minifabriken, sprich Laserdrucker, in jedem Haushalt mit Internet- Anschluss bekommen werden.

Mit dem Ausbau des Netzes werden die Computer, die wir zu Hause, auf der Arbeit und unterwegs benutzen, mehr und mehr in Netzwerkserver verwandelt, die auf Faxe, E-mail und Online- Aktivitaeten warten. Sie laufen daher ohne Unterlass. In vielen amerikanischen Haushalten ist der Durchbruch schon gelungen: Mit Blick auf die Aufmerksamkeit, das Geld und die Zeit, die man ihnen widmet, haben Computerbildschirme die TV-Bildschirme abgehaengt. Sie aehneln immer mehr der stromfressenden Kuehltechnik (Eis- und Gefrierschraenke), dem Archetyp haeuslicher Standby-Terminals.

In den letzten ein oder zwei Jahren haben zwar einige grosse Computerfirmen ernsthafte Anstrengungen unternommen, Oeko- PCs, energiesparende Bildschirme und wiederverwertbare Druckerpatronen zu entwickeln. Aber diese Bemuehungen scheinen das gleiche Schicksal zu erleiden wie etwa die Massnahmen zur Senkung des Benzinverbrauchs waehrend der letzten zwei Jahrzehnte, die regelmaessig durch das Wachstum des Verkehrsaufkommens ueberkompensiert wurden. Ein Blick zurueck in die Naturgeschichte der modernen Technik laesst es sogar ratsam erscheinen, die Kausalitaet generell umzudrehen: Die Reduktion des Ressourcenaufwands pro Einheit ist offenbar das soziale Schmiermittel fuer langfristige Steigerungen des globalen Ressourcenverbrauchs.

Wir sollten uns daher recht frueh an eine Idee gewoehnen, die so gar nicht in das glorifizierte Bild der Informationsgesellschaft passt: Wenn es zutreffen sollte, dass wir wirklich in einer Informationsgesellschaft leben, warum sind dann bislang noch keine Informations- und Kommunikations-Vermeidungsprogramme wie seinerzeit im Atomzeitalter die Energiesparprogramme auf den Weg gebracht? Damit sind keineswegs die Mail-Filter, Daten-Broker oder Anit-Werbe-Robots im Internet gemeint - eine Information, die man nicht nutzt, ist eben keine Information, kann also auch nicht eingespart werden. Es ist vielmehr das (moralische) Grundrecht auf Borniertheit gemeint, das heisst, uninformiert bleiben zu duerfen und nicht mit Gott und der Welt kommunizieren zu muessen.

Internet wird als Stand-alone-Netz behandelt

Das Stichwort leitet im Grunde schon zu staerker strukturellen und weitaus schwergewichtigeren Argumenten fuer eine groessere Skepsis gegenueber vorschnell erteilten Oekofreibriefen fuer das Internet ueber. In der Geschichte der Computervernetzung, so wie sie die Medien erzaehlen, spielen andere Technikarten und andere Infrastrukturen kaum eine Rolle - auch das Internet wird wie in den 80er Jahren die Computer, aus denen es besteht, als Stand- alone-Netz behandelt.

Ein genauerer Blick auf die Infrastrukturlandschaft zeigt jedoch, dass der Betrieb aller klassischen Versorgungsnetze mehr oder weniger stark aufeinander angewiesen ist - die Eisenbahn braucht Strom, der Flugverkehr das Telefon, das Strassennetz die Kanalisation. Praktisch alle grossen Infrastruktursysteme sind enge, mehr oder weniger inzestuoes erzeugte Verwandte, das heisst, die jeweils neuen Infrastruktursysteme bauen auf den alten ebenso auf, wie die alten wichtige Modernisierungsvoraussetzungen von den neuen erhalten /4/. Da ist auch das Internet keine Ausnahme.

Die privaten Haushalte werden schon bald viele Konsumgueter per Mausklick kaufen und bezahlen koennen - dies eine der zentralen Visionen der Datenautobahnidee. Aber wie, um Himmels willen, bekommt man die Konsumgueter in die Haushalte? Gibt es vielleicht schon Winbeam fuer Winsocks? Die Entwicklung in Japan und den USA laesst vermuten, dass wir eine Universalisierung des Just-in-time- Prinzips bekommen werden: heisse Pizza justintime, kaltes Bier justintime und, nicht zu vergessen, recycelbares Druckerpapier und Farbpatronen millionenfach justintime. Die meisten dieser Gueter werden natuerlich per Auto- oder Kleintransporter ausgeliefert. Insofern liefert die Datenautobahn auch einen huebschen Test zur Generationen-uebergreifenden Kooperation in der Familie des amerikanischen Vizepraesidenten /5/. Warum sollten die so eindrucksvoll im Mobilfon-Boom /6/ zur Geltung kommende Maxime des "Rund um die Uhr und rund um die Welt" sowie dessen Steigerung im "Immer dazwischen und ueberall sofort" nicht auch fuer das Internet gelten?

Denken Sie schliesslich an einen TV-Bericht ueber eine wunderschoene Insel mit weissen Straenden, freundlichen Leuten und tollem Wetter irgendwo in der Suedsee - macht dieser Bericht die Reise zu der Insel ueberfluessig oder weckt er ueberhaupt erst das Beduerfnis nach ihr? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die globale Kommunikation nicht durch globale Mobilisation begleitet wird. Meiner Erfahrung nach moechte man die Leute, mit denen man im Netz viel zu tun hat, auch irgendwann einmal persoenlich treffen.

Alle einschlaegigen Studien zeigen, dass elektronische Netzwerke in der Tat den operativen Horizont einer Organisation betraechtlich ausweiten koennen, allerdings nur soweit es Standardkommunikation (inklusive Schwaetzen) anbetrifft. Wenn es aber um viel Geld geht oder wichtige Entscheidungen getroffen werden sollen, fuehrt nach wie vor kein Weg an der Praesenz der menschlichen Koerper und der Face-to-face-Kommunikation vorbei.

Spannend, was man ohne Netze nicht machen kann

Es ist der Unterschied zwischen Schein und Sein, zwischen der Faehigkeit, bereits vorhandene Beduerfnisse zu befriedigen, und der Potenz neue zu schaffen, oder, ein wenig drastischer, der Unterschied zwischen net und wet sex, der die negativen Umweltfolgen des Internet nach sich ziehen wird.

Warum hat sich die sozialwissenschaftliche Technikforschung bislang nicht den Umweltfolgen weltweiter Computernetze angenommen und damit ihre durchaus umweltbetonten Debatten in den 80er Jahr weitergefuehrt? Warum bleibt bei der Sozialforschung, die unter dem Stichwort "Medienoekologie" laeuft, das Oekologische metaphorisch?

Ein wichtiger Grund fuer die Naturblindheit der Sozialwissenschaften ist der Substitutionsgedanke. Ich habe es bis heute nicht verstanden, warum die Sozialwissenschaften immer schon die Substitutionseffekte von Technik so betont und dramatisiert haben. Fuer mich war immer der spannendste Teil einer neuen Technik das, was man ohne sie nicht machen kann, anstatt das, was auch ohne sie gemacht und moeglicherweise durch sie ersetzt werden kann. Schliesslich bin ich nach wie vor fest davon ueberzeugt, dass Technik nicht aufhoert, Natur zu sein, egal ob sie sich in Funktion befindet oder einfach nur vor sich hinrostet. Die Idee der Substitution von Natur durch Technik, in unserem Fall der Face-to- face-Kommunikation durch Kabel und Computer, macht daher wenig Sinn.

Zu einer anderen Wurzel der Naturvergessenheit fuehrt die privilegierte Stellung, die die Telekommunikation (als Nachfolger des in den 80er Jahren gehaetschelten Computers) unter allen Infrastruktursystemen in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung geniesst. Geforscht wird viel ueber Fernseh-, Radio- und Telefonsysteme, auch wenn ihre oekologischen Seiten dabei keine Rolle spielen. Zum Internet sind ebenfalls grosse Projekte auf den Weg gebracht. Aber je offensichtlicher die Infrastrukturen etwas mit unserer Erde und unseren Koerpern zu tun haben, desto weniger Aufmerksamkeit wird ihnen zuteil. Fuer Zentralheizungen, Wasserversorgung und Kanalisationssysteme interessieren sich Sozialwissenschaftler kaum - keines dieser Systeme hat theorieanleitende Bedeutung. Wenn sie dennoch untersucht werden, stehen oekologische Fragen ganz oben auf der Prioritaetenliste.

Tele-Fixierung und Naturblindheit profitieren

Diese recht klar geschnittenen Forschungspraeferenzen lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass die Operationen, die zum Beispiel ueber das Telefonnetz abgewickelt werden, irgendwie wertvoller, mehr sozial oder unverzichtbarer fuer moderne Gesellschaften sind als die Operationen, die etwa ueber die Kanalisationssysteme abgewickelt werden - obwohl es viel schwieriger ist, menschliche Exkremente mit Hilfe des Telefons zu entsorgen als umgekehrt, was Dietmar Schoenher und Vivi Bach in ihrer Show "Wuensch dir was" mit dem Toiletten-TED in den 70er Jahren so eindrucksvoll vorgefuehrt haben.

Tele-Fixierung und Naturblindheit profitieren unmittelbar vom Wegbereiter der postmodernen Sozialforschung, dem sogenannten linguistic turn - eine Wende, die die Semantik des "sozialen Handelns" auf Kommunikationsakte einengte und dadurch koerpernahes, naturbezogenes oder sonstwie kommunikationsunschickliches Tun (Arbeiten, Lieben etc.) ausschloss. Eine aehnliche Verengung wird durch den Neo-Mentalismus befoerdert, der im Rahmen der eingangs angesprochenen Debatte um die Risikogesellschaft eine ueberraschende Renaissance erlebte. Der Neo-Mentalismus hat in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung dazu gefuehrt, wissenschaftliches Wissen auf Kosten der Erfahrung, komplexe auf Kosten einfacher Technologien und Information statt Materie als wichtigste Rohstoffe technischer Systeme zu betrachten.

Linguistic turn und Neo-Mentalismus liegen im uebrigen auf der Linie eines uebergreifenden, schon recht lange anhaltenden Trends in den Sozialwissenschaften. Seit Max Weber sind viele theorieaufwendige Versuche unternommen worden, die reine Sozialitaet, sozusagen Sozial-Atome, zu isolieren. Opfer dieses Zwangs, das Schmutzig-Konkrete aus den Basiskonzepten der Sozialwissenschaften herauszufiltern, sind unter anderem Konzepte wie Arbeit, Subjekt und Erfahrung geworden. Meist kam dabei nur ein bleicher Funktionalismus heraus.

Literatur: Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Wege in eine andere Moderne. Frankfurt/M.Braun, Ingo (1995): Gefluegelte Saurier. Zur intersystemischen Vernetzung grosser technischer Netze. In: Ingo Braun, Bernward Joerges (Hrsg.) (1995) Technik ohne Grenzen Berlin (Edition Suhrkamp).Braun, Ingo (1994): Der Schopf des Muenchhausen. Eine sozialwissenschaftliche Annaeherung an das Internet. FS II 94-505, Wissenschaftszentrum Berlin fuer Sozialforschung, Berlin.Carsten Fock, Barbara Mettler-Meibom (1993): Mobilfunk-Boom - Welche Traeume werden wahr? In: Wechselwirkung Nr. 64, S. 4-7.Wolfgang Krohn, Johannes Weyer Johannes (1989): Gesellschaft als Labor. Die Erzeugung sozialer Risiken durch experimentelle Forschung. In: Soziale Welt 40, S. 349-373./1/ Beck, 1986/2/ Krohn/Weyer, 1989/3/ Einen ersten Eindruck zur laufenden Internetforschung bietet Braun 1994./4/ Siehe Braun, 1995./5/ Senator Gore, der Vater des US- Vizepraesidenten Al Gore, war massgeblicher Initiator des Highway- Ausbaus und damit mitverantwortlich fuer die automobile Zerschlagung der amerikanischen Staedte nach dem zweiten Weltkrieg./6/ Siehe Fock/Mettler-Meibom, 1993.

* Dieser Artikel wurde dem Kongressband "FS II 94-103: Kommunikationsnetze der Zukunft - Leitbilder und Praxis" des Wissenschaftsministeriums fuer Sozialforschung, Berlin, entnommen; Dr. Ingo Braun ist Mitarbeiter der Kulturbox, Berlin.